Das Clemens-Sels-Museum präsentiert das innovative Wirken der drei Künstler Heinrich Campendonk, Heinrich Nauen und Jan Thorn Prikker in und um Neuss
Als Neuss der Zeit voraus war
Heinrich Nauen, Die Musik, 1914
Zackige Musik unter Gottes Augen: Nicht in einer Kirche, sondern im Foyer des Clemens-Sels-Museums in Neuss führt der Weg geradewegs auf „Die Musik“ zu. Das großformatige Temperabild schuf Heinrich Nauen 1914. Fast völlig entblößt hocken ein Mann und eine Frau auf schwebender amorpher Materie und erheben einen Geigenbogen und einen Stock zum Dirigieren. Die überlängten, schnittig gefassten Körperteile verschmelzen mit zackigen, spitzwinklig zulaufenden Flächen und Linien. Ein unnatürlich, teils eisiges, teils erglühendes Kolorit unterstützt den synthetischen, stakkatohaften Duktus des Gemäldes. Daneben hängt Jan Thorn Prikkers Ölbild des heiligen Franziskus’ beim Predigen von Fischen und Vögeln. Es ist weicher im Farbton und durch fließende Formabfolgen nicht ganz so erregt. Am stärksten leuchten an der Seite die vom Auge Gottes ausgehenden blauen, roten und gelben Farbströme. Heinrich Campendonk gestaltete das nicht ohne tiefgründige Details gespickte Glasfenster für die Krypta des Bonner Münsters eher ernst und konzentriert.
Alle drei Künstler gelten als herausragende Exponenten der Moderne an Rhein und Ruhr. In diesem Jahr jährt sich Jan Thorn Prikkers 150. Geburtstag. Vor 100 Jahren wurden seine neuartigen Fenster in die Neusser Dreikönigenkirche eingebaut. Die Rolle der rheinischen Stadt im Konzert der umliegenden, der Avantgarde zugewandten Kunstzentren wie Düsseldorf, Köln oder Hagen einmal hervorzukehren, war treibender Anlass für die über 150 Werke vereinende Ausstellung im Clemens-Sels-Museum. Abgesehen von rund 40 Leihgaben handelt es sich um eigene Bestände, die bei dieser Gelegenheit neu erforscht wurden. Hierbei gingen die Kuratoren Uta Husmeier-Schirlitz, Romina Friedemann und Bettina Zeman einer Reihe von Aspekten in rund einem Dutzend Kapiteln auf den Grund. Der steinige Weg zur Anerkennung, die wechselseitigen Einflüssen der drei lebenslang durch Freundschaft verbundenen Künstler, ihr Verhältnis untereinander, das Pendeln zwischen Förderern und Widersachern oder die Veränderung der Wahrnehmung der in der Bevölkerung nicht so sehr beliebten, dafür umso mehr bei Kunstsammlern und Galeristen geschätzten Kunstschaffenden bildeten wichtige Ausgangspunkte der Untersuchungen, die teils neue Erkenntnisse aufdeckten.
Bei allen drei Künstlern sind ein Zusammenwirken von Kunst und Handwerk und die Idee des Gesamtkunstwerks zu beobachten. Somit war es ein leichtes, das Trio als Bauhaus-Vorläufer zu klassifizieren und von den wie aus einem Füllhorn sich über das Land ergießenden monetären Mitteln aufgrund des einhundertjährigen Bauhaus-Jubiläums im kommenden Jahr zu partizipieren. Für das 125.000 Euro teure Ausstellungsprojekt standen lediglich 30.000 Euro als Eigenmittel zur Verfügung.
Glasfenster, Wandbilder, Mosaike, Möbel, Stoffe, Grafiken, Gemälde und Plakate wechseln sich beim Abschreiten des Parcours ab. Mehrere Plakate und -entwürfe im ausgehenden Jugendstil von Jan Thorn Prikker für das Krefelder Kaiser Wilhelm Museum signalisieren die Förderaktivitäten des damaligen Direktors Friedrich Deneken. Er holte den Niederländer nach Krefeld, besorgte ihm einen Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule und arrangierte die Errichtung eines eigenen Atelierhauses. Auch der Hagener Mäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus förderte Thorn Prikker. Für die Hagener Stadthalle konnte er durch Osthaus’ Vermittlung ein Goldmosaik kreieren, von dem das Probestück mit der „Lautenspielerin“ die Ausstellung bereichert.
Heinrich Nauens wichtigster Förderer war Walter Kaesbach, Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie. Dies visualisieren von Vincent van Gogh beeinflusste Gemälde wie „Grabender Bauer“ oder „Tulpen“, die sich in Kaesbachs Besitz befanden. Auch Heinrich Campendonks kraftvolles Gemälde „Roter Hirte mit Tieren“ gehörte zu Kaesbachs Kollektion und kündet von dessen Unterstützung durch Ankäufe. Ein sphärisch entrückter Reflex in kubistischen Anklängen beherrscht viele Werke Campendonks, der sich 1911 vorübergehend der Künstlergruppe „Blauer Reiter“ anschloss und sich hier auch für die Glasmalerei interessierte. In den 1920er Jahren fühlte er sich zur angewandten Kunst hingezogen und fertigte Möbelstücke wie einen Schreibtisch nebst Kommodenschrank, den er für das Herrenzimmer in der Villa des Krefelder Textilfabrikanten Richard Merländer entwarf. Abstrahierte figürliche und vegetabile Elemente beleben die Bildfelder.
Von Jan Thorn Prikker versammelt die Auswahl eine in reinstem Jugendstildekor um 1898 geschnitzte Kaminbank. Darüber hinaus widmete er sich Batikarbeiten, Ornamentmustervorlagen für die industrielle Weberei oder der Gestaltung von Wandteppichen und Stoffen. Dazu gehören sein einiger, großfigürlich gestalteter Gobelin „Die Drei Eisheiligen“ oder die um 1920 entstandenen Hagener Kattundrucke auf Baumwollstoff.
Immer wieder nimmt die Auswahl das Geschehen in Neuss in den Blick. So befasst sich ein Kapitel mit der fulminanten Kunstsammlung der 1915 von dem Rechtsanwalt Johannes Geller gegründeten „Gesellschaft zur Förderung Deutscher Kunst des 20. Jahrhunderts e.V.“, die bis zur Auflösung im Jahr 1922 über 250 hervorragende Arbeiten junger innovativer Künstler erwerben konnte. Ein weiteres Kapitel gilt dem von Peter Behrens geplanten katholischen Gesellenhaus in Neuss. Die Kapelle stattete Thorn Prikker als religiöses Gesamtkunstwerk aus. Neben dem Wandbild „Die Opferung des Isaak“, einem Rund- sowie drei großen Ornamentfenstern entstand in Etappen bis 1913 ein Meisterstück im religiösen Kontext, das heute wieder in einem dem Originalzustand vergleichbaren Eindruck zu erleben ist.
Die lange und verworrene Realisierungsgeschichte der Fenster Thorn Prikkers für die Neusser Dreikönigenkirche thematisiert ein eigener Abschnitt. Weltweit wurde das Gotteshaus zu einer viel beachteten einmaligen Sehenswürdigkeit, die den frühen expressionistischen Stil und die späte geometrisch-konstruktive Formensprache des Künstlers vor Augen führt. Nicht ausgelassen wird in der Ausstellung die Epoche, in der sich Thorn Prikker zu Anfang der 1890er Jahre dem belgischen Symbolismus annäherte. Die „Madonna im Tulpenland“ sowie „Die Braut“ sind zwei maßgebliche Werke aus dieser Zeit, die aus dem Kröller-Müller Museum in Otterlo ausgeliehen werden konnten.
Besonders in der Glasmalerei zeigt sich der Übergang zu einer abstrakten, geometrischen Formensprache. Während in Sakralräumen Figuren- und Symbolfenster weiterhin dominierten, wandelte sich im profanen Kontext der Ausdruck hin zu einer radikalen Reduktion. Jan Thorn Prikkers Glasfenster für die Essener Börse oder ein noch erhaltenes Probestück für drei Fenster, die Heinrich Campendonk für die Aula der Düsseldorfer Kunstakademie entwarf, demonstrieren den Weg in eine von der Farbe bestimmte strenge Abstraktion. Nachdem nach 1933 Nauen und Campendonk ihre Professuren verloren – Thorn Prikker starb schon 1932 – und geächtet wurden, erlebte als einziger Heinrich Campendonk – Nauen starb 1940 – nach langem Ringen in der niederländischen Emigration Anerkennung. Als er hier mit Preisen und Auszeichnungen geehrt wurde, war zeitgleich auf der ersten Documenta 1955 in Kassel sein Gemälde „Pierrot mit Sonnenblumen“ um 1925 zu sehen, das maßgeblich die Malerei der 1950er Jahre beeinflusste.
Die Ausstellung „Ihrer Zeit voraus! Heinrich Campendonk, Heinrich Nauen, Johan Thorn Prikker“ ist bis zum 10. März 2019 zu besichtigen. Das Clemens-Sels-Museum hat täglich außer montags von 11 bis 17 Uhr, sonn- und feiertags bis 18 Uhr, am letzten Donnerstag im Monat zusätzlich bis 20 Uhr geöffnet. Geschlossen bliebt an Heiligabend, 1. Weihnachtstag und Silvester. Der Eintritt beträgt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro. An jedem 1. Sonntag im Monat ist er frei. Der Ausstellungskatalog kostet im Museum 29,90 Euro.