 |  | in der Ausstellung „Die Errettung des Bösen. Eine Ausstellung von Michael Müller“ | |
Was macht man mit einer Sammlung, die mitten im Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde und sich um nazikonforme Kunst kümmerte? Man verbannt sie am besten in die hintersten Ecken der Depots und lässt sie nie mehr das Tageslicht erblicken. Mit diesem Erbe muss sich das Würzburger Museum im Kulturspeicher herumschlagen. Die 1941 als Sammlung „mainfränkischer Kunst“ des 19. und 20. Jahrhunderts gegründete Städtische Galerie erwarb in den frühen Jahren unter ihrem ersten Direktor, dem Künstler und Kunstlehrer Heiner Dikreiter, viele zeitgenössische Werke. Nazi-Oberbürgermeister Theo Memmel investierte beträchtliche Summen in den Aufbau der Sammlung, ließ fast 100 Arbeiten auf den „Großen Deutschen Kunstausstellungen“ im „Haus der Deutschen Kunst“ in München für sein Museum ankaufen und wollte Würzburg zu einem Mekka zeitgenössischer Kunst der NS-Zeit ausbauen.
Schon 2013 hat sich das Museum im Kulturspeicher in der Ausstellung „Tradition & Propaganda. Eine Bestandsaufnahme – Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus in der städtischen Sammlung Würzburg“ diesem „braunen Erbe“ gestellt und es unter historischen Gesichtspunkten aufgearbeitet. Und auch jetzt ist dieser Bestand Ausgangspunkt für zwei Präsentationen, die inhaltlich miteinander verbunden sind. Anders als 2013 zum zehnjährigen Bestehen der neuen Räumlichkeiten in einem alten Hafenspeicher haben Museumdirektorin Luisa Heese und ihre Stellvertreterin Henrike Holsing zum zwanzigjährigen Jubiläum einen neuen Zugang zur kontaminierten Sammlung gewählt: Sie ließen dem Künstler-Kurator Michael Müller freie Hand, sich mit der Geschichte des Hauses zu beschäftigen. Was zunächst als Intervention in den bestehenden Sammlungsräumen geplant war, wuchs sich zu einer facettenreichen, groß angelegten Schau über das Böse aus.
Michael Müller hat schon vieles gegen den Strich gebürstet und damit die Erwartungen seines Publikums unterlaufen. Für ihn steht nicht so sehr die wissenschaftliche Auseinandersetzung im Vordergrund. Er wählt vielmehr einen künstlerisch-sinnlichen Zugang und überprüft damit überkommene Sehgewohnheiten und Zuschreibungen. Auch in der Würzburger Ausstellung, einer der aufwendigsten, aufschlussreichsten und gelungensten in der zwanzigjährigen Geschichte des Kulturspeichers, stellt Müller grundlegende Fragen, etwa nach dem Vermögen der Malerei oder der Haltung der Rezipienten. Sein Misstrauen gegenüber unhinterfragten Wahrheiten und einer Mystifizierung der Kunst, die gerade gegenüber dem Bösen scheitern muss, lugt hinter der gesamten Inszenierung in den drei Räumen des Museums hervor.
Dem 1970 geborenen Deutsch-Briten geht es um eine differenzierte Betrachtung des Bösen, seiner Präsenz und Negation in Geschichte und Gesellschaft. Dafür holt er unbescholtene und „böse“ Werke der Museumssammlung hervor, umgibt sie mit „entarteter“ Kunst und zeitgenössischen Positionen und inszeniert sie in einem archivartigen Setting. In meist dunkles Anthrazit, das Müller von den Durchgängen zwischen den Ausstellungsräumen übernommen hat, sind die sonst in hellem Weiß strahlenden Wände getaucht und heben die Kunstwerke in ein Schattenreich, in das die Nazi damals viele nonkonforme Künstlerinnen und Künstler schickten. Darin hat Müller Metallregale und Podeste aufgestellt, auf denen sich Büsten und Skulpturen neutral und nach streng nachvollziehbaren Kriterien treffen und einen ideologisch gefärbten Zugang erschweren.
Gut und Böse im Zwielicht
Unter der Überschrift „An- und abwesende Schatten“ beginnt nun der teils provozierende Dialog. Dass man im Kulturspeicher auf Emy Roeders Skulpturen trifft, ist nicht ungewöhnlich; hat die gebürtige Würzburgerin ihren Nachlass doch ihrer Heimatstadt vermacht. Ihre berühmte abstrahierte „Schwangere“ mit ihren übergroßen traurigen Augen, die die Nazis 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“ brandmarkten, wird von Keramikarbeiten der 1975 geborenen Französin Elsa Sahal begleitet. Beide nehmen den weiblichen Körper in den Blick, Roeder in seiner Verinnerlichung und Schutzbedürftigkeit, Sahal in seiner Brüchigkeit. Ihre fein ausgeleuchteten Plastiken dekonstruieren und fragmentieren ihn in Einzelteile, setzen ihn teils lustvoll wieder zusammen und lassen einen neuen Organismus entstehen. Bei Sahal werden die Gliedmaßen wie Gummi gelängt und gebogen, umschlingen sich oder treten wie vorspitzende Brüste neugierig auf den Betrachter zu.
Ganz anders das Bild der Frau im Dritten Reich. Dafür hat Michael Müller aus der Museumssammlung Zeichnungen des Würzburgers Ferdinand Spiegel ausgewählt, der in seiner Kunst das Bild des heldenhaften arischen Manns und der straken deutschen Frau propagierte. In seinen Studien für ein Wandgemälde im zwischen 1934 und 1940 neu errichteten Berliner Reichsbankgebäude ist von einer Verletzlichkeit und Fragmentierung des Körpers nichts zu sehen. Seine pathosgeschwängerten und stählernen nackten Amazonen treten mit flatternden Haaren, kantiger Figur und kaltem seelenlosem Blick auf. Müller hat die Blätter weitgehend in die Dunkelheit des Raumes verbannt und lässt sie damit weniger präsent erscheinen, genauso wie Hedwig Maria Leys statische und für heutige Augen ausdrucksarme Büste des ernst blickenden Führers Adolf Hitler, dem die nazitreuere Bildhauerin in einem Radiointerview Güte, Genialität, ausgeprägtes Vatergefühl und eminente geistige Gaben bescheinigte.
Doch wie steht es um Paul Kinslers „Sitzenden Knaben“, der sich nicht so leicht in die Schubladen von „gut“ und „böse“ stecken lässt. Der schlanke nackte Körper des Jungen, der 1945 für die Städtische Galerie erworben wurde, ist anatomisch korrekt wiedergegeben und zeigt eine ebenmäßige Ausbildung. Damit orientierte sich der weitgehend unbekannte Künstler am Klassizismus und entsprach sicherlich dem nationalsozialistischen Ideal. Doch in seiner Sensibilität kommt der Heranwachsende der Zartheit und Innigkeit von Emy Roeders „Nacktem Knaben, ein Kind emporhebend“ näher als Ferdinand Spiegels martialischen Wesen. Damit macht Michael Müller die zum Teil fließenden Übergänge deutlich, mit denen sich die Kunst immer wieder einer pauschalen Kategorisierung entzieht.
Messen, vergleichen und bewerten
Auch im zweiten Ausstellungsteil „Vergleichen >, =“ führt Michael Müller den Dialog zwischen den beiden Sphären weiter und hat sich dafür die wissenschaftliche Methode des Vergleichs ausgesucht. Dabei bereichert er dieses vordergründig objektivierende Verfahren um eine ethische Dimension und bringt Kunstwerke unter dem Thema des Bösen zusammen, die kunsthistorisch sonst immer getrennt betrachtet werden. So hat Müller mehrere belanglose und anämische Landschaftsbilder aus Franken von Hermann Gradl, der seit 1939 als Direktor der Nürnberger Kunstakademie fungierte, zu den Profiteuren des NS-Regimes gehörte und dessen Nachlass noch 1964 in die Städtische Galerie kam, aus ihren prunkvollen Rahmen nehmen und sie als zusammenhängenden Fries an die Wand hängen lassen. Ihre gleichförmige Reihung unterstreicht nun die Eintönigkeit von Gradls Handschrift und Motivwelt.
Müller selbst hat sich mit Landschaftlichem beschäftigt, 2013 die Gruppe der „Berge“ aus Gips und Stuck geschaffen und sie nun Gradls Werken gegenübergestellt. Auch bei Müllers Skulpturen geht es um die Vergleichbarkeit topografischer Gebilde: Welcher ist der höchste Berg der Erde? Wo beginnt man mit der Messung der Höhe? Denn je nach Messmethode ist es entweder der Mount Everest, der Chimborazo in Ecuador oder der Mauna Kea auf Hawaii. Eine entlarvende künstlerische Konfrontation ist dann Andy Warhols poppige Adaption des Schlosses Neuschwanstein in einem bunten Siebdruck von 1987 und Hitlers malerische Ergüsse des desselben Motivs, die Müller als Reproduktion aus einem Werkverzeichnis rechts daneben in einer Glasvitrine zeigt und somit ihre Mystifizierung unterläuft. Neben dem direkten Vergleich der künstlerischen Fähigkeiten haben beide Arbeiten auch einen gemeinsamen Nenner: Sowohl Warhols idealisierte Vorstellung einer Ritterburg, als auch Hitlers Aquarell des populären Schlosses zielten auf eine gesteigerte Verkäuflichkeit ab.
Zentrales Exponat dieses Teils ist Michael Müllers titelgebender großformatiger Index „Vergleichen“ von 2022. In den über 200 Teilen kombiniert er unter anderem die 52 mathematischen Vergleichszeichen oder die aus der Biologie bekannten Sammlungen ausgestopfter Tiere, die eine taxonomische Klassifikation erlauben, mit vergleichbaren kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Zeichen verschiedener ethnischer Gruppierungen, mit Geschlechtsteilen und Körpern aus historischen Lehrbüchern oder mit pornografischen Aufnahmen aus dem Internet. Dementsprechend integriert Müller in seinen Index auch Auszüge aus der „Kleinen Rassenkunde des deutschen Volkes“ des Rassentheoretikers Hans F. K. Günther, von der Hitler vier ihm gewidmete Ausgaben besaß, und eine Illustration aus dem Ausstellungskatalog „Entartete Kunst“, die eine realistische Porträtzeichnung neben zwei expressionistischen von Oskar Kokoschka zeigt und suggestiv fragt: „Welche von diesen drei Zeichnungen ist wohl eine Dilettantenarbeit vom Insassen eines Irrenhauses? Staunen Sie: Die rechte obere! Die beiden anderen dagegen wurden einst als meisterliche Graphiken Kokoschkas bezeichnet.“ Dass die Möglichkeit des Vergleichs und der sachlichen Kategorisierbarkeit auch pervertiert und ideologisch vereinnahmt werden kann, arbeitet Müller mit dieser Arbeit unmissverständlich heraus.
Was kann die Malerei?
Im obersten Geschoss der Sammlungsräume geht die Auseinandersetzung mit dem Bösen weiter. Dazu hat sich Michael Müller Gerhard Richters Zyklus „Birkenau“ aus dem Jahr 2014 hergenommen und dekonstruiert die Gemäldefolge und vor allem Richters Grundgedanken, dass die Gräuel von Auschwitz nicht malerisch darstellbar seien, obwohl er 2001 in diesem Zusammenhang selbst geäußert hat: „Ich denke, generell gibt es kein Bild, das man nicht malen kann.“ Als Grundlage dienten Richter die einzigen vier überlieferten Fotografien, die die Vernichtung der europäischen Juden im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau direkt und unmittelbar dokumentieren. Ursprünglich als vier verschwommen fotorealistische Gemälde angelegt, überarbeitete Richter seine vier Bilder in seiner abstrakten Rakeltechnik, nannte sie zunächst „Vier abstrakte Bilder“, später aber doch „Birkenau“, verschleierte mit der Abstrahierung aber ihren Inhalt.
In seiner sechzehnteiligen Arbeit „Mögliche und unmögliche Bilder #I“ von 2022 knüpft Müller an Richters Ausgangsfrage an, ob alles prinzipiell mal- und darstellbar ist, und bedient sich der Ästhetik des deutschen Malerstars, um zu untersuchen, was unterschiedliche Kunstwerke erreichen können. So legt er die verschiedenen Malschichten wieder frei, lässt die ursprünglichen fotorealistischen Bilder wieder aufscheinen und befragt die unterschiedlichen Malstadien nach ihrer jeweiligen Aussagekraft. Während Richter die Wahrheit des Bildes verschleiert, legt Müller sie in seinen Anverwandlungen offen. Sein Fazit ist, dass Kunst sich zwar allem widmen, alles malen und zeigen kann. Doch kann sie auch alles erreichen? Ein ethisch angemessen Bild für die Gräueltaten der Schoah gebe es nicht. Dennoch darf der Holocaust nicht in etwas Mystisches abdriften, das außerhalb der Welt steht und sich dem menschlichen Verstand entzieht. Vielmehr bringt Michael Müller Hannah Arendts Begriff der „Banalität des Bösen“ ins Spiel: Massenvernichtung ist eine „banale“ und nicht eine mystische Aktion des Menschen, ein Verbrechen von Menschen an Menschen.
Die Ausstellungen „Die Errettung des Bösen. Eine Ausstellung von Michael Müller“ und „Michael Müller: Mögliche und unmögliche Bilder“ sind noch bis zum 19. März zu sehen. Das Museum im Kulturspeicher hat dienstags von 13 bis 18 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr und donnerstags zusätzlich bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 4,50 Euro, ermäßigt 2,50 Euro und ist für Kinder bis 6 Jahre frei. |