 |  | in der Ausstellung „Mária Bartuszová“ | |
Eine (Wieder-)Entdeckung der Documenta 12 im Jahr 2007 war das Œuvre der Tschechin Mária Bartuszová, das nach einer vielbeachteten Ausstellung in der Londoner Tate Modern aktuell im Museum der Moderne in Salzburg zu sehen ist. Noch bevor der Ex-Chefkurator des Wiener Belvedere Harald Krejci als neuer Direktor nach Salzburg wechselte, war er an dem Konzept der Werkschau beteiligt, die von beiden Institution in London und Salzburg gemeinsam realisiert wurde. Die im deutschsprachigen Raum bisher kaum beachtete Bildhauerin war eine der außergewöhnlichsten Künstlerinnen der ehemaligen Tschechoslowakei. Mit der Salzburger Retrospektive, die rund 80 Objekte und zahlreiche Fotografien versammelt, ist nicht nur die bisher größte Personale der Künstlerin, sondern auch eine exzellente Retrospektive gelungen, die von den experimentierfreudigen 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre entführt.
Die 1936 in Prag geborene Bildhauerin, die mit nur 60 Jahren starb, erlebte als Kind noch das nationalsozialistische Protektorat Böhmen und Mähren. In der kommunistischen Ära studierte Bartuszová zunächst an der Hochschule für Angewandte Kunst und später an der Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag. Die meiste Zeit ihrer Karriere lebte sie in der slowakischen Stadt Košice, nahe der Grenze zu Ungarn und der Ukraine. 1963 war sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Bildhauer Juraj Bartusz, und ihrer Tochter Anna in die aufblühende slowakische Industriestadt gezogen, wo sie in einem Atelierhaus wohnte und arbeitete. Die intensive Bautätigkeit in der Region machte Košice zu einem guten Standort für Künstler*innen, die staatliche Aufträge erhielten. Neben Entwürfen und Auftragsarbeiten für den öffentlichen Raum entwickelte Bartuszová über die Gebrauchskeramik ein beachtliches Werk, das trotz der Einschränkungen durch Kindererziehung und ihren Projekten für den öffentlichen Raum zu einem umfangreichen, mehr als 500 Arbeiten umfassenden Gesamtœuvre anwuchs.
Anfang der 1960er Jahre begann die Künstlerin mit ihren Formexperimenten und Materialuntersuchungen und verwandelte Luftballons, Plastikbeutel oder Kondome in skulpturale Gefäße, indem sie die aufgeblasenen Objekte mit Gips befüllte oder ummantelte und durch den Druck ihrer Hände oder des Wassers körper- und naturähnliche Formen schuf. Von Anfang an entwickelten sich ihre Werke aus dem Spiel heraus, sowohl aus dem kindlichen als auch aus dem erotischen, wobei sie Methode und Material perfekt aufeinander abstimmte, um Formen zu erzeugen, die ebenso auf natürlichen Prozessen und dem Zufall beruhten. Bartuszová selbst nannte ihre künstlerische Methode des Gießens, Schüttelns und Fließenlassens „Gravistimulation“. So entstanden abstrakte Objekte mit hauchdünner, stellenweise aufgebrochener Oberfläche, die an organische Strukturen wie Regentropfen, Tau, Samen, Eier und Körner erinnern; Gestaltungen, die gleichermaßen umschließende Körper, wie auch Hohlräume, Formationen und bizarre Auswüchse sind.
Zentrale Themen von Bartuszovás Kunst sind die Form und ihr Verhältnis zu Natur und Körpern. Vor allem in den frühen Werken orientierte sich die Künstlerin an organischen Vorbildern. Wiederkehrende Aspekte ihrer Arbeiten sind Prozesse von Lebewesen, die Kombination disparater Materialien, das Taktile, Volumen und Gewicht, das Aufbrechen von Form und Raum sowie psychologische Konnotationen. Ihre Plastiken sind eine permanente Auseinandersetzung mit Gegensätzen: flüssig/fest, weich/hart, organisch/kristallin, hell/dunkel, leicht/schwer, innen/außen, hohl/massiv oder fließend/starr. Gleichzeitig waren es ihre eigenen Erfahrungen als Frau und Künstlerin, wie Geburt, Verletzlichkeit, Mutterschaft und Eingeschränktheit, die sie konsequent in ihr Werk einbezog. Für Mária Bartuszová waren „volle, runde Formen das Symbol für alles Lebendige, Weiche, Formbare, aber auch Verletzliche, Gefährdete, Warme, Flüssige, Wasserähnliche“, wie sie es selbst ausdrückte. Dabei wirken ihre fragilen Werke wie die Manifestationen eines Augenblicks, die Sichtbarmachung von Zuständen, die sich durch die Wirkungskraft unterschiedlicher Gewichte und Materialien im nächsten Augenblick wieder verändern könnten.
Ihr Interesse daran, natürliche Prozesse, flüchtige Momente und die Spannung zwischen einer schwebenden Form und den Kräften der Schwerkraft in einer festen Form zu erhalten, zeigt sich bereits in frühen Werken wie „Rain“ von 1963 oder „Untitled (Drop)“ von 1963/64. Für ihre bekannteste und seit den 1980er Jahren entstandene Serie „Endless Egg“ experimentierte Mária Bartuszová mit unterschiedlichen Gipsgusstechniken, um zugleich feste und zarte dünnhäutige Gebilde zu schaffen, die kein Oben, kein Unten, keinen Anfang und kein Ende haben. Die Serie besteht aus einzelnen ineinander gesetzten Schalen, deren nest- oder zellenartigen Strukturen Assoziationen an lebendige Organismen zulassen und in denen die Künstlerin einen mehrdeutigen Ausdruck für Wachstum, Vermehrung und Zuflucht findet. Zugleich untersuchte Bartuszová in dieser Werkserie Spuren von Berührung und Druck auf Körper, um Zustände wie Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit zu thematisieren. Die im Verzicht auf den Sockel und durch das Konzept der Unendlichkeit formal und inhaltlich Constantin Brancusis „Endless Column“ verwandte Werkserie, könnte als weibliche Replik auf die fast 30 Meter hohe Säulenskulptur gelesen werden, die der rumänische Bildhauer 1938 als Teil eines Heldendenkmal entwarf.
Viele ihrer Werke inszenierte Mária Bartuszová als ephemere, ortsspezifische Manifestationen. Fotografien zeigen die Künstlerin, wie sie ihre zerbrechlichen Gebilde wie Nester in die Bäume ihres Gartens steckte. Inspiriert durch Naturbeobachtungen und mit der Absicht, „lebende“ Skulpturen zu kreieren, kombinierte Bartuszová in den 1980er Jahren Gips mit natürlichen Materialien wie Holz und Steinen. Werke wie die Reliefarbeit „Melting Snow I“ von 1985, für die sie einen Zweig in einen weißen Gipsuntergrund einbettete und so die Assoziation an eine Schneelandschaft hervorrief, sind zudem Ausdruck ihrer langjährigen Beschäftigung mit ostasiatischer Philosophie, vor allem den Ideen des Taoismus und Zen-Buddhismus, die sie dazu anregten, das Einzigartige und Unendliche in der Natur zu suchen.
Mit einer Serie verschnürter Arbeiten aus den 1980er Jahren gelang Bartuszová auch der Verweis auf den menschlichen Körper, ohne ihn direkt darzustellen. Mal schneiden die Schnüre in weiche organische Formen, mal verbinden sie kleine Gipsformen mit kleinen scharfkantigen Platten. Es sind abstrakte Konglomerate, in denen die Künstlerin eine Semiotik der Unterdrückung und Einengung andeutet: 1984, im Jahr ihrer Scheidung von Juraj Bartusz, fand sie mit Werken wie „Rebound Torso“ einen unmissverständlichen Ausdruck für gegenseitige Bindung und die Heteronomie innerhalb menschlicher Beziehungen.
Weil Mária Bartuszová bereits ab Mitte der 1960er Jahre mehrteilige Skulpturen entwickelte, die auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden können und die in Workshops für blinde oder sehbeeinträchtigte Kinder verwendet wurden, wird dieser sensualistische Zugang auch in der Salzburger Ausstellung angeboten. In einem kleinen Raum darf man sich dem Material Gips spielerisch nähern, um die optischen Eindrücke durch haptische Erfahrungen zu ergänzen.
Mit ihren Werken agierte Mária Bartuszová durchaus in einer künstlerischen und intellektuellen Tradition. Über Zeitschriften wie „Flash Art“ verfolgte sie auch die neuen internationalen Kunstbewegungen. Sie kannte die Werke von Brancusi, Hans Arp, Henry Moore und die des italienischen Künstlers Lucio Fontana, auf dessen Bildperformationen sie 1987 mit der „Homage à Fontana“ durchaus humorvoll reagierte, indem sich ein eiförmiges Volumen durch den aufgeschnittenen Schlitz des weißen Untergrunds zwängen muss. Zu Lebzeiten galten ihre Werke als Folge der „Unsichtbarmachung“ durch ihre Zeitgenossen der Mainstream-Moderne mit den Worten des Schriftstellers Paul B. Preciado als „extemporär... für niemanden zeitgenössisch“. Mit ihren innovativen Formfindungen nahm die Künstlerin indes vieles vorweg, von dem zeitgenössische Künstler*innen heute profitieren. Auch deswegen sollte man sich die beeindruckende Kunst von Mária Bartuszová anschauen, die eine Anerkennung zu Lebzeiten verpasste.
Die Ausstellung „Mária Bartuszová“ läuft bis zum 7. Januar 2024. Das Museum der Moderne auf dem Mönchsberg hat dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 13 Euro, ermäßigt 10 Euro; für Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre ist er frei. Der Ausstellungskatalog kostet im Museum 45,30 Euro. |