Was sieht diese Frau? Warum dreht sie sich um? Wendet sie sich vom Betrachter und Fotografen weg oder ist es eine inszenierte Pose? Ist sie traurig oder fröhlich? All diese Fragen wirft Gerhard Richter mit seiner Fotografie von „Betty“ auf. Wir sehen nur ihre dynamisch gedrehten Schultern, etwas von ihrer Wange, ihren schönen Hals und ihr zusammengestecktes Haar. Vielleicht blickt Betty auch gleichsam etwas wehmütig auf das Schicksal der Neuberger Berman Collection zurück. 2003 verleibten sich die Lehman Brothers die amerikanische Investmentgesellschaft ein, übernahmen damit auch die rund 600 Werke umfassende Firmensammlung und gliederten die zeitgenössische Kunst in ihre eigenen Klassiker der amerikanischen Nachkriegskunst ein. Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der Lehman-Pleite, deren Schockwelle heute noch zu spüren sind, werden die Arbeiten nun wieder zu Geld gemacht, um die Lehman-Gläubiger wohl nur ansatzweise zu befriedigen. Sotheby’s ist dazu auserkoren, in einem ersten Schritt knapp 150 Werke amerikanischer und europäischer Gegenwartskunst mit einigen fernöstlichen Einsprengseln unter die Leute zu bringen. Rund 10 Millionen Dollar sollen es werden. Auf „Betty“, Richters fotografische Lithografie von 1991, entfallen dabei 100.000 bis 150.000 Dollar.
Der größte Teil der Arbeiten der New Yorker Auktion am 25. September stammt aus der Neuberger Berman Collection. Auch die „Shakespeare Actress“ von John Currin hing ursprünglich in den Räumen der Investmentfirma. Es gehörte zur Geschäftsphilosophie des Firmengründers Roy Neuberger, zeitgenössische Kunst zu einem integralen Bestandteil des Arbeitsplatzes zu machen. Vielleicht schaute die Frau in dem braunroten Kleid, die ihren rechten Arm in die Hüfte stützt und ihren Kopf interessiert oder fragend zur Seite neigt, einst einem Abteilungsleiter bei der Arbeit über die Schulter (Taxe 500.000 bis 700.000 USD). Roy Neubergers Affinität zur Kunst kam nicht von ungefähr. Bevor der heute 107 Jahre alte Finanzier und Mäzen 1939 seine Firma aufbaute, studierte er fünf Jahre lang in Paris Kunst. Zeugnis darüber legen zum Beispiel auch Yoshitomo Naras „The Little Pilgrims (Night Walking)“ aus Fiberglas mit farbigen Baumwollkutten von 1991 (Taxe 150.000 bis 200.000 USD) oder das „Metal Jacket“ von Do-Ho Suh ab. Für die hochpreisige Skulptur schweißte eine amerikanische Fabrik drei tausend Hundemarken zu einem martialischen Kettenhemd aneinander (300.000 bis 400.000 USD).
Das Spitzenstück der Sammlung, die die Werke oft in deren Entstehungsjahr oder kurz danach und teils aus den Ateliers der Künstler erwarb, steuert Damien Hirst bei. Seine Kabinettschrank „We’ve got style“ entstand 1993, fand schon 1994 Eingang bei Neuberger Berman und ist ein blaues Küchenregal, in dem verschieden farbige und geformte Haushaltsgefäße aufgereiht sind. Da stehen der weißgrau gestreifte Milchkrug neben einer rotschwarzen Flasche und die eckige Vorlegeplatte neben der bauchigen Blumenvase. Nach Regelmäßigkeiten und Muster sucht der Betrachter bei dieser auf 800.000 bis 1,2 Millionen Dollar geschätzten Arbeit vergeblich. Neben sinnenfälliger Kunst, wie etwa die animierende Lichtinstallation „Between them“ von Jim Hodges aus dem Jahr 2002 (Taxe 100.000 bis 150.000 USD), ließ man sich in New York auch von ruhigen, minimalistischen Positionen begeistern: Helmut Dorner untersucht in seiner zweiteiligen Lackmalerei „Bros“ von 1992 die Nichtfarbe Grau (Taxe 10.000 bis 15.000 USD), ebenso Mary Corse 2001 in ihren Vertikalstreifen „Untitled (White Inner Band)“ (Taxe 7.000 bis 10.000 USD), Robert Mangold schreibt 1986 in „Study for Irregular No. 5 (Orche)“ ein Oval in eine Trapezform ein, und Sol LeWitt spielt 1971 mit einem Liniengeflecht in den Grundfarben Blau, Gelb und Rot in seinem mehrteiligen „Wall Drawing No. 91“ (Taxe 150.000 bis 200.000 USD).
Der amerikanische Künstler Mark Grotjahn verwirrt den Blick des Betrachters auf seinem Bild „Untitled (Three-tiered perspective)“ von 2000. In jedem der drei horizontalen Abschnitte des Ölgemäldes laufen fächerförmig angeordnete bunte Streifen auf einen Punkt zu. Der Mittelpunkt dieser Strahlenkränze verschiebt sich allerdings, erst befindet er sich rechts, dann links und im obersten Abschnitt des Bildes wieder weiter rechts. Die Farben der Strahlen werden von unten nach oben immer kräftiger, und gleich drei Mal kann das Gefühl aufkommen, auf einer Autobahn einer pastos aufgetragenen dicken Horizontlinie entgegen zu rasen (Taxe 600.000 bis 800.000 USD). Anders geht Paul Pfeiffer die Sache an. Der Medienkritiker lässt auch in „Long Count III (Thrilla in Manila)“ die Protagonisten eines Boxkampfes weg und vermittelt das Geschehen nur über die Reaktion der Zuschauer. In dem Bildmaterial, auf das er zurückgreift, geht es immerhin um den Weltmeistertitel zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier von 1975 (Taxe 100.000 bis 150.000 USD). Rackstraw Downes liegt das Hintergründige nicht so sehr. Der 1939 geborene Maler ist Fotorealist und hielt 1978/80 die New Yorker Kreuzung „110th and Broadway“ fest (Taxe 25.000 bis 35.000 USD).
Nur vier Exemplare gibt es von Olafur Eliassons „Wasserfallserie“ aus dem Jahr 1996. Der Däne lichtete dafür fünfzig Wasserfälle ab und stellte sie zu einem rechteckigen Netz von Fotos in Blau, Grün, Ocker und Rot zusammen. Eine dieser Wasserfalltypologien soll jetzt für 60.000 bis 80.000 Dollar einen neuen Besitzer finden. Auch Andreas Gursky verarbeitet das Thema Wasserfall. Er hat sich die Niagarafälle auserkoren, auf die ein Boot mit Menschen zufährt. Fast meint man, sie würden von der nebeligen und vom Wasserdunst bestimmten Szene verschluckt (Taxe 80.000 bis 120.000 USD). Fotografische Positionen listet der Katalog etwa noch mit Jean-Marc Bustamantes unheimlicher Interieurschilderung „Lumière“ von 1991, Massimo Vitalis typisch anämischer Strandszene „Cagliari“ von 1995 (Taxen je 25.000 bis 35.000 USD), Thomas Struths asiatischer Menschenballung „Shibuya Crossing, Tokyo“ von 1991 (Taxe 20.000 bis 30.000 USD), Cindy Shermans 1983 achtzehnmal aufgelegte Selbstinszenierung „Untitled #127“ (Taxe 30.000 bis 40.000 USD), Rodney Grahams auf den Kopf gestelltes Baumbild „Welsh Oaks (No. 6)“ von 1998 (Taxe 70.000 bis 90.000 USD) oder John Baldessaris „Stares (with Lamps)“ von 1986. Nur geht der Amerikaner über das rein Abbildende hinaus, baut Merkmale der Konzeptkunst ein, spart ähnlich wie Pfeiffer die Menschen aus und lässt die mehrfach übereinander gestapelten Bilderreihen von zwei Stehlampen rahmen. 350.000 bis 450.000 Dollar werden dafür fällig.
Für renommierte Namen der deutschen Kunstszene hatte man in New York ebenfalls ein offenes Ohr. Neben Gerhard Richters „Betty“ fanden noch drei seiner Abstraktionen Eingang in die Firmenräume: zwei dunkle, eher kleinformatige Farbverwischungen in ausgeprägter Vertikal- und Horizontalgliederung von 1992 (Taxen 200.000 bis 300.000 USD und 300.000 bis 400.000 USD) und das „Misty Self Portrait“ von 1990. Auf der Fotografie, über die sich ein zarter Fluss an Ölfarbe hinzieht, ist gemäß Titel kein Richter zu erkennen (Taxe 25.000 bis 35.000 USD). Künstlerfreund Sigmar Polke tritt mit einer unbetitelten, von Blau dominierten Gouache auf, in der sich 1983 Landschaft, arbeitende Menschen und seltsame Gegenstände vermischen (Taxe 100.000 bis 150.000 USD). Neo Rauch scheint ihm 1999 mit der Ölmalerei auf Papier „Einbruch“ samt geheimnisvoller Figurengruppe zu folgen (Taxe 400.000 bis 600.000 USD). Marcel Broodthaers stellt mit „Porte Capital A“ ein Schild aus seinem imaginären Museum von 1969 zur Verfügung (Taxe 30.000 bis 40.000 USD), Dirk Skreber einen etwas gleichförmigen und dennoch putzigen Hochhausturm von 1994 (Taxe 40.000 bis 60.000 USD), Oliver Boberg seine zweiteilige Fotoarbeit eines konstruierten „Himmel II“ (Taxe 4.000 bis 6.000 USD) und Matthias Meyer dann wieder abstrakte Farbschlieren, die 2007 eine Erinnerung an einen „Waterfall 4“ sein könnten (Taxe 6.000 bis 8.000 USD).
Auch wenn sich mit Liu Yes trostloser verschneiter Winterlandschaft „The Long Way Home“ samt Menschenpuppen von 2005 (Taxe 500.000 bis 700.000 USD), Takashi Murakamis schriller Comicadaption „Chaos“ von 1999 (Taxe 150.000 bis 200.000 USD) oder Fang Lijuns in einem gelben Schwefelmeer untergehender Mann „Untitled (Swimmer No. 1)“ von 1997 (Taxe 200.000 bis 300.000 USD) hochpreisige Werke asiatischer Provenienz in der Sammlung befanden, lag ihr Schwerpunkt doch auf der amerikanischen Gegenwartskunst. Als Altmeister tritt Richard Artschwager zweimal in Erscheinung. Seinem „Mirror (Green)“, einer skulpturalen Annäherung an das Möbel von 1988 (Taxe 35.000 bis 45.000 USD), steht eine ausgefranste, aber fotorealistische „Landscape II“ von 1970 gegenüber (Taxe 120.000 bis 180.000 USD). Schrift und Wort sind dann die dominierenden Elemente in einer titellosen Arbeit von Richard Prince (Taxe 300.000 bis 400.000 USD) und Glenn Ligons „Invisible Man (Two Views)“ von 1991 (Taxe 100.000 bis 150.000 USD).
Julie Mehretus komplexes Acryl- und Tuschegemälde „Untitled 1“ kam 2001 wiederum direkt aus dem Atelier in die Firmenräume. Wie gewohnt entwickelt die 1970 in Äthiopien geborene Amerikanerin eine dem Urknall ähnliche, fantastische Form- und Farbenvision, die sich aber auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten bezieht (Taxe 600.000 bis 800.000 USD). Mit der fünfteiligen Serie grauer Himmelsbilder samt einigen kleinen Vögeln darauf wird Félix González-Torres fast minimalistisch. Doch findet er in den Fotografien von 1994 eine Metapher für das Reisen (Taxe 350.000 bis 450.000 USD). Kara Walker folgt ihm mit der Scherenschnittarbeit „Clouds and Crow“ von 1998 (Taxe 40.000 bis 60.000 USD). Dekorativ, aber auch hintersinnig geht es bei Fred Tomasellis „Study for God’s Eye“ zu. Auf den schwarzen Untergrund hat er 1992 in Rautenform viele kleine Aspirinpillen geklebt (Taxe 80.000 bis 120.000 USD).
Zum gleichen Preis lässt Robert Longo 2003 eine Rose in schönstem Rot erblühen, während sich Jeremy Dickinson in „Bus Compound“ (Taxe 6.000 bis 8.000 USD), Kevin Appel in „Untitled Interior No. 5“ (Taxe 15.000 bis 20.000 USD), Lisa Ruyter in „Treasure Island“ (Taxe 8.000 bis 12.000 USD) und Dennis Hollingsworth in „Li’l Emerson“ mal ironisch, mal surreal, aber immer bunt dem Alltäglichen widmen (Taxe 6.000 bis 8.000 USD). Sogar für 3.000 bis 5.000 Dollar kann man Anteil am Schicksal der Lehman Brothers nehmen. Dafür stehen beispielsweise Uta Barths abstrakte Fotoarbeit „Ground No. 49“ von 1995, die nur bei genauerem Hinschauen weißgraue Farbabstufungen aufweist, und Christian Boltanskis Multiple „L’Ecole de la Große Hamburger Straße, en 1938“ bereit, bei dem ein Foto einer Schulklasse und eine leere Schachtel mit einem großen Loch gegenübergestellt sind.
Die Auktion beginnt am 25. September um 10 Uhr in New York. Die Objekte können dort bis zum 24. September von 10 bis 17:30 Uhr besichtigt werden. Der Katalog ist unter www.sothebys.com abrufbar. |