 |  | Chaïm Soutine, Le Groom (Der Page), 1925 | |
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, eine prägnante Ausstellung an einem kongenialen Ort vorzufinden. Denn so abgeschieden wie die neuen Wechselausstellungsräume, die hinter dem als „Konzertflügel“ gestalteten Museum K20 angedockt sind, erscheint auch das Œuvre von Chaïm Soutine. Die Besucher*innen seiner Düsseldorfer Ausstellung finden sich in einem Reigen von pastosen, erdfarben getönten und dann wieder farbig aufbrausenden Gemälden wieder. Ausnahmslos gegenständlich illustriert, ist Seltsames und Schräges zu sehen: Porträts von Menschen aus wenig angesehenen Berufen wie Pagen, Köchen oder Messdienern, deren Gesichter verzerrt oder aufgedunsen erscheinen. Sie weisen abnorme, ungleiche Positionen von Augen oder Ohren auf, ihre Haltung ist schwülstig geziert, ihre Kleider in grellen Farben gehalten. Hinzu kommen unruhig gedrehte Landschaften mit schwankenden Gebäuden sowie abnorme Tierstudien, etwa ein am Haken baumelndes, seziertes Rind, ein Rochen mit blutigen Eingeweiden oder an Fensterläden hängende Hasen.
Nachdem Ernst-Gerhard Güse 1981 im Westfälischen Landesmuseum in Münster letztmalig eine Personale zu Soutine organisierte, gelang es nun der Kuratorin Susanne Meyer-Büser, 67 expressive Gemälde Soutines in der Kunstsammlung NRW am Grabbeplatz zu vereinen. Dabei konzentrierte sie sich auf frühe Arbeiten sowie auf zwischen 1918 und 1928 entstandene Serien. Auf extreme Weise spiegelt sich das entbehrungsreiche, von Flucht und Migration durchzogene Leben des Künstlers in dessen Werken wider, die sich einen höchst individuellen Weg zwischen Abstraktion und Figuration bahnen.
Chaïm Soutine wurde 1893 als zehntes von elf Kindern eines Flickschusters in dem Schtetl Smilawitschy bei Minsk im heutigen Belarus geboren und wuchs in einem tief religiösen jüdischen Umfeld auf. Ab dem zehnten Lebensjahr nahm er in Minsk Zeichenunterricht. Im Anschluss konnte er die Kunstschule im litauischen Vilnius besuchen. Als er 1913 von dort nach Paris reiste, folgte er dem Weg, den zwei Jahre zuvor Marc Chagall genommen hatte. Völlig mittellos, an Hunger leidend und nur Jiddisch sprechend schrieb er sich an der École des beaux-arts de Paris ein. Wie viele jüdische Künstler aus Osteuropa nahm er Quartiert in der Künstlerkolonie „La Ruche“, doch schon bald verzog der einzelgängerische Soutine in die Arbeitersiedlung Cité Falguière, wo er dem Italiener Amedeo Modigliani begegnete, der sein bester Freund wurde. Dieser überzeugte den Kunsthändler Léopold Zborowski, Soutine unter Vertrag zu nehmen. Während des Ersten Weltkrieges lebte Soutine überwiegend in Céret, einer Kleinstadt in den Pyrenäen, schuf rund 200 Bilder von der dortigen Landschaft und kehrte Ende 1922 wieder nach Paris zurück.
Kurz darauf begeisterte sich der amerikanische Kunstsammler Albert C. Barnes für seine Werke und erwarb beim Kunsthändler Paul Guillaume über 50 Gemälde des Künstlers. Dieser Ankauf steigerte Soutines Wert auf dem Kunstmarkt und ermöglichte ihm finanzielle Unabhängigkeit sowie individuelle künstlerische Anerkennung. 1925 konnte er eine eigene Wohnung beziehen, 1927 fand seine erste Einzelausstellung in der Pariser Galerie von Henry Bing statt. In der Finanzkrise um 1930/32 wurden Marcellin und Madeleine Castaing seine Mäzene. Als die deutschen Truppen im Sommer 1940 Paris besetzen, lebte Soutine mit seiner Partnerin, der deutsch-jüdischen Exilantin Gerda Groth, als Flüchtlinge im Dorf Civry-en-Montagne im Burgund. 1941 ließ sich Soutine mit seiner neuen Partnerin, der Malerin Marie-Berthe Aurenche, der ehemaligen Lebensgefährtin von Max Ernst, in Paris nieder obgleich er nun den Judenstern tragen musste. Nach jahrelangen Magenleiden verschlechtert sich sein Gesundheitszustand zusehends, und am 9. August 1943 starb Soutine in Paris nach einer Notoperation wegen eines perforierten Magengeschwürs.
Chaïm Soutine schloss sich zeitlebens keiner Künstlergruppe an und malte expressiv gegen den Strom. Seine Gemälde gelten als einzigartig, sensibel und heftig, ästhetisch und drastisch zugleich. Gewaltige, emotionale Farbexplosionen bestimmen seine anonymen Porträts von am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen, darunter Zimmermädchen, Handwerker und Chorknaben. Er malte sie wie seine wankenden Landschaften mit verzerrten, in die Länge gezogenen Häusern oder geschlachteten Tiere mit dickem Farbauftrag im furiosen Farbenrausch. Doch der Erfolg Soutines, dessen Familie Kunst als nutzlose Angelegenheit erachtete und ihn lieber als Rabbiner oder Handwerker gesehen hätte, wurde ihm allseits geneidet. Dank der großen Retrospektive 1950 in New York wurde sein Werkschaffen von einer neuen Künstlergeneration entdeckt, die ihn als Visionär und Pionier der gestischen Malerei betrachtete. Besonders Willem de Kooning war vom Werk Soutines beeindruckt, aber auch Größen wie Francis Bacon, Jackson Pollock, Jean Dubuffet, Georg Baselitz, Marlene Dumas oder Chantal Joffe beriefen und berufen sich auf ihn als Inspirationsquelle.
Die Ausstellung „Chaïm Soutine. Gegen den Strom“ ist bis zum 14. Januar 2024 zu sehen. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in K20 hat täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Am 24., 25. und 31. Dezember bleibt das Museum geschlossen. Der Eintritt beträgt 16 Euro, ermäßigt 14 Euro. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der im Museumsshop 32 Euro kostet. |