Ungeachtet des immer größeren finanziellen Drucks, abgesagter Messen und fehlender Besucher gibt es sogar Zuwachs in der österreichischen Galerieszene. Victoria Dejaco und Michael Wonnerth-Magnusson eröffneten den jüngsten Neuzugang mit einer Schau des Künstlers Georg Petermichl im vergangenen September. Nachdem die beiden Kunsthistoriker jahrelang für Galerien, Kunstvereine und Sammlungen tätig waren oder selbst kuratierten, gingen sie den Weg in die Selbstständigkeit und mieteten Räumlichkeiten im Innenhof eines barocken Gebäudes in der Ballgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk. Nomadische Plattformen und heimische Project-Spaces sind die produktiven Brutstätten, an denen sich die beiden Neu-Galeristen orientieren. Junge, noch unbekannte Künstler haben hier ihre ersten Auftritte.
Einer Newcomerin gilt nach Georg Petermichl auch die zweite Ausstellung bei Wonnerth Dejaco. Aktuell zeigt die 1983 geborene Künstlerin Katharina Höglinger Malerei, die bis auf ein Gemälde von 2019 in diesem Jahr entstanden ist. Höglinger versteht ihre neuen Werke als Antworten auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen ebenso wie als Ausdruck persönlicher Empfindungen dieses herausfordernden Jahres, das die Künstlerin als „einschränkend“ und „lähmend“ beschrieb. Darauf bezieht sich auch der Ausstellungstitel „Zunge verlieren (tongue)“.
Vier australische Künstlerinnen und Künstler umfasst die aktuelle Schau „Terra Australis“ in der Galerie Hilger, die Nadine Barta und der australische Sammler und Philanthrop Simon Mordant verantwortet haben. Sie präsentieren überarbeitete Drucke und Pastellzeichnungen von Danie Mellor, große Objekte von Janet Laurence, Skulpturen aus Natur- und Recyclingmaterialen von Linde Ivimey und Fotografien von Tamara Dean. In ihren Werken erforscht die 1976 geborene Künstlerin die Beziehung von Mensch und Natur und die Bedeutung von Ritualen im täglichen Leben. Für ihre eindrucksvollen fotografischen Konstellationen wurde sie 2019 mit dem renommierten Moran Contemporary Photographic Prize ausgezeichnet.
Eine Entdeckung sind die Arbeiten von Simone Fattal, die derzeit in der Galerie von Hubert Winter zu sehen sind. Ihre nomadische Biografie und die damit verbundenen historischen und kulturellen Kontexte bilden den Ausgangspunkt für ihr künstlerisches Œuvre: In ihren Collagen, Gemälden, Zeichnungen, Aquarellen und figürlichen Keramikskulpturen verwebt die 1942 geborene Künstlerin, die im Libanon aufwuchs, in Paris und Beirut Philosophie studierte und während des libanesischen Bürgerkriegs nach Kalifornien emigrierte, Spuren einer antiken oder archaischen Welt mit der Gegenwart. Die Figuren, architektonischen Strukturen und Collagen, die dabei entstehen, erweitert Fattal durch ihre Titel um vielschichtige Bedeutungsebenen. Rätselhafte Verklammerungen von zeitlich nicht immer bestimmbaren Motiven sind die Collagen, für die Fattal gesammeltes Bildmaterial aus Magazinen, Zeitungen, Postkarten, alte Fotografien und aktuelle Bildelemente verwendet. Die verschiedenartigen historischen und kulturellen Hintergründe finden in ihrer Arbeiten eine gemeinsame formale Grundlage und verlangen eine sensible Lesart.
Die Praxis, verschiedene Quellen sowohl ästhetisch als auch inhaltlich zu nutzen und zu kombinieren, um Assoziationsräume zu kreieren, ist auch ein Kennzeichnen der Kunst von Mai-Thu Perret. Ihre aktuelle Schau zeigt die Schweizer Künstlerin in der Wiener Dependance der Galerie Elisabeth & Klaus Thoman. „Pièces Enfantines“, also „Kinderstücke“, vereinen neue Skulpturen und Wandobjekte aus glasierter Keramik, eine Suite abstrakter Gouachen und ein im Raum schwebendes textiles Objekt. Seit den späten 1990er Jahren entwickelt sich Perrets Schaffen um das Projekt „The Crystal Frontier“, eine fiktive Erzählung über eine Gruppe feministischer Aktivistinnen, die in der Wüste im Südwesten New Mexicos eine autonome Kommune bilden, um dem Kapitalismus und den patriarchalischen Konventionen zu entkommen. Die Erzählung dient als Hintergrund für Perrets künstlerisches Tun, dessen Bezugsnetz von der Literatur, den handwerklich orientierten Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts, den Avantgarden des 20. Jahrhunderts bis hin zum Spirituellen und Poetischen reicht.
Mit dem Ausstellungstitel „Pièces Enfantines“ wird eine weitere Dimension der Arbeiten Mai-Thu Perrets angedeutet, die des Kindlichen und Spielerischen. „Leviathan II“, ein raumgreifender ausgestopfter Stoffwal von 2013, der von Herman Melvilles Klassiker „Moby Dick“ inspiriert ist, weckt Assoziationen an Kinderspielzeug. Auch der freie, scheinbar spielerische Umgang mit dem Material in dem Keramikrelief „In the end you cannot change the fact that ginger is hot“ von 2020 kann mit kindlicher Formung von Ton in Verbindung gebracht werden. Mit dem Fokus auf Werke von meist weiblichen und hierzulande erst wenig bekannten künstlerischen Positionen, die Themen wie Geschichte, Erinnerung, Mythologien und Natur behandeln, sind die Schwerpunkte des Wiener Galerieherbstes klar gesetzt.
Zunge verlieren (losing tongue). Katharina Höglinger
bis 19. Dezember 2020
Galerie Wonnerth Dejaco
wonnerthdejaco.com
Terra Australis – a survey of contemporary art
bis 20. November 2020
Galerie Ernst Hilger
www.hilger.at
Simone Fattal
bis 19. Dezember 2020
Galerie Hubert Winter
www.galeriewinter.at
Mai-Thu Perret. Pièces Enfantines
bis 21. November 2020
Galerie Elisabeth & Klaus Thoman
www.galeriethoman.com |