 |  | Susan Leibovitz Steinman, Garten für alle, 2008 | |
Der Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg gehört nicht gerade zu den Vorzeigequartieren der Hansestadt. Obwohl nur 1,2 Kilometer Luftlinie vom Hamburger Rathausmarkt entfernt, erinnert das südlich der Elbe gelegene Quartier viel eher ans Ruhrgebiet als an das feine Eppendorf. Die meisten Hamburger waren noch nie dort. Spätestens ab 2013 soll das anders werden. Der Senat hat die Internationale Bauausstellung IBA nach Wilhelmsburg geholt. Umstrukturierungen, neue Bauvorhaben und nachhaltige Stadtentwicklung lauten die Stichworte. Aus dem industriell geprägten Stadtteil mit niedrigen Mieten, hohem Migrantenanteil und vernachlässigten Wasserflächen will man ein Vorzeigequartier mit hohem Wohn- und Freizeitwert machen.
Im Vorfeld des nicht unumstrittenen Architekturspektakels finden bereits jetzt in dem Stadtteil umfangreiche kulturelle Aktivitäten statt. Dazu gehört auch das Kunstprojekt „Kultur|Natur“. Unter der Fragestellung „Wie sieht die Stadt im Klimawandel aus?“ wurden lokale und internationale Künstler eingeladen, an der Schnittstelle von Urbanität und Ökologie künstlerische Projekte im Stadtraum zu verwirklichen. Zudem präsentiert der Ausstellungsraum „Tonne“ unter dem Titel „Archiv der Künste“ weitere Arbeiten zum Thema Kunst und Natur. Unter anderem wird auch an Joseph Beuys’ „Gesamtkunstwerk Freie und Hansestadt Hamburg“ von 1984 erinnert. Sein Vorhaben, die bei der Hafenerweiterung entstandenen und mit Schwermetallen stark belasteten Spülfelder zu renaturieren, scheiterte damals am Veto des Ersten Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi.
Viele Künstler der aktuellen Schau recherchierten vor Ort in Wilhelmsburg, setzten sich mit lokalen Gegebenheiten, Vorschriften und Missständen auseinander und nahmen Kontakt zur Bevölkerung auf. Die New Yorker Künstlergruppe Critical Art Ensemble untersuchte die Wasserqualität der allgegenwärtigen Kanäle. Dafür entwickelten sie ein einfaches Testkit, das sie an Angler und Bürger aushändigten. Die Untersuchung in einem US-Labor ergab wenig Beruhigendes: Heavy Metal im Wasser. Die argentinische Künstlergruppe Ala Plástica erforschte das Umfeld an Deichen und Stacheldrahtzäunen, die den Stadtteil brutal zerschneiden. Sie stellten eine riesige Leiter mit einem kleinen Schreibpult an der Freihafengrenze auf und luden Anwohner ein, ihre Wünsche niederzuschreiben.
Gartenfreuden für jedermann bietet die US-Künstlerin Susan Leibovitz Steinman, die sich in der Tradition der Sozialen Plastik von Joseph Beuys verortet. Vor dem S-Bahnhof Wilhelmsburg hat sie Behälter mit Pflanzen aufgestellt. Erdbeeren, Kräuter, Salat und Blumen zum Anschauen, sich Wundern und vielleicht auch zum Mitnehmen. Guerilla-Gardening als Kunstaktion. Seit 2006 gibt es in Wilhelmsburg auch einen interkulturellen Garten, der von einer Gruppe multinationaler Frauen liebevoll betreut wird. Das Vorzeigeprojekt wurde in die Ausstellung als Beispiel positiver, unkonventioneller Nutzung eines urbanen Freiraumes integriert.
In einer Gegend, wo breite Schneisen Richtung Stadtautobahn führen und die mächtige Hafenverwaltung Anspruch auf immer mehr Gebiet erhebt, hat die Hamburgerin Nana Petzet Untersuchungen in einem der letzten Naturbiotope angestellt. Zusammen mit Biologen bestimmte sie Arten, fotografierte Kleinstlebewesen und sammelte Filmmaterial über die Rückeroberung eines brachliegenden Lebensraums. Gigantischer Japanischer Knöterich verdrängt das heimische Schilfrohr, dafür hat sich eine seltene Heuschreckenart angesiedelt. In einem Bootshaus gleich um die Ecke präsentiert Petzet die Ergebnisse ihrer Feldforschung.
Mit Misstrauen bis hin zur offenen Anfeindung wird der Einzug der Kunst in Wilhelmsburg allerdings von vielen Bewohnern und Stadtteilinitiativen beäugt. Sie betrachten den vom Hamburger Senat propagierten „Sprung über die Elbe“ als Bedrohung ihrer Existenzgrundlagen. Womöglich haben sie Recht. Hamburg-Wilhelmsburg wäre nicht der erste Stadtteil, in dem Gentrifizierung Schritt für Schritt praktiziert wird. Es beginnt mit einer Art kultureller Überformung, die eine andere Klientel ins Viertel locken soll. Wenn sich dann die ersten Szenerestaurants, schicken Läden und Wellness-Clubs angesiedelt haben, ist der Verdrängungsprozess bereits in vollem Gange. Die Mieten in Wilhelmsburg steigen jetzt schon.
Vielleicht lohnt ein Blick zu den Namensvettern jenseits des Atlantiks. Im New Yorker Stadtteil Williamsburg, direkt gegenüber von Manhattan in Brooklyn gelegen, haben auch einst die Künstler den Nährboden für die Entwicklung eines der heute beliebtesten und teuersten Viertel bereitet. Mittlerweile reiht sich ein überteuertes Apartment-Building ans andere, Boutiquen, Erlebnisgastronomie und Designläden verdrängen die kleinen Geschäfte. Für die ursprünglichen Bewohner ist das Viertel längst zu teuer geworden.
Das Projekt „Kultur|Natur. IBA Elbinsel Sommer 2008“ läuft noch bis zum 14. September in Hamburg-Wilhelmsburg. Jeden Sonntag finden „Ausflüge des Denkens“ statt. Näheres auf der Website oder unter Telefon 040 – 63 67 57 50. Ein Flyer zu den Projekten ist an den Ausstellungsorten erhältlich.
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