 |  | Liam Young, Planet City, 2020 | |
Eine Stadt für 10 Milliarden Menschen, neunzig Millionen Bienenstöcke, 3.357 Algenfarmen und 932 Zettabytes an Daten. Im utopischen Entwurf des australischen Architekten und Filmemachers Liam Young könnte die gesamte Erdbevölkerung auf kleinstem Raum zusammenleben, während der Rest der Oberfläche unseres Planeten einer globalen Wildnis zur Regeneration überlassen wird. Der Kurzfilm bedient sich der Methoden des Science-Fiction-Genres und des „Worldbuildings“, der Erschaffung einer fiktiven Welt mit all ihren Details, um eine futuristische Architekturidee zu kreieren.
Young kehrt die Zersiedelung der Erde in seiner Stadtutopie „Planet City“ radikal um. In seinem 15minütigen Film beschäftigt er sich mit der Frage, was wäre, wenn wir einen globalen Konsens darüber erzielen würden und uns aus unserem riesigen Netz von Städten und verflochtenen Lieferketten in eine einzige, hyperdichte Metropole zurückziehen, die die gesamte Erdbevölkerung beherbergt. Diese Stadt würde lediglich 0,2 Prozent der Erdoberfläche beanspruchen, während sich die restlichen 99,8 Prozent von den durch Kolonisierung, Globalisierung und den durch fortgesetzten Abbau von Ressourcen verursachten Defekten erholen könnte. Um die Utopie glaubhaft zu machen, entwarf Liam Young nicht nur die Architektur und die digitale Umgebung der Metropole, sondern auch jedes einzelne Detail, wie diese Stadt aussehen, funktionieren und sich anfühlen könnte: von der Lebensmittel- und Energieversorgung über Gewächshäuser, Algenfarmen bis hin zu den verschiedenen Wohngebieten, ihrer Kultur und ihren sozialen Gewohnheiten sowie der Kleidung und den Kostümen der verschiedenen Bewohner und Berufsgruppen, darunter Algentaucher, Imker, Drohnenhirten, Nomaden und Zero-Waste-Weber.
Im Mikrokosmos, den Simon Young sich ausgedacht hat, gibt es riesige, übereinander getürmte Wohnkomplexe und unterschiedliche Architekturen. Aufzüge und Hebesysteme transportieren Lasten, gigantische Solaranlagen versorgen die Hyperpolis mit Energie und beleuchten rosafarbene Gemüsefelder. Doch trotz des andauernden Dämmerlichts ist Youngs Blick in die Zukunft des Jahres 2050 nicht nur dystopisch. 2.555 Feste und Feiertage – das haben sich der Künstler und sein Team ausgerechnet – würden in „Planet City“ aufgrund der kulturellen Dichte nahtlos ineinander übergehen. Young, den die BBC als „the man designing our futures“ bezeichnet hat, versteht „Planet City“ als Provokation und als Einladung, uns in unterschiedliche Zukunftsvisionen hineinzudenken und hineinzuprojizieren, um das, was wir hier lernen, auch auf die gebaute, bereits existierende Stadt zu übertragen.
Im vergangenen Jahr entwickelte Liam Young zusammen mit dem Choreografen Jacob Jonas für das Wiener Q21 bereits „Choreographic Camouflage“, eine Performance, in deren Zentrum Überwachungsnetzwerke und die mögliche Verschleierung von Erkennungsalgorithmen standen. Nun hat „Planet City“ erstmals den Weg in ein österreichisches Museum gefunden: das Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK) zeigt mit „/imagine: Eine Reise in die Neue Virtualität“ eine analoge Ausstellung über visionäre Entwürfe und Szenarien für Architektur und Stadtplanung jenseits der Grenzen der realen Welt, über ihre kulturellen und ökologischen Herausforderungen und Potentiale sowie die damit verbundenen sozialen, politischen und infrastrukturellen Auswirkungen. Der Titel der Ausstellung „/imagine:“ bezieht sich auf eine Handlungsanweisung. Es ist der Befehl, der es den Nutzern ermöglicht, mit der Open-Source-Software „Midjourney“ ihre eigenen architektonischen Utopien zu erzeugen. Auf der Grundlage einer Texteingabe generiert ein KI-Algorithmus Bilder, die unendlich variiert werden können.
Die von Marlies Wirth und Bika Rebek kuratierte Schau versteht sich als Momentaufnahme, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will mit der getroffenen Auswahl eine Vorstellung davon geben, wie vielseitig, einfallsreich und rasant die Gestaltung des virtuellen Raums voranschreitet. Mit Blick auf das letzte Jahrzehnt zeigt sie kritische, interaktive, partizipatorische, spielbare und hyperrealistische Arbeiten in einer Vielzahl von Medien, wie Renderings, CGI-Visualisierungen, 3D-Animationen und Drucke, digitale Filme und virtuelle Realität sowie Blockchain-Projekte und Videospiele. Mehrere neu in Auftrag gegebene und aktuelle Arbeiten sind zum ersten Mal in einem Museum zu sehen.
Gegliedert ist die Ausstellung in vier sich überschneidende Abschnitte, die den roten Faden von „The New Virtual“ bilden: mit „Speculative Narratives and Worldbuilding“, „Research Investigations“, „Dreamscapes“ und „AI and Algorithmic Variation“ unterbreitet die Schau ein breites Spektrum an Arbeiten. Entsprechend vielfältig wie der Hintergrund der kreativen Köpfe aus unterschiedlichen Disziplinen, darunter Architektur, Landschaftsdesign, Innenarchitektur und Produktdesign, Stadtplanung, bildende Kunst, Spieldesign und Film. Indem sie neue Wege des Bauens im virtuellen Raum aufzeigen, die vielleicht noch nicht machbar oder realistisch sind, verschieben die Projekte dieser Ausstellung die Grenzen der gebauten Umwelt und schaffen neue Erzählungen, Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten im virtuellen Raum, die sich in der physischen Realität fortsetzen können.
Im Bereich „Speculative Narratives and Worldbuilding“ erkunden neben Liam Young Künstler*innen wie Jose Sanchez und Miriam Hillawi Abraham zukünftige Szenarien durch Terraforming, Städtebau oder Re-Wilding. Sie lassen sich von Science-Fiction, Spielen und Filmen inspirieren. Doch ihr Ziel ist es nicht, Entwürfe für die Zukunft zu erstellen, sondern mit der Vorstellungskraft zu spielen und neue Szenarien für das Zusammenleben auf einem Planeten zu gestalten. Die Arbeiten sind zwar thematisch weit gefasst, stellen aber durch Formate wie die Ich-Perspektive, interaktives Gameplay und Virtual-Reality-Immersion das Publikum in den Mittelpunkt.
Nachdrücklich in Erinnerung bleibt vor allem der Beitrag des jamaikanisch-britisch-amerikanischen Architekten und Filmemachers Kordae Jatafa Henry, der sich in Musikvideos und Kurzfilmen mit den komplexen Themen Mystik und Ritual, Popkultur, neue Technologien, Geschlecht und Identität auseinandersetzt. Sein 2019 entstandener Kurzfilm „Earth Mother, Sky Father“ spielt im Jahr 2030 in einer verlassenen Mine im Kongo, einem Ort wie viele hundert andere, an dem Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen schuften, um Rohstoffe zu gewinnen, die in den Westen exportiert und für die Verwendung in technischen Geräten wie Smartphones verarbeitet werden. In der Zukunftsvision gehören die Mine und die wertvollen Ressourcen der Region den Menschen, die dort leben. Henry stellt ein Szenario vor, in dem durch traditionelle kulturelle Elemente wie Tanz, Performance und Rituale neue Bedeutungen hervorgerufen werden.
Fragen der Urheberschaft, nach der Authentizität und dem Eigentum bei der Verwendung von 3D-Scans und -Modellen, die es beispielsweise ermöglichen, verlorene oder zerstörte Artefakte wiederherzustellen oder Figuren und Objekte mit unterschiedlicher Bedeutung und Herkunft zu neuen Kombinationen zusammenzufügen, werden im Bereich „Research Investigation“ verhandelt. Bilder die mit Open-Source-KI-Generatoren erzeugt werden, machen es schwieriger denn je, zwischen Realität und KI-generierter Fiktion zu unterscheiden.
Auch die im Kapitel „AI and Algorithmic Variation“ vorgestellten Projekte nutzen KI-basierte Software und Algorithmen des maschinellen Lernens, um eine spielerische und kritische Herangehensweise an vielschichtige Themen rund um KI, Ko-Autorenschaft und Ressourcen zu entwickeln. Diese Arbeiten nehmen häufig eine ökologische Perspektive ein und nutzen das Potenzial des Computerdesigns nicht nur für den Aufbau von Gemeinschaften, sondern auch für die Visualisierung futuristischer Szenarien für biodiverse und „mehr-als-menschliche“ Lebensräume. Der US-amerikanische Künstler Leah Wulfman beispielsweise setzte für seine Installation „My Mid Journey Trash Pile“ von 2022 die KI-Software „Midjourney“ ein, um Bilder von Gebäuden zu erzeugen, die aus verschiedenen Arten von Müll bestehen. Anschließend ließ er fünf seiner Architekturentwürfe von einem chinesischen Künstler im impressionistischen Stil nachmalen. In der Ausstellung werden die Artefakte auf einer großen, geschwungenen Tapete präsentiert, die Tausende von weiteren Waste-Architekturen enthält, die durch den Algorithmus entstanden sind. In Wulfmans Projekt erhält Abfall eine neue Bedeutung: der Wert dessen, was wir als „Müll“ oder „Abfall“ bezeichnen, wird in Frage gestellt. Gleichzeitig entwirft er eine architektonische „Trans-Ästhetik“, die von einer singulären Autorschaft befreit wird.
Das vierte Kapitel „Dreamscapes“ stellt die spezifische Ästhetik von computergenerierten fiktiven Natur-Architekturen vor: Digital Rederings vom Berliner Studio Mary Lennox mit einer Serie eskapistischer Landschaften oder die Projekte von Studio Precht von Chris Precht und Fei Tang Precht erinnern an Traumlandschaften und -bauten und erforschen die Überschneidung von Unmöglichkeit und Realität, indem sie Natur und digitale Welt miteinander verschmelzen. Die utopischen Landschaften, Gebäude und Innenräume enthalten häufig surrealistische Elemente. Unübersehbar ist die Bezugnahme auf das visuelle Vokabular der modernen und postmodernen Architektur, darunter von Luis Barragán, Lina Bo Bardi, Ricardo Bofill und John Lautner.
Viele virtuelle Räume in „Dreamscapes“ sind während des Corona-Lockdowns entstanden, gestaltet mit minimalistischen Formen, Pastellfarben und sanfter Beleuchtung, die ein Gefühl von Ruhe und Luxus ausstrahlen und in Zeiten der Unruhe und Krise Gelassenheit und Fluchtmöglichkeiten bieten. So kombiniert „Quantum Express“ von Alexis Christodoulou verschiedene Szenarien und fiktive Landschaften, um eine visuelle Geschichte zu erzählen, die die Betrachter wie eine Zugfahrt erleben. Die Szenen vermitteln unterschiedliche Innenräume, einen Speisewagen, ein Spa oder ein Schlafzimmer, mit Blicken auf die vorbeiziehende Natur von toskanischen Feldern über ruhige Seen bis hin zu Bergpanoramen, die mit Leichtigkeit ein Gefühl von Zeitreisen hervorrufen. Ausgehend von der post-pandemischen Ära, in der wir uns nicht mehr so frei in unserer materiellen Welt bewegen, zielt das Projekt darauf ab, ein neues Gefühl der Bewegung in uns selbst zu erkunden. Es befasst sich mit der selben Frage, über die wir schon seit Tausenden von Jahren nachdenken: Bewegen wir uns durch Raum und Zeit oder bewegen sie sich durch uns?
Die Ausstellung „/imagine: Eine Reise in die Neue Virtualität“ ist bis zum 10. September zu sehen. Das Museum für angewandte Kunst hat dienstags von 10 bis 21 Uhr, mittwochs bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 15 Euro, ermäßigt 12 Euro. Jeden Dienstag ab 18 Uhr kostet er nur 7 Euro. Für Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren ist der Besuch frei. |