Einfach, solide, naturnah. Unter diesen Vorzeichen steht das Leben in der Provinz. Ohne füllige Schnörkel breitet sich auch das beschauliche Kleve in der Ebene des Niederrheins aus. Das adrette Städtchen zu Füßen der Schwanenburg kurz vor der Grenze zu den Niederlanden prägt ein praktisch-reeller Geist, auch wenn zeitweise fürstlicher Glanz um sich griff. Für die Geschichte der modernen Kunst von großer Bedeutung ist vor allem das Wirken von Joseph Beuys, der im alten Badetrakt des einstigen Kurhauses von 1957 bis 1964 ein Atelier unterhielt. Neu erschlossen wird es ab kommendem Frühjahr als Teil des Museums Kurhaus Kleve öffentlich zugänglich sein. Die Aura des Materials, zum geistigen Verweilen einladende Kunstwerke, Ortsbezogenheit, knappe Rigorosität, dies prägt die Gegend, Beuys’ Werkschaffen sowie Skulpturen von Carl Andre. Das Museum Kurhaus Kleve ist denn auch ein trefflicher Ort für eine Präsentation des neben Sol LeWitt, Donald Judd und Dan Flavin gleichermaßen berühmten Pioniers amerikanischer Minimal Art.
Nach 15 Jahren ist Andre nun wieder mit einer Einzelschau in Deutschland zugegen. Zusammen mit dem Bozener Museion, wohin die Ausstellung anschließend wandert, wurde eine spannende Werkauswahl von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart getroffen. Schon direkt vor der Tür im schmucken barocken Kurpark nimmt den Besucher eine der seltenen Außenarbeiten Andres in Empfang. Im großen Bogen schmiegen sich über 40 Meter Länge scharfkantige Dolomitblöcke einer „Wirbelsäule“ entlang des sanft gekrümmten Wegbogens. Erstmals 1984 in Gasbetonsteinen in Basel realisiert, wiederholte nun der Künstler das Konstrukt mit der markanten Mittelschiene aus hochgestellten Platten. Energisch wie schwungvoll überführt es von der Weite der Landschaft ins ausgesprochen differenziert, teils kleinteilig gegliederte Innere des alten Klever Kurhotels.
Die Chance, alle 22 Arbeiten so zu arrangieren, dass sie mit dem Raum eine fühlbare Symbiose eingehen, wurde vom kommissarischen Direktor Roland Mönig bravourös gemeistert. Carl Andre avanciert in Kleve wahrhaft zum Raumbesetzer. Sämtliche Räume werden so inhärente Bestandteile der Plastiken und umgekehrt, dass man sie kaum wegdenken möchte. Herausragend nimmt sich dieses Wechselspiel in der langen ehemaligen Wandelhalle aus, deren Erstreckung von einer gleichmäßigen Reihe Dutzender „Thrones“ akzentuiert wird. Gleichzeitig antworten die Module aus einem liegenden und einem stehenden, jeweils genormten Naturholzbalken auf die strenge Folge hoher Rundbogentüren zur Parkterrasse. Alle Besucher hier waren früher Kurgäste, sollten sich aber wie ein König fühlen. Ein konvenablerer Standort ist kaum denkbar.
In der hangseitigen Seitenlichtkolonnade kommt die Ausstellung auf die künstlerischen Anfänge des 1935 in Ouincy in Massachusetts geborenen und heute in New York lebenden Künstlers zurück. Ende der 1950er Jahre startet der Schöpfungsreigen mit kleinformatigen „Exercises“, also Übungen. Eine Hinwendung zum Grundsätzlichen erfolgt mit der Erkenntnis, Materialien als Schnitte in den Raum zu setzen. Damit richtete Andre sich gegen bildhauerische Konventionen, in Werkstoffe Räume zu schneiden, zu formen oder einzelne Teile fest zu verbinden. Zugleich akzeptierte er vorgegebene Normen des Handwerks und der Stofflichkeiten. Ins Jahr 1959 datiert die Erstausführung der „Convex Pyramid“, ein aufrecht stehendes Gebilde aus kreuzweise übereinander gestapelten Kanthölzern ohne feste Verbindung, etwa Verleimung. 1960 folgen Entwürfe für die „Element Series“. Das Einfache, Elementare, bekleidet Titel der Arbeiten und ihr Pogramm zugleich.
Archaische Plastiken deklinieren Grundlagen der Tektonik durch. Wie nach dem Baukastenprinzip sind simple, standardisierte Holzbalken ohne Verzapfungen verquickt. Die Arbeiten „Stile“ und „Post, Lintel and Threshold“ sind exemplarisch aus dieser Serie zu sehen. Während „Stile“ vier kreuzweise übereinander gestapelte Balken urzeitliche Wucht wie spielerischen Charakter offenbart, führt die andere mit großer Strenge das Prinzip von Tragen, Lasten und Stützen vor. Mit „Henge on Threshold“ von 1971 bildet eine verwandte, aber wesentlich monumentalere Wirkung entfaltende Plastik den Abschluss der Reihe. Unweigerlich stellen sich Assoziationen zu den rätselhaften Zeugnissen der Megalith-Kultur ein.
Im Mittelsaal dann antwortet auf das kleinsprossig unterteilte Oberlicht das ebenso strukturierte „Roaring Forties“. Vier mal elf Stahlplatten auf dem Boden genau darunter entfalten ein starkes Kraftfeld, das vom dunklen Holztunnel des „Sheath“ im Hintergrund aufgesogen zu werden scheint. In erster Linie begehbaren, vorwiegend metallischen Bodenarbeiten, den Plattenfeldern, verdankt Carl Andre nicht nur seine Bekanntheit, sondern sie vermitteln auch wesentliche Ideen seines Schaffens. Spuren des Gebrauchs, der Umwelteinflüsse machen sie besonders zu Speichern der Geschichte, was der Künstler ausdrücklich akzeptiert.
Zudem negieren die aneinander gelegten Teile etwas Ganzes, Kompaktes, wenden sich beifolgend gegen hierarchische Ordnungen. Andres Egalität gewährt keinem Element kompositorischen Vorrang. Selbst das Ordnende der Geometrie erfährt zuweilen Befreiung, etwa beim Werk „Wolke und Kristall“ von 1996, indem der Künstler ein zweites, aus frei gestreuten Würfeln besetztes geometrisches Feld beiseite stellt und so besondere Spannung erzeugt. Materialvielfalt ist ein weiterer Aspekt in seinem Schaffen. Neben Hölzern bringt Andre Werkstoffe der Industrie wie Stahl, Kupfer, Aluminium, Magnesium, aber auch Kalksandstein, Gasbeton oder Grafit zum Einsatz.
Raumbezogene Bodenarbeiten dominieren die Säle im ersten Obergeschoss. Wie ein Reißverschluss dehnen sich liegende Holzbalken beim „Cedar Tango“ aus. Platziert zwischen zwei Türen und zur hellen Fensterfront sich öffnend, wird dem Besucher die Entscheidung abverlangt, auf welche Seite er sich schlägt. Wie meisterhaft Andre es vermag, Leerräume zu aktivieren, offenbart sich beim „Inner Piece“. Geradezu genial eingespannt zwischen Fenstertür zum Balkon und Eingang, markiert die Masse von zehn Einheiten aus einem liegenden und zwei hoch gestellten Gasbetonblöcken so ausnehmend den Inhalt des letzten, in originalen Maßen erhaltenen ehemaligen Hotelzimmers, dass der Besucher sich gar nicht hineintraut. Hier läuft die hinsichtlich der Markierung und Definition von Orten erbrachte kuratorische Leistung zur Höchstform auf.
Ein abschließender großer Saal hält noch eine Rückbesinnung auf Carl Andres Anfänge, den von Constantin Brancusis Œuvre inspirierten „Pyramids“ bereit. „Glärnisch“, „Star“ und „Urn“ sind drei Stelen aus simpel pyramidal aufeinander gestapelten Kanthölzern, allerdings ohne Verdopplung der Konstruktion. Nicht unbeachtet bleiben sollten auch die Zeichnungen Andres, bei denen es sich eher um Buchstabenbilder handelt. Gedichte fügen sich in ein Gittergerüst und sind entsprechend anstrengend zu lesen. Mit einfacher Schreibmaschine in Schwarz getippt, verdichten sich die Buchstaben und Zeilen zu geschlossenen Formen.
Die Ausstellung „Carl Andre“ ist noch bis zum 28. August zu sehen. Das Museum Kurhaus Kleve hat täglich außer montags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der an der Museumskasse 22,50 Euro kostet. |