 |  | Jan Vermeer, Ansicht von Delft, 1660/61 | |
Im zarten Licht der frühen Morgensonne erwacht das niederländische Delft. Über den dreieckigen Hafen hinweg schweift der Blick vom hohen Standpunkt auf die Dachlandschaft hinter der von zwei Toren und einem Kanal unterbrochenen Stadtmauer. Wolkenberge durchziehen den Himmel und verschatten Teile der Stadt. In der Sonne hingegen erstrahlen der Turm der Nieuwe Kerk und das helle Satteldach des Arsenals als subtiler Ehrerweis an Religion und Macht. Sattfarbene Hell-Dunkel-Kontraste vermögen die Ruhe nicht zu stören, die Zeit scheint still zu stehen. Lediglich im Vordergrund am Schleppkahn wartende Personen deuten Betriebsamkeit an.
Dieses großformatige, idealisierte und verzerrte Panorama von Delft, eine von mindestens drei gemalten und zwei erhaltenen Ortsansichten, schuf Jan Vermeer um 1660 vermutlich mithilfe einer Camera obscura. Geradezu symptomatisch zeigt es zu Beginn seiner großen Retrospektive im Amsterdamer Rijksmuseum die Charakteristika des Malers auf. Meisterhaft verstand Vermeer den Gebrauch der Perspektive, inszenierte findig den Lichteinfall in gesättigtem Kolorit und illustratierte überwiegend alltägliche stille Interieurs mit rätselhaft agierenden Personen.
Noch nie gab es eine Ausstellung, die 28 von insgesamt 37 Vermeer sicher zugeschriebenen Werken vereint hat. Die erste und letzte große Retrospektive in Washington D.C. und dem Mauritshuis in Den Haag im Jahr 1996 zeigte 21 Arbeiten. So gestaltet sich der von den Kuratoren Pieter Roelofs und Gregor J.M. Weber organisierte Parcours im Rijksmuseum zu einer Kette erlesener Glanzstücke des neben Rembrandt und Frans Hals prominentesten Malers des Goldenen Zeitalters der niederländischen Malerei. Mehr denn je scheinen Vermeers Bilder zu faszinieren. Die Sehnsucht nach friedlichen, geordneten Verhältnissen in einer ungestümen Zeit, aber auch die mediale Erhöhung zum „Kunstereignis des Jahres“ mögen dazu beigetragen haben, dass bereits drei Tage nach Eröffnung alle 450.000 Tickets des Vorverkaufs vergriffen waren. Daher hat das Rijksmuseum die Öffnungszeiten der Schau schon erweitert.
Über das Leben des 1632 in Delft getauften und 1675 im Alter von 43 Jahren ebendort beerdigten Sohnes eines Seidenwirkers, Kunsthändlers und Gastwirtes ist fast nichts bekannt. Als der Protestant 1653 Catharina Bolnes ehelichte, musste Jan Vermeer den katholischen Glauben seiner Ehefrau annehmen. Im selben Jahr wurde er Mitglied der Malergilde Sankt Lukas. Von den 15 gezeugten Nachkommen verstarben vier im Kleinkindalter. Vermeer, der Delft vermutlich nie verließ, malte nicht nur, sondern verdingte sich auch als Kunsthändler, Gutachter und war zeitweiliger Vorsteher der Lukasgilde.
Großzügig platziert in zehn Sälen und thematisch wie chronologisch in elf Abschnitte geordnet, akzentuieren die Kuratoren Vermeers malerische Entwicklung. Frühe Werke mit religiösen, mythologischen oder historischen Sujets in kühnem, wirkmächtigem Duktus großer Farbflächen und Hell-Dunkel-Kontrasten erinnern an italienische Vorlagen. Schritt für Schritt entwickelte er seine Fertigkeiten, wobei die Jahre um 1656 als Wendepunkt gelten. Die zu diesem Zeitpunkt entstandene „Kupplerin“ leitete zu einer neuen Phase über, in der Vermeer den Fokus auf Interieurs, Lichteinfall und Perspektive richtete. Vermutlich inspirierte ihn sein Delfter Kollege Pieter de Hooch zur Anwendung der Linearperspektive mit einem einzigen Fluchtpunkt, wie es die lichtvolle Darstellung des Milchmädchens um 1658/59 zeigt. Mit kleinen Farbtupfern begann Jan Vermeer hier strahlende Reflektionen zu erzeugen. Briefe, Landkarten oder offene Fenster bringen die Außenwelt in räumlich abgekapselte Situationen. Um 1664 bis 1667 malte er eine Reihe von Frauen, die den Blick aus nächster Nähe auf den Betrachter werfen. Das „Mädchen mit dem Perlohrring“, eines seiner berühmtesten Bilder, das „Mädchen mit rotem Hut“ oder das „Mädchen mit Flöte“ gehören dazu. Letzteres schreiben aber die Experten des Leihgebers, der Washingtoner Nationalgalerie, im Gegensatz zu den Amsterdamer Wissenschaftlern dezidiert nicht Vermeer zu.
Nach 1665 grenzte Vermeer die hellen und dunklen Zonen in seinen Gemälden deutlicher voneinander ab, wie es bei der Bildfolge Briefe lesender oder schreibender Damen zu beobachten ist. Besonders selbstbewusst geben sich elegant gewandte Damen in einer Reihe musizierender Personen. Mit dem letzten Bild, einer Allegorie des katholischen Glaubens aus den Jahren um 1673, kehrte Jan Vermeer wieder zu seinen malerischen Anfängen zurück. Der teilweise abrupte Übergang zu neuen Malphasen ist auch fehlenden Kenntnissen verschollener Werke geschuldet. Experten schätzen das gesamte Schaffen auf bis zu 60 Gemälde. Vermeers normale Produktion wird mit durchschnittlich zwei Gemälde pro Jahr veranschlagt. Nach Feldzügen gegen die Niederländische Republik im Jahr 1672 und folgendem wirtschaftlichem Abschwung wurde nach Angaben seiner Witwe nichts mehr verkauft, die Produktion nahm drastisch ab. Vermeer starb verarmt und verschuldet.
Die Ausstellung ist auch Resultat eines mehrjährigen Forschungsprojektes. Im Rahmen umfangreicher technischer Untersuchungen gelang es, Übermalungen festzustellen, Arbeitsweisen auf die Spur zu kommen und die Gemälde besser einem Zeitfenster zuzuordnen, denn Jan Vermeer selbst hat nur fünf seiner Bilder signiert und datiert. Hierzu ist besonders die im Belser Verlag herausgegebene deutschsprachige Ausgabe des Kataloges zu empfehlen, in der all jene Aspekte in instruktiven Beiträgen einschlägiger Experten weitsichtig illustriert und formuliert sind.
Wer tiefer in den Lebensalltag des Malers eindringen will, dem sei ein Abstecher in dessen Heimatstadt Delft empfohlen. Das Museum Prinsenhof begibt sich in einer Korrespondenzausstellung auf die Spur seines Lebens. Anhand von 198 Exponaten, darunter Gemälden berühmter Zeitgenossen wie Rembrandt, Jan Havicksz Steen oder Gerard Houckgeest, kunstgewerblichen Artefakten jener Zeit, die in Vermeers Gemälden auftauchen, Karten, Druckgrafiken, Büchern und archivarischen Dokumenten beleuchtet die Schau das Tun, Umfeld und Netzwerk Vermeers sowie allgemeine Zustände im damaligen Delft.
Nicht weit vom Museum lädt die historische Altstadt zu einem Rundgang auf den Spuren des Malers ein. Am ehemaligen Standort der St. Lukas-Gilde gewährt das Vermeer-Zentrum Einblicke in das Lebenswerk des Malers, die von ihm angewandten Techniken und wartet mit Repliken aller ihm zugeschriebenen Werke auf. Nicht weit davon können sein Geburtshaus, der Standort seines Wohnhauses und die Stellen gemalter Stadtansichten angesteuert werden. In der Oude Kerk erinnern zwei Gedenktafeln im Fußboden an seine Grabstätte.
Die Ausstellung „Das Delft von Vermeer“ ist bis zum 4. Juni zu sehen. Das Museum Prinsenhof hat täglich von 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt beträgt 13,50 Euro, ermäßigt 4 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog in englischer Sprache erschienen, der im Museum 29,95 Euro kostet.
Museum Prinsenhof Delft
Sint Agathaplein 1
NL-2611 HR Delft
Telefon: +31 (0)15 – 260 23 58
Die Ausstellung „Näher zu Vermeer“ im Amsterdamer Rijksmuseum läuft ebenfalls bis zum 4. Juni und ist täglich außer montags von 9 bis 18 Uhr, donnerstags bis samstags bis 22 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 22,50 Euro. Für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren ist er kostenlos. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog in deutscher Sprache im Belser Verlag erschienen, der im Museum 35 Euro, im Buchhandel 59 Euro kostet. Ein nur in Englisch editierter Band zu den Restaurierungsvorhaben liegt für 24 Euro vor. |