 |  | Joanna Piotrowska, Dreams are the facts from which we must proceed, 2023 | |
Die Kohlezeichnungen auf aufgerautem Karton, die der polnische Künstler Wojciech Bakowski, Jahrgang 1979, zur Zeit im Neuen Essener Kunstverein zeigt, erscheinen auf den ersten Blick reduziert; aber dennoch bringen sie das über allem schwebende Thema des Ausstellungsprojekts „Ruhr Ding: Schlaf“ prägnant auf den Punkt. Aus der Vogelperspektive sehen wir da etwa eine nächtliche Straßenkreuzung. Ein Fahrtrichtungspfeil weist nach rechts. „PAST“ steht da auf der Fahrbahn. Wer hier imaginär abbiegt, wechselt die Zeitebene und begibt sich in eine andere Realität. Derartige Einladungen zum Perspektivwechsel, zu alternativen Formen der Wahrnehmung, zum Rückzug, zum Tagträumen, zum regenerativen Schlummern oder sogar zu tranceartigen Zuständen angesichts hybrider Radio-Shows und hochkarätiger DJ-Sets prägen die von Britta Peters kuratierte nunmehr dritte Ausgabe der international besetzten Kunstschau.
Mit „Ruhr Ding: Schlaf“ kommt eine Ausstellungstrilogie zu ihrem Abschluss, die seit ihrer Premiere 2019 die stark vom Strukturwandel geprägte Region unter verschiedenen Aspekten künstlerisch auf den Prüfstand gestellt hat. Nach „Territorien“ 2019 und „Klima“ 2021 nun also „Schlaf“. Während sich die beiden ersten Ausgaben der Mitte und dem Norden der Region widmeten, ist jetzt mit Mülheim an der Ruhr, Essen und Witten der Süden des ehemaligen Bergbaugebiets an der Reihe. 22 temporäre und ortsspezifische Produktionen sind zu sehen. Ein Langzeitprojekt findet zudem in Gelsenkirchen statt. Allgemein geht es um Kontrollgewinn und Kontrollverlust, unseren Körper und unser Verhältnis zur Zeit, um traum- oder alptraumhafte Erfahrungen und vielleicht auch darum, wie sich unsere Wahrnehmungswelt durch die Corona-Pandemie verändert hat.
Im ehemaligen Pumpwerk Witten präsentiert der 1986 geborene irische Künstler Yuri Pattison seine multimediale Installation „dream sequence“. Der kathedralartig hohe Maschinenraum voller Schalter, Hebel und Kontrollanzeigen wird zur Bühne für ein postapokalyptisches Szenario zwischen Hoffen und Bangen, Optimismus und Melancholie. Auf einer riesigen LED-Wand hat Pattison in avancierter Computerspiel-Ästhetik den Weg eines imaginären Flusses von der idyllischen Quelle bis zur kloakenhaften Mündung programmiert. In einer Ecke klimpert ein automatisches Klavier Minimalmelodien, eine Miniaturlandschaft in einem Stahlbassin wird mal mehr, mal weniger unter Wasser gesetzt. Doch die Abläufe verändern sich ständig. Mit Sensoren erhobene Live-Daten zur Wasserqualität der nahe gelegenen Ruhr, aber auch zur Anzahl der Besucher*innen im Raum modifizieren das Zusammenspiel der einzelnen Elemente.
High Tech versus Low Tech. Analog statt digital. Mit wesentlich geringerem technischen Aufwand gelingt der polnischen Künstlerin Joanna Piotrowska, Jahrgang 1985, in drei Schaufenstern einer 2020 aufgegebenen Kaufhof-Filiale in der Wittener Innenstadt eine nicht minder beeindruckende Arbeit. „Dreams are the facts from which we must proceed“ lautet der von einem Zitat des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung abgeleitete Titel. Piotrowska hat Bildmaterial aus ihrem persönlichen Archiv und ihrem Familienalbum benutzt, die Motive stark vergrößert und auf stabile Rückwände aufgezogen. Zu sehen sind in klassischer Schwarz-Weiß-Ästhetik etwa weibliche Hände, die Baumrinden streicheln, wobei kleine Elektromotoren einzelne Elemente beweglich werden lassen. Subtile Intimität da, wo einst die plumpe Anregung von Konsumbedürfnissen im Fokus stand.
Eine äußerst feinsinnige und kontemplative Intervention stammt auch von Nora Turato, Jahrgang 1991. Die unlängst im New Yorker MoMA gefeierte, in Amsterdam lebende Kroatin hat in den Bäumen und Büschen des idyllischen Schwesternparks beim Evangelischen Krankenhaus Witten nahezu unsichtbare Lautsprecher platziert, aus denen jetzt rätselhafte Textbotschaften erklingen. Es handelt sich um im Alltag aufgeschnappte Gesprächsfetzen, die Turato auf den Punkt bringt und mit ihrer eigenen Stimme nachspricht.
Auf den ersten Blick verspielt und unverkrampft kommt die begehbare Rauminstallation „Cruise Tentare“ daher, die das Wiener Künstler*innenkollektiv God’s Entertainment im Saalbau Witten, einem 1975 eröffneten, multifunktionalen Kultur- und Veranstaltungszentrum eingerichtet hat. Mit einigen markanten Eingriffen ist es den Österreicher*innen gelungen, im weitläufigen Foyer Kreuzfahrt-Atmosphäre aufkommen zu lassen. Ein Teppich mit Wellenmuster simuliert einen Swimmingpool, und billige Monobloc-Chairs mit Markenlogos gaukeln Weltläufigkeit vor. Doch jenseits des Spaßfaktors werden hier ernste Dinge verhandelt. So lädt ein mit einer gehörigen Portion Zynismus unterfütterter Glücksspielautomat Nicht-Inhaber westlicher Prestigepässe dazu ein, um begehrte Einreisevisa zu zocken. Und die monumentale, aufblasbare Oktopus-Skulptur draußen über dem Eingang gemahnt an die Erkenntnisse, die die ursprünglich als Zoologin ausgebildete Feministin und Poststrukturalistin Donna Haraway, Jahrgang 1944, in ihrem Buch „Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän“ über diese besondere Spezies publiziert hat. Für Haraway gilt der Oktopus als Prototyp eines hochfluiden Organismus mit queerer, nicht-heteronormativer Geschlechtsidentität.
Herausragend ist zudem der Film „Know Your Stones“, in dem die 1991 geborene slowenische Künstlerin Katarina Jazbec unter anderem gestandene Bergleute und Stahlarbeiter dazu bringt, von ihren Träumen zu berichten. Einen Ausgangspunkt für ihre Arbeit stellt das Phänomen des „Dream Sharing“ dar. Darunter versteht man das Teilen und Mitteilen von Träumen, wie es von vielen indigenen Völkern betrieben wird. Bombastische Bilder aus einem Stahlwerk werden hier mit einfühlsamen Porträt- und Landschaftsaufnahmen kontrastiert.
Der in Berlin geborene Viron Erol Vert, Jahrgang 1975, wiederum betont gerne seine hybride Herkunft mit türkischen, griechischen und arabischen Wurzeln. Seine Intervention mit dem Titel „Kösk x Kiosk“ auf dem Rathausplatz von Mülheim an der Ruhr verwandelt einen seit Jahren geschlossenen und daher längst zum Schandfleck verkommenen ehemaligen Kiosk in einen einladenden Ort der Begegnung. Vert hat intensive Sprachforschung betrieben, die Herkunft des Wortes Kiosk aus dem Persischen, die kulturelle Tradition des Kiosks in Persien und der Türkei und schließlich seine Migration nach Westeuropa und ins Ruhrgebiet erforscht. Für den Mülheimer Kiosk hat er ein neues Farbkonzept in knalligen Komplementärfarben entwickelt. Neue installierte Sitzbänke, Teppichboden und ein von der benachbarten Straßenbrücke aus sichtbares verspiegeltes Dach verwandeln die einstige Schmuddelecke jetzt in einen absoluten Hingucker.
Doch „Ruhr Ding: Schlaf“ findet nicht nur im Stadtraum statt. Acht Wochen lang kuratiert jeden Donnerstag zwischen 18 und 22 Uhr der aus dem Libanon stammende, mittlerweile aus dem deutschen Club- und Theaterbetrieb nicht mehr wegzudenkende DJ und Labelbetreiber Guy Dermosessian, Jahrgang 1984, das „Cute Community Radio“ aus einem nur zwölf Quadratmeter großen Ladenlokal in der Bochumer Innenstadt heraus. Im Zentrum der hybriden Radioshow unter dem Motto „Hudu’ Nisbi“ steht Musik aus der Diaspora verschiedener Zuwanderer-Communities. Laut Ruhr Ding-Kurzführer beschreibt „Hudu’ Nisbi“ den „Zustand der Ruhe bei ständiger geistiger Wachsamkeit“ und somit einen durchaus Beachtung verdienenden fließenden Übergang zwischen Schlafen und Wachsein.
Beschallt wird das Publikum von „Ruhr Ding: Schlaf“ übrigens auch von einer Skulptur des Berliner Künstlers Nik Nowak, Jahrgang 1981. Unter der direkt an der Ruhr gelegenen gigantischen Konrad-Adenauer-Brücke in Mülheim, einem Relikt der autogerechten Stadt der 1960er Jahre, hat Nowak einen Überseecontainer aufgestellt, der von ihm zur Soundskulptur umfunktioniert wurde. Seine Premiere feierte „The Sound of the Multitude“, so der Titel der Arbeit, am Eröffnungsabend der Ausstellung mit DJ-Sets von Catu Diosis und Zoë Mc Pherson.
Es gibt soviel mehr zu entdecken: Etwa „Michel Gondry’s Home Movie Factory“ voller ungewöhnlicher Kulissen in der Alten Dreherei in Mülheim an der Ruhr, in der der 1963 geborene und mit dem Oscar prämierte französische Filmemacher Interessierte dazu einlädt, innerhalb von drei Stunden ihren eigenen Spielfilm zu drehen. Oder die an- und abschwellende Säule aus gelb eingefärbtem Seifenschaum, die die Dresdner Künstlerin Stephanie Lüning, Jahrgang 1978, unter dem ironischen Titel „Temporarily not Available“ in einer Vintage-Telefonzelle in Essen-Steele präsentiert. Ob ehemalige Trinkhallen, Kioske, leerstehende Ladenlokale, unansehnliche Fassaden, Parks oder alte Produktionshallen: Die auch als Kuratorin der Skulptur Projekte Münster 2017 erprobte Britta Peters und ihr Team von Urbane Künste Ruhr haben zahlreiche Orte aus ihrem postindustriellen oder postkonsumistischen Dornröschenschlaf geweckt und zu stimulierenden Impulsgebern künstlerischer Gegenwartsbestimmungen gemacht. Schade nur, dass das Allermeiste bereits Ende Juni wieder abgebaut wird.
Doch halt, eine Ausnahme gibt es dann doch. Bereits seit Ende März zeigt die serbische Künstlerin Irena Haiduk, Jahrgang 1982, in der profanierten Kirche St. Bonifatius in Gelsenkirchen-Erle die zweite Phase ihres zunächst zeitlich nicht limitierten Projekts „Healing Complex: Myconomie“. Im Grunde geht es dort um ein alternatives Wirtschaftsmodell jenseits der tradierten Geldwirtschaft. Ausgehend von einer Pilzzucht, die in dem kühlen und lichtarmen Beton- und Klinkerbau aus den 1960er Jahren ideale Bedingungen vorfindet, werden zusammen mit Anwohner*innen und anderen Interessierten Workshops und Backsessions durchgeführt sowie experimentelle Netzwerke aufgebaut und erprobt, die sich die symbiotische Lebensweise von Pilzkulturen zum Vorbild nehmen.
Die 2021 verstorbene libanesisch-amerikanische Künstlerin und Dichterin Etel Adnan hat sich in ihrem poetischen Text „Nacht“ über den Schlaf ihre eigenen Gedanken gemacht. Schlaf versteht sie „nicht als Abwesenheit von Wachsein, sondern als das Betreten einer anderen Welt“. „Die Nacht“, so Adnan, „ist das Reich der Träume, und Träume sind die größten Expansionen unseres Geistes“. Insofern bietet „Ruhr Ding: Schlaf“ überzeugten Nachtmenschen und Morgenmuffeln jede Menge Futter.
Die Ausstellung „Ruhr Ding: Schlaf“ mit 22 Kunstprojekten läuft bis zum 25. Juni in den Städten Mülheim an der Ruhr, Essen und Witten, das Langzeitprojekt „Healing Complex“ in Gelsenkirchen-Erle. Geöffnet ist mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr, das Märkisches Museum Witten mittwochs bis sonntags von 12 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist kostenlos, ebenso der 168seitige Kurzführer und Deutsch und Englisch.
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