„Für mich ist die Linie die Essenz. Das Zeichnen die Grundlage meiner Sprache. Ich zeichne mit einem Bleistift und ich zeichne mit Scheren, mit einem Füller, mit allem Möglichen. Meine späten Collagen sind eine Art indirekten Zeichnens“, sagt die Künstlerin Geta Bratescu, die in ihrer Heimat Rumänien ungleich berühmter ist als hierzulande. Das zu ändern, ist das erklärte Ziel einer großen Retrospektive, die jetzt in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist. Brigitte Kölle, die Kuratorin der Schau, präsentiert Bratescu als Vierte innerhalb einer 2012 begonnenen, lockeren Reihe zu weiblichen Künstlerin, die erst sehr spät den Durchbruch schafften oder aber sich gegen teilweise erhebliche Widerstände eines männlich dominierten Kunstbetriebs durchsetzen mussten. In den Jahren zuvor waren bereits Louise Bourgeois, Eva Hesse und Gego alias Gertrud Goldschmidt zu sehen.
Nun also Geta Bratescu. Die 1926 in einer rund 60 Kilometer von Bukarest entfernten Kleinstadt geborene Zeichnerin, Fotografin, Filmerin, Buchillustratorin, Objektkünstlerin, Performerin und Autorin hat auf ihren großen Durchbruch im Westen ziemlich lange warten müssen. Doch dann ging alles ganz schnell: 2012 zeigte Okwui Enwezor sie auf der Triennale in Paris, 2013 lud Massimiliano Gioni sie auf die Biennale in Venedig ein. Mittlerweile befinden sich ihre Werke in den Sammlungen des New Yorker Museum of Modern Art, der Londoner Tate Modern oder des Pariser Centre Pompidou.
Was Ausstellungsmacher und Betrachter ihrer Arbeiten gleichermaßen fasziniert, ist die enorme Sensibilität, ja fast schon Demut, die Geta Bratescu ihren zumeist „armen“ Materialien entgegenbringt. Papier, Papiermaché, Stofffetzen, Baumwollfäden, benutzte Teebeutel, aus einem Fluss geborgene Steine, Holz, ein alter Spiegel. Mehr braucht Bratescu nicht, um mittels Schichtungen, Faltungen, Verknotungen, Stauchungen, Reihungen, Einfärbungen und anderen ebenso simplen wie effektvollen Methoden ihr Material zum Sprechen zu bringen.
Ihre Themen sind dabei äußerst vielfältig. In den Medien Film und Fotografie steht häufig der eigene, teils fragmentierte Körper im Zentrum, oft auch im Kontext des Ateliers als Ort künstlerischer Produktion. Ihre Textilobjekte und Tapisserien wiederum sind häufig von Werken der Weltliteratur inspiriert. Neben Kafka, Goethe, Beckett oder Brecht dominieren hier auch antike Vorlagen, insbesondere die ambivalente Frauenfigur Medea aus der griechischen Mythologie. Abstraktes und Gegenständliches, selbst aufgestellte, strenge Spielregeln und spontane Gesten treffen in Bratescus Werk permanent aufeinander. Natur kommuniziert mit Technik, Transparentes und Obskures begegnen sich und lösen sich ineinander auf. Es ist eine Kunst der dialektischen Gegensätze, aber auch der Verschmelzungen. Mittels gegenläufiger Strategien überführt Bratescu ihr Material in immer wieder neue Form- und Sinnzusammenhänge, die unterfüttert sind von Elementen der eigenen Biografie, den Stoffen und Mythen der Weltliteratur, der geheimnisumwitterten Sagenwelt des Balkans und nicht zuletzt auch einer existentialistischen Weltsicht und einem feinsinnigen Humor.
Das alles ist jetzt auf einer ganzen Etage der Galerie der Gegenwart zu sehen. Und natürlich auch die eingangs erwähnten, wunderbar frisch wirkenden Collagen und Zeichnungen. Denn ganz ähnlich wie der große Henri Matisse, der sich im fortgeschrittenen Alter ebenfalls ganz auf das „Zeichnen mit der Schere“ konzentrierte, lässt auch Geta Bratescu seit einigen Jahren alle anderen künstlerischen Medien ruhen, um sich ganz auf ihre abstrakten, aus Kreisen und irregulären Farbflächen zusammengesetzten Papierarbeiten zu konzentrieren.
Die Ausstellung „Geta Bratescu – Retrospektive“ ist bis zum 7. August zu sehen. Die Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags zusätzlich bis 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 12 Euro, ermäßigt 6 Euro, am Wochenende und feiertags 14 bzw. 7 Euro. Für Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre ist er kostenlos, ebenso für alle bis zum 31. Mai. Der 192seitige Katalog aus dem Snoeck Verlag kostet 29,80 Euro. |