Für Leonardo da Vinci bestand „die vordringlichste Aufgabe der Kunst im Klären und Ordnen der wirren Informationen, mit denen die Außenwelt ständig unsere Sinnesorgane bestürmt“. Wenn dieses Klären und Ordnen dann allerdings weniger naturwissenschaftlichen sondern explizit künstlerischen Prinzipien folgt, entsteht oft etwas Neues, eine überraschende, manchmal rätselhafte oder verblüffende Sichtbarmachung dessen, was wir angesichts seines Vorhandenseins im Übermaß oft übersehen.
Vertrocknete Blätter, Zweige, Muschelschalen, Vogelfedern, Pusteblumen, Grashalme, Rosenblüten oder rissige Holzblöcke zählen zu den Materialien einer Ausstellung, die jetzt im Museum Kunst der Westküste in Alkersum auf der Nordseeinsel Föhr zu sehen ist. Die Schau „Pure Nature Art – Naturmaterialien in der zeitgenössischen Kunst“ versammelt Objekte, Wand- und Bodenarbeiten und Installationen von sechs internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die hier ausschließlich mit Materialien arbeiten, die Fauna und Flora – der belebten Natur also – entnommen sind. Der Einsatz natürlicher Materialien spielt in der Stammeskunst Afrikas, Südamerikas oder Polynesiens immer schon eine große Rolle. In der zeitgenössischen westlichen Kunst jedoch ist erst seit den 1960er Jahren ein zunehmendes Interesse an Naturstoffen zu beobachten. Vertreter der Arte Povera wie Mario Merz oder Jannis Kounellis entdeckten plötzlich Reisigbündel, Salatköpfe oder Gemüse als Primärmaterialien. Der US-amerikanische Land Art-Künstler Walter de Maria verfrachtete ganze LKW-Ladungen mit Ackerboden in New Yorker Galerieräume.
Als einer der Pioniere einer naturbezogenen Kunst, die das gefundene Material sammelt und im Ausstellungsraum poetisch neu arrangiert, gilt auch der Niederländer Herman de Vries. In Alkersum ist von ihm etwa eine Bodenskulptur zu sehen, die aus tausenden Blüten der Damaszener-Rose besteht. Der geschüttete Blumenteppich besticht nicht nur durch sein Purpur sondern auch durch seinen angenehmen Duft. Extrem subtil und verletzlich wirken die Arbeiten der Kölner Künstlerin Christiane Löhr. Aus Pflanzenstengeln, Samen oder Pferdehaar schafft sie von der Minimal Art inspirierte Kleinskulpturen, die aufgrund ihrer Fragilität in Vitrinen präsentiert werden. Nähertreten ist hier ausdrücklich angeraten.
Die in Berlin lebende walisische Konzeptkünstlerin Bethan Huws ist bekannt für ihre „Wort-Vitrinen“ oder Neonarbeiten, coole Readymades aus herkömmlichen Industriematerialien also. In Alkersum stellt sie einen anderen Aspekt ihrer Kunst vor. Die Arbeit „Table of Feathers“ von 2009 besteht aus einem schlicht-eleganten Schreibmöbel, auf dessen Oberfläche Dutzende Schwungfedern diverser Vogelarten zu einer Art Wald arrangiert sind. Natur und Kultur begegnen hier einander, diente der Federkiel doch bis zum Aufkommen der Stahlfeder im 19. Jahrhundert als verbreitetes Schreibinstrument. Ihre Arbeit „Mussels on a Beach“ aus dem Jahr 2008 wiederum besteht aus einem baumartig auf einer Holzplatte aufgeständerten Buchenzweig, an dem kleine gestrandete Miesmuscheln wie Früchte befestigt sind. Hier kommt auch wieder der subtile Sprachwitz der Künstlerin zum Vorschein. „Beech“, das englische Wort für Birke, ist homophon mit „Beach“, dem Wort für „Strand“.
Der Brite David Nash hat es sich zur Regel gemacht, ausschließlich mit abgestorbenem Holz zu arbeiten. Er zeigt unter anderem die Bodenskulptur „Cork Dome“ von 2014, ein kuppelartig arrangiertes Ensemble aus gewölbten Rinden der Korkeiche. Sein Landsmann Alastair Mackie wiederum bearbeitet die feinen Kalkstrukturen der Rückenknochen von Tintenfischen, die man oft als Treibgut an Stränden findet. Diese setzt er dann, konzeptuellen Erwägungen folgend, zu geometrisch-ornamentalen Oberflächen zusammen, die entfernt an gekachelte Wände erinnern und in Rahmen präsentiert werden. Im Vergleich dazu regelrecht verspielt kommen dagegen die Arbeiten der Schweizer Künstlerin Regine Ramseier daher. Ihre bizarren „Laubläufer“ von 2016 aus vertrockneten Blättern und Pflanzenrispen bevölkern eine ganze Wand. Sie tragen sicherlich auch dazu bei, dass diese Ausstellung nicht nur Erwachsenen sondern auch Kindern jede Menge anregendes Anschauungsmaterial aus bearbeiteten Naturstoffen bietet.
Die Ausstellung „Pure Nature Art – Naturmaterialien in der zeitgenössischen Kunst“ ist bis zum 7. Januar 2018 zu sehen. Das Museum Kunst der Westküste hat bis zum 31. Oktober täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr geöffnet, vom 1. November bis 7. Januar an selben Wochentagen von 12 bis 17 Uhr. Von Heiligabend bis zum 2. Weihnachtsfeiertag bleibt das Haus geschlossen. Der Eintritt beträgt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Der 112seitige Katalog aus dem Boyens Verlag kostet 15 Euro. |