 |  | Dierick Bouts d.Ä. Werkstatt, Der heilige Lukas zeichnet Maria mit dem Kind, um 1467/75 | |
In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erlebte die flämische Stadt Löwen eine Blütezeit. Nach einem Jahrhundert mit plagender Pestepidemie, andauernden Auseinandersetzungen und Kriegen sowie einem Rückgang des Stoffhandels herrschte nun Aufbruchsstimmung. Zudem beförderte die 1425 gegründete Universität Innovation, Austausch und den Aufstieg zu einem kulturellen und intellektuellen Zentrum. Profane Bauten, allen voran das Rathaus, und Kirchenneubauten visualisierten die Wirtschaftsstärke und den Stolz der Stadt. Hier bot sich ein ideales Aktionsfeld für den Maler Dierick Bouts, der wohl in den Jahren um 1448 nach Leuven zog, wo er 1457 erstmals nachweisbar ist. Datum und Ort seiner Geburt sind bislang nicht belegbar. Experten vermuten, dass er um 1410/20 in Haarlem zur Welt kam. Wo und bei wem er gelernt hat, ist ebenso unbekannt. Rasch konnte Bouts dann in Leuven einen über die Stadtgrenzen hinaus namhaften Werkstattbetrieb aufbauen und erhielt 1467 den Titel eines „Stadtmalers“.
Aus der Ehe mit der Leuvener Patriziertochter Catharina van der Brugghen gingen vier Kinder hervor; die Söhne Dierick d.J. und Aelbert Bouts wurden gleichfalls erfolgreiche Maler. Nach dem Ableben seiner ersten Frau ehelichte Bouts 1473 die ebenfalls vermögende Elisabeth van Vossem, bevor er am 6. Mai 1475 in Löwen starb. Da nur sehr wenige Details zu Leben und Wirken von Bouts übermittelt sind, gilt er gemeinhin als bekanntester unter den unbekannten flämischen Meistern. Nach den eine Generation älteren Pionieren wie Jan van Eyck oder Rogier van der Weyden gilt er als Großmeister seiner Zeit, der unter den Vertretern altniederländischer Malerei des ausgehenden Mittelalters eine besonders individuelle Rolle einnimmt. So will nun die vom Experten und Kurator Peter Carpreau seit 2020 erarbeitete Präsentation im Museum Leuven ein neues Licht auf den führenden Porträtmaler und Illustrator sakraler Werke werfen. Mit 25 Gemälden von Dierick Bouts d.Ä. und seiner Werkstatt gelang es, die bislang größte Zahl ihm zugeschriebener Arbeiten aus aller Welt zu vereinen, ergänzt von rund 40 korrespondierenden Bildern aus seinem Umfeld.
Die Auswahl gliedert sich in sechs Abschnitte und setzt mit dem örtlichen gesellschaftlichen Kontext ein. Schon die vorangestellten Porträts bestechen durch eine intensive Farbgebung, ausstrahlende Ruhe und Blicken, die ins Leere schweifen. Neben den Bildnissen sorgten die beliebten kleinformatigen Andachtsbilder für einen florierenden Werkstattbetrieb. Gerade sie zeigen, wie Bouts auf Trends reagierte. Im Rahmen der religiösen Erneuerungsbewegung „devotio moderna“ im 15. Jahrhundert mit ihrem Hang zur inneren Einkehr entfaltete sich die Privatandacht, für die Dierick Bouts halbfigurige Christusbilder entwickelte. Die Kombination des frontalen Antlitzes Christi mit Händen in Gebetsgeste als Pose des Mitleidens samt ergänzender Tränen weicht von traditionellen Darstellungen ab. Dies führt zu einer neuartigen Emotionalität und einer intensiveren Menschlichkeit Jesu. Darüber hinaus war es populär, Porträts in Anlehnung an das Schweißtuch der heiligen Veronika zu gestalten, ein Thema, das Bouts und seine Werkstatt in mehreren Versionen produzierten.
Gleichzeitig erfreuten sich Mariendarstellungen im späten Mittelalter großer Beliebtheit. Während gewöhnliche Personen sich mit Gebetskarten begnügen mussten, gaben wohlhabende Bürger Gemälde in Auftrag, die Maria als Mutter der Humanität und Königin von Himmel und Erde inszenierten. Die durchdringende Aura der Heiligkeit vertiefte Dierick Bouts durch Anlehnung an byzantinische Ikonen, die teils auch als „flämische Ikonen“ bezeichnet werden. Vor goldenem Hintergrund oder golddurchwirkten kostbaren Stoffen als Figuren oder Halbfiguren platziert, entsprechen Gesichter, Drapierung und Modellierung indes der zeitgenössischen flämischen Malerei. Als Beispiel für die Übernahme von Sujets Rogier van der Weydens gilt das Bild des heiligen Lucas, der die Madonna mit Kind zeichnet. Die klare vertikale Struktur der Komposition, der leere Boden im Vordergrund oder die in blaugrünem Kolorit in den Horizont übergehende Landschaft sind typisch für Bouts und seine Mitstreiter. Lucas, der Maria hier mit einem Metallstift skizziert, war Evangelist und Schutzpatron der Künstler. Der Durchblick durch eine Tür im rechten Hintergrund zeigt ein weiteres in Arbeit befindliches Marienbildnis auf einer Staffelei. In diesem Lob auf die Künstler hat Bouts sich vermutlich als Lucas und Maler selbst dargestellt.
Dierick Bouts d.Ä. gilt zwar nicht als Erfinder der Landschaft, doch hat er in diesem Genre entscheidende Neuerungen eingeführt. Zunächst befriedigte er die Sucht des Bürgertums nach erträumten, weit von Flandern entfernten Gegenden, die sich durch fantasievolle Felsenpartien oder exotischen Pflanzen auszeichnen. Um Raumtiefe zu erzeugen, perfektionierte er seine visuellen Techniken, bediente sich dazu des Tricks des Repoussoirs und schuf zuerst die Landschaft, in die er dann Figuren und Objekte einfügte. Deutlich wird die durch Schichtung erzeugte Stufenwirkung offenbar. Unterstützend dazu nutzte er die atmosphärische Perspektive mit nebeligem Horizont in grünblauem Kolorit, der lavierend in den Himmel übergeht und Ruhe ausstrahlt. Das Highlight dieses Abschnitts sind die aus Lille ausgeliehenen Flügel des Weltgerichtsaltars, den Bouts ab 1468 im Auftrag des Leuvener Rates schuf. Hier wird besonders seine Meisterschaft als Landschaftsmaler deutlich. Die himmlische Landschaft der Tafel mit den „Glückseligen auf dem Weg ins Paradies“ ist auffällig an Jan van Eycks „Anbetung des Lamm Gottes“ orientiert, die nackten Körper sind nach Rogier van der Weydens Weltgerichtsaltar ausgerichtet. Die grausamen Monster, Bestien und teuflische Dämonen spiegeln in ihrer Ausformung Ausdrucksweisen von Eyck.
In Zusammenhang mit der farblichen steht die lineare Perspektive, die sich im 14. Jahrhundert in Italien entfaltete. Dierick Bouts d.Ä. war einer der ersten, der das detailgenaue, über Handelsbeziehungen oder aus dem Bildungskosmos der Universität erlangte Know-how systematisch anwandte. In aller Regel setzte er einen Punkt, an dem allen Linien zusammentrafen. Diese imaginäre Position ist mit Gott gleichzusetzen, so dass hinter dem Motiv eine göttliche Dimension existiert. Noch hielten sich die Maler jener Zeit nicht sklavisch an die zentralperspektivischen Sichtachsen, sondern bevorzugten eine „Bedeutungsperspektive“, die bestimmte Personen oder Handlungen heraushob. Doch deutet sich hier bereits ein Übergang von der mittelalterlichen Bildkultur in eine neue Zeit an.
In den beiden letzten Kapiteln der Schau stehen Triptychons im Fokus, insbesondere die noch nie zuvor vom Capilla Real in Granada für eine Ausstellung ausgeliehenen Tafeln der „Kreuzabnahme“. Charakteristische Merkmale Bouts’ sind hier vereint: freier Vordergrund, dünne, lange, wie Stangen aufragende Gestalten mit gefasster Mimik, Staffelung der Hügel mit subtiler Modulationen in grünblauem Kolorit. Durch die Fluchtpunktperspektive öffnet sich die Inszenierung einer mit Gegenständen gefüllten Bühne. Zangen und Nägel liegen unter der mittigen Kreuzabnahme. Beim Bild von Christus im Haus des Pharisäers Simon, das aus den Staatlichen Museen zu Berlin entliehen wurde, liegt das Messer auf dem Tisch und verweist als Vorbote auf die Folterung Christi. Bouts intendierte die Stärkung des Realitätsanspruchs durch diese Alltagsgenstände. Diese für jedermann wiedererkennbaren Dinge sollten eine zeitgenössische Atmosphäre erzeugen.
Höhe- und Schlusspunkt der Auswahl bildet das für die Sakramentskapelle der Kirche Sint Pieter in Löwen entstandene Triptychon „Das letzte Abendmahl“, Bouts wichtigstes Werk, das im Auftrag der Bruderschaft des heiligen Sakraments malte. Es gilt als das erste Gemälde, das in der nordischen Malerei vollständig nach den Regeln der Zentralperspektive erstellt wurde, und besticht durch feierlichen Ernst. Meisterhaft vereinte Dierick Bouts hier alle zuvor erprobten gestalterischen Elemente: Unaufgeregte Stille, strenge Durchgliederung einzelner Teile oder ins Nichts schielende Augen der Personen. Das von vorne links einfallende weiche Licht wirft sanfte Schatten und betont anekdotische Details aus dem Alltag in dem schmalen zeitgenössischen Innenraum. Durch die Fenster links fällt der Blick auf Leuven und den Rathausneubau, rechts erweitern offene Türen die Szenerie in andere Räume und den Garten. Der Fluchtpunkt liegt über dem Kopf Jesu und konzentriert sich auf dessen segnende Hand. Bezüge zu Brot und Opfer vertiefen die vier Seitentafeln.
Anders als im letzten Raum, in dem dieses Meisterwerk singulär zur Geltung kommt, streute der Kurator Peter Carpreau in den übrigen Sälen zeitgenössische Positionen ein. Geschichte wiederholt sich nicht, und so sind Verbindungslinien über Jahrhunderte hinweg oft problematisch. Neben der traditionellen historischen Herangehensweise verfolgte Carpreau einen „transhistorischen“ Ansatz, der den Betrachter mit dessen Kultur in den Fokus rückt. Produkte des „Bildermachers“ Bouts sind in der Schau direkt mit Werken zeitgenössischer Bildgestalter*innen wie der Filmplakategrafikerin Amira Daoudi oder Sequenzen der Star Wars-Filme konfrontiert. Allerdings ist die Auswahl beliebig und führt zu wenig Erkenntnisgewinn.
Da ohne begleitende zeitgenössische Events heute kaum mehr eine derartige Schau vermittelbar scheint, bettete man die Ausstellung in das Bouts-Festival „Neue Horizonte“ ein. Dies ermöglicht immerhin einen Blick in das Innere des gotischen Rathauses, wo in der ehemaligen Gerichtsstube eine Kopie von Bouts’ Gerechtigkeitstafeln hängen. Das erst nach seinem Ableben von seiner Werkstatt vollendete Monumentalwerk wird vom Königlichen Museum für schöne Künste in Brüssel nicht ausgeliehen.
Wesentlicher Bestandteil des Ausstellungsprojekts ist der sorgfältig edierte Begleitband. Das im Belser Verlag erschienene Buch öffnet in instruktiven Beiträgen den Blick auf die Person und das Schaffen von Bouts sowie sein Umfeld. So wartet Stephan Kemperdick, Kustos an der Berliner Gemäldegalerie, in einem elementaren Aufsatz mit neuen Erkenntnissen auf und belegt, das bislang Bouts zugeschriebene Gemälde, wie das im Prado ausgestellte und nicht nach Leuven ausgeliehene Marien-Triptychon, wohl kaum von ihm stammen dürften. Till-Holger Borchert, Direktor des Aachener Suermondt-Ludwig-Museums, analysiert virtuos mit seinem überbordenden Wissen den Einfluss Italiens auf das allgemeine Kunstgeschehen. Ausgewählte, auch nicht in der Ausstellung gezeigte Werke werden separat vorgestellt und ausgewertet.
Die Ausstellung „Dieric Bouts. Bildermacher“ ist bis zum 14. Januar 2024 im M Museum Leuven zu besichtigen. Geöffnet ist täglich außer mittwochs von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 22 Uhr. Der Eintritt beträgt 12 Euro, reduziert 10 Euro. Das umfangreiche und im Belser Verlag erschienene Begleitbuch in deutscher Sprache kostet im Buchhandel 59 Euro. |