 |  | Janet Cardiff und George Bures Miller, Escape Room, 2021 | |
Vom hellen Foyer führt der Weg sogleich in das Halbdunkel einer endzeitlichen Situation. Unversehens findet sich der Besucher in einem verlassen wirkenden Atelier wieder. Im schwachen flimmernden Blau breitet sich auf Arbeitstischen eine überbordende Miniaturwelt aus. Hochhausmodelle, Miniaturfabriken oder -ruinen werden ergänzt von Schriften, Lampen mit diffusem Licht, Arbeitsmaterialien, Behältnissen und sonstigen Utensilien. Die von innen beleuchteten Gebäude wirken wie Dioramen, die Einblicke in Wohnungen und Büros erlauben. Doch das Interieur ist leer und verlassen, so als ob ein erzwungener Exodus zur raschen Aufgabe genötigt hätte. Alles ist von einer matten, mehligen Schicht überzogen. Ausgelöst von Bewegungen der zwischen den Tischen Laufenden verändern Lichter die Szenerie, oder es ertönen fragmentarische Erzählungen, knarrende Geräusche oder Soundmusik. Die Scheinwelt der geisterhaften Atmosphäre, die spannungsgeladene, geheimnisvolle, konspirative Stimmung und die nicht definierbare Bedrohung lösen sich spätestens, wenn man sich nach einiger Zeit der konstruierten Situation aus Einbildung und Wahrheit bewusst wird.
Der „Escape Room, der Fluchtraum, aus dem Jahr 2021 ist das neueste Werk des kanadischen Künstlerpaares Janet Cardiff und George Bures Miller und wird nun in Duisburg erstmals in Europa präsentiert. Wohl kaum ein Werk könnte passgenauer die Entwicklungen der Zeit signalisieren: Durch Pandemien ausgelöste Isolation und von Kriegen verursachte Flucht ins Traumatische. Die opulente Installation bündelt zugleich charakteristische Eigenschaften und zentrale Themen des Künstlerpaares: Die Freude an Miniaturwelten, der Hang zum Theatralen, die Vorliebe für Erzählungen mit der Neigung zum Pittoresken und zur Einsamkeit, aber auch zu verborgenen und Rätsel aufgebenden Erinnerungen. Anklänge an Veduten, die Landschafts- und Stadtbilder des 17. und 18. Jahrhunderts, oder die im 19. Jahrhundert beliebten Schaukästen mit plastischen Gebäude- oder Naturschilderungen verweisen auf die Kunstgeschichte. Die Reisen in eine andere, wunderkammerartige Welt mit nostalgischen Affinitäten verbinden Cardiff und Miller mit Geräuschen, Stimmen, Klängen, Musik zu installativen Skulpturen mit filmischem Bühnencharakter. Das Publikum betrachten sie dabei als Teilnehmer, die ihre aufwendigen Arrangements vollenden.
Die Schau im Duisburger Wilhelm Lehmbruch Museum resultiert aus der Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises an beide Künstler im September 2020. Coronabedingt konnte das Duo damals lediglich virtuell aus Kanada zugeschaltet werden. Die damit verbundene Ausstellung samt Feier und Eintrag ins Goldene Buch der Stadt wurde nun Ende März nachgeholt und eröffnet. Janet Cardiff, geboren 1957 im kanadischen Brussels, studierte an der Queen’s University in Kingston, Ontario, und an der University of Alberta in Edmonton, wo sie ihr Studium 1983 mit dem Master of Visual Arts abschloss. Hier lernte sie den 1960 in Vegreville in Alberta geborenen George Bures Miller kennen. Seit den 1990er Jahren arbeiten sie zusammen und haben inzwischen ein Œuvre von über 30 raumgreifenden Installationen, 28 Walks und diversen kleineren Arbeiten vorgelegt. Gemeinsam mit dem Ehepaar wählte die Duisburger Direktorin und Kuratorin Söke Dinkla fünf große Rauminstallationen sowie vier kleinere Arbeiten aus, die multisensorische Qualitäten des Plastischen in den Fokus rücken.
Zu den Highlights des Parcours zählt das für den Kanadischen Pavillon der Biennale von Venedig im Jahr 2001 geschaffene und mit dem Goldenen Löwen geehrte Werk „The Paradiese Institute“. Der perspektivisch verkürzt rekonstruierte Innenraum eines Lichtspielhauses aus den 1940er Jahren lädt zu einer 13minütigen Vorstellung ein. Die filmische Erzählung verläuft stakkatoartig und nicht linear, ist eine Mischung aus Thriller und Unfall. Simultan zur laufenden Vorführung werden neben Filmtönen über Kopfhörer Reden externer Personen sowie Geräusche von Sitznachbarn eingespielt, die nicht zum Filmgeschehen gehören. Stimmen, Flüstern oder Husten stammen von einem fiktiven Publikum. Was ist nun wahr und falsch, gedacht oder real? Beim Unterscheiden gerät man rasch ins Wanken.
Nach dem kinematisch-traumatischen Drama bietet sich im hellen großen Ausstellungssaal nebenan eine plastische Ausformung mit Lauten. Auf Stelzen stehen im Oval 40 Lautsprecher, aus denen der Gesang von acht Chören zu je fünf Stimmen strömt. Zwischen „The Forty Part Motet“, einer Adaption der vierzigstimmigen Renaissance-Motette „Spem in alium“ von Thomas Tallis, wandelnd, erlebt man einen wirkmächtigen Klangkörper von sakraler, spiritueller Anmutung mit einem Gefühl räumlich-körperlicher Präsenz physisch abwesender Aufführender. Abschließender Coup ist die 2007 entstandene „Killing Machine“, ein hochaktueller Kommentar zum Umgang mit Krieg und Gewalt. In einem Metallgestänge steht ein plüschiger Zahnarztstuhl. Begleitet von kryptischen Ansagen, surrenden Geräuschen und roten, blauen und violetten Lichtspots bewegen sich zackig Roboterarme um einen fiktiven Patienten, den sie blitzschnell mit ausfahrenden Nadeln attackieren. Die vom Besucher per Knopfdruck auszulösende, bestürzende Inszenierung kreierten Cardiff und Miller unter dem Eindruck von Bildern aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib sowie durch Inspiration von Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“.
Janet Cardiff und George Bures Miller blicken mithilfe fantastischer kleiner Gruselwelten hinter die Fassaden des schönen Scheins. Ihre Werke sind rätselhafte Erfahrungsräume. Sie zwingen zum Nachdenken über das, was letztendlich Wahrheit und Fiktion ist. Dabei verbinden sie den geistigen Radius von Vorstellungen und Ideen mit der materiellen Welt der Gegenstände. Ihr einzigartiges Schaffen signalisiert aber auch, dass es in der Bildhauerei seit Wilhelm Lehmbruck keine Grenzen mehr gibt. Virtuell inszeniert, stellen sie die Dreidimensionalität auf den Prüfstand. Es wird spannend bleiben, ihrer weiteren Entwicklung entgegenzusehen.
Die Ausstellung „Janet Cardiff & George Bures Miller. Wilhelm-Lehmbruck-Preisträger 2020“ ist bis zum 14. August zu besichtigen. Das Wilhelm Lehmbruck Museum hat täglich außer montags von 12 bis 17 Uhr, samstags und sonntags ab 11 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 9 Euro, ermäßigt 5 Euro. Der Ausstellungskatalog aus dem Wienand Verlag kostet im Museum 24,90 Euro. |