Trauer um Gianfranco Baruchello  |  | Gianfranco Baruchello ist mit 98 Jahren in Rom gestorben | |
Gianfranco Baruchello ist tot. Wie seine Brüsseler Galerie Greta Meert mitteilte, ist der Italiener in der Nacht zum 14. Januar in Rom mit 98 Jahren verstorben. Baruchello sei ein außergewöhnlicher Künstler und Denker gewesen und nicht nur als ein brillanter Zeichner, sondern auch als Philosoph, Dichter, Filmemacher und Agronom hervorgetreten. Sein scharfer und forschender Verstand, gepaart mit einem großen Sinn für Humor, hätten ihn zu einem Leben voller Kreativität und Experimente geführt. Mit seinem komplexen, selbstreflexiven Werk, das oft die traditionellen Vorstellungen von Kunst aushebelt und Anleihen bei der Massenkommunikation macht, setzte sich Baruchello unter anderem mit der Moderne auseinander. Sein Freund Marcel Duchamp bezeichnete ihn als seinen einzig wahren Erben.
1924 in der Küstenstadt Livorno geboren, schlug Gianfranco Baruchello zunächst eine Karriere fernab der Kunst ein. Sein Vater, ein strammer Anhänger von Mussolini, legte einen steilen Aufstieg innerhalb der faschistischen Organisation der Industriearbeiter hin. 1934 bezog die Familie in Rom ein Haus gegenüber von Mussolinis Residenz. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte Baruchello Rechtswissenschaften und arbeitete zunächst bei verschiedenen Chemieunternehmen in Italien, bevor er sich Ende der 1950er Jahre der Kunst verschrieb. Durch die Verbindung von Alltagsgegenständen und Surrealismus auf weitgehend leeren Leinwänden war er Teil des aufkommenden „Nouveau Réalisme“. 1962 war Baruchello auf Drängen von Ileana Sonnabend einer der wenigen Europäer, die in der bahnbrechenden „New Realists“-Schau des New Yorker Galeristen Sidney Janis vertreten waren.
Im New York dieser Zeit fand Baruchello zu den Ausdrucksformen, die für sein Œuvre von entscheidender Bedeutung werden sollten: miniaturisierte, dezentrierte „Universen“ aus kulturell aufgeladenen Symbolen, Buchstaben und Zeichnungen auf weißen Oberflächen; der Künstler verglich diese textlastigen Arbeiten mit dem Prozess des Denkens und der Träume sowie den fragmentierten Erzählungen der Geschichte. Marcel Duchamp, den Baruchello 1963 kennengelernt hatte, erklärte später, dass diese Arbeiten die Beteiligung des Publikums erfordern, und schlug vor, sie „aus der Nähe und im Verlauf einer Stunde“ zu betrachten.
Nie wollte sich Gianfranco Baruchello auf einen Stil oder einen künstlerischen Ausdruck festlegen. 1964 entstand sein vielleicht bekanntestes Werk, der Film „Verifica incerta“, für den Baruchello und Alberto Grifi riesige Mengen weggeworfener Rollen von alten Hollywood-Filmen unsystematisch zu einem neuen Film zusammen schnitten. Für seine Aktion „Happenings at a Distance“ von 1966 umging Baruchello das Galeriesystem, indem er die Kunstwerke direkt von seinem Atelier zu den Käufern nach Hause schickte. 1968 gründete er Artiflex, ein fiktives Unternehmen, dessen subversives Motto lautete: „Alles zur Ware machen“. Im Mai desselben Jahres reiste Baruchello nach Paris, um mit Félix Guattari, Alain Jouffroy und Jean-Jacques Lebel an den Studentenrevolten teilzunehmen. Bis ins hohe Alter führte Baruchello sein Schaffen fort, auch nachdem Retrospektiven in Rom, London, Frankreich und Deutschland den einstigen Avantgardisten zu einem Mainstream-Künstler gemacht hatten. Wie aktuell seine Positionen dabei stets blieben, zeigen seine Teilnahme an der Documenta von 2012 und der Biennale von Venedig im Jahr 2013. |