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Anläßlich des 200. Geburtstages von Hans Christian Andersen findet in Lübeck die Veranstaltungsreihe „Märchenwelten“ statt. Falko Behrendt ist mit einigen Radierungen in der Ausstellung „Wachgeküsst“ des „Günter-Grass-Hauses“ vertreten, die Märchenbilder verschiedener Künstler zeigt, u.a. von Dali, Grass, Hockney, Kirkeby und Saura.
Daneben zeigt der Kunsthandel Hubertus Hoffschild eine umfangreiche Einzelausstellung mit Arbeiten Falko Behrendts zur Themenwelt der „Märchen, Mythen, Marionetten“ mit Graphik, Gouachen und Keramik aus den Jahren 1977 bis hin zu ganz aktuellen Arbeiten.
Zur Ausstellung erscheint eine mehrfarbige Radierung als Vorzugsausgabe in einer Auflage von 24 Exemplaren: „Gullivers Reisen".
VON EINEM, DER AUSZOG, SEIN HANDWERK ZU LERNEN
"Es war einmal ein Mann, der verstand allerlei Künste: er diente im Krieg und hielt sich brav und tapfer, aber als der Krieg zu Ende war, bekam er den Abschied und drei Heller Zehrgeld auf den Weg. Wart, sprach er, das lass, ich mir nicht gefallen, finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze des ganzen Landes herausgeben. So oder ähnlich beginnen viele Märchen, die Realität ist nüchterner.
Friedrich Behrendt aus Stettin, Handelsvertreter für Tabakwaren und Schokolade in Pommern und Westpreußen, gerät nach dem Zweiten Weltkrieg in russische Gefangenschaft, arbeitet dort jahrelang im Bergbau und kehrt im Spätsommer 1949 nach Hause zurück. Was heißt hier nach Hause?
Stettin ist seit 1945 eine ausgebrannte Ruinenstadt. Seine Frau Edith und die damals sechsjährige Tochter Karin sind in den letzten Kriegsmonaten nach Torgelow geflüchtet, einem abseits gelegenen Ort in der Ueckermünder Heide. "Ein unscheinbares Nest - viele kleine Häuser, ganz ärmlich." Hier hat Schwiegervater Richard Behrendt einen Malerbetrieb aufgebaut, ist aber 1945 gestorben. Eine schwere Zeit. Friedrich Behrendt findet nach der Rückkehr zur Familie Arbeit in einer Torgelower Eisengießerei; nicht gerade günstig für einen Mann, dessen Lunge auf Röntgenbildern Schatten aufweist.
Am 11. Mai 1951 wird Falko geboren, genauer Friedrich Richard Falko Behrendt. Seiner Mutter geht es lange Zeit gesundheitlich miserabel. Der Vater arbeitet inzwischen für die GHG WtB (Groß-handelsgesellschaft Waren des täglichen Bedarfs), beliefert also Einzelhandelsgeschäfte und ist viel unterwegs. So kümmern sich die beiden Großmütter und die zwölf Jahre ältere Schwester um ihn. Man wohnt auf engstem Raum. Der ehemalige Ladenbereich, in dem alte Verkaufstische zu einer Zwischenwand hochgestapelt worden sind, dient jetzt als Küche und Kinderzimmer.
Falko ist ein ruhiges Kind, den die Schwester nicht ungern im "Sportwagen" ausfährt. Zunächst ist der Hof, später der Garten seine Welt. Nach wenigen Jahren kommen die Wiesen und Felder hinter der Karlsfelder Straße hinzu, das Flüsschen Uecker, der nahe Wald.
Zwei Eigenschaften werden schon früh deutlich: er zeichnet gern und er hört gern zu, vor allem wenn seine Schwester ihm vorliest - Märchen. Sind die wenigen vorhandenen Bücher wieder mal durchgelesen, darf er Begriffe nennen: Turm etwa, Garten oder Flugzeug. Karin erzählt dann, ganz nach Art früherer Ammen, Selbsterdachtes und vergisst nicht, Requisiten aus seinem Märchenfundus mit einzubeziehen. Dabei gilt ein ungeschriebenes Gesetz: je nach Länge des Textes oder der Erzählung entlohnt der Vier- Fünfjährige seine große Schwester mit Schokoladeriegeln, Keksen, Bonbons oder Lakritze, denn Vater Friedrich schenkt Falko - "Ich war doch der Jüngste!" - nach längeren Dienstreisen, etwa zur Leipziger Submissionsmesse, die gesamte Kollektion der beiden Musterkoffer. So verfügt der Steppke über ein kleines "Warenlager" und wartet auf seine Schwester. "In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König ...!"
Der Schulbesuch rückt näher, da entdeckt man durch eine Röntgenreihenuntersuchung eine Rippenfellentzündung bei ihm. Das Erschrecken der Familie ist groß. Der Junge muss in ein Sanatorium nach Graal-Müritz; es heißt Abschiednehmen auf unbestimmte Zeit. Sie liegen zu zehnt auf einem Zimmer, teilweise wesentlich ältere Jungen mit Tuberkulose, alle schmerzfrei. Was macht man bloß den ganzen Tag? "Wir waren eine Horde schwer erziehbarer Patienten." Bei einer Zimmerschlacht betritt die Krankenschwester mit dem Tablett voller Medizinfläschchen den Raum, als sich sein Wurfgeschoß ("Mein neuer grüner Samtpantoffel mit Kordeln") gerade in der Luft befindet. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Er verbringt die Nacht in einer Einzelkammer auf dem Sanatoriumsdachboden. Zur "Sicherheit" wird er am Bettgestell festgeschnallt. Dann zieht ein Unwetter auf und entlädt sich mit Blitz und Donner über ihm. Sämtliche Schreckensgestalten der Märchenwelt sind auferstanden. Bei dem fürchterlichen Krach bekommt niemand seine Angst mit. Es bleibt nicht bei diesem einen Erlebnis. "Wenn ich bloß an die düsteren, langen Korridore denke!" Hinzu kommen im Laufe der Monate Einsamkeit und Heimweh. Besuch von zu Hause ist selten. Die Eltern finden kaum Gelegenheit zur langen Reise, am häufigsten macht sich seine Schwester auf den Weg.
Geheilt kommt er schließlich mit einjähriger Verzögerung zur Diesterweg-Schule -"lauter Frollein", holt mit Feuereifer das Versäumte auf, liest nach kurzer Zeit selbstständig und wird Mitglied der städtischen Bücherei. Obwohl einer der Jüngsten, fällt er bald durch die meisten Entleihstempel auf. Ein Bibliotheksgremium bittet ihn sogar zum Gespräch und erkundigt sich nach Lektürewünschen.
Karin hat inzwischen mit dem Studium begonnen. An die Stelle ihres Vorlesens sind Kinobesuche getreten. Sehr genau erinnert er sich des "Kleinen Muck". Als damals die geheimnisvolle Alte mit den vielen Katzen auftauchte ("Hexe!"), hat er fluchtartig das Kino verlassen. Seine überbordende Phantasie hat Schattenseiten.
Immerhin, einen der nächsten DEFA-Filme -"Das kalte Herz" nach Wilhelm Hauff mit dem großartigen Erwin Geschonnek - übersteht er in voller Länge. Erwähnt sei auch der Zeichentrickfilm "Die Schneekönigin" nach Hans Christian Andersen, den er Ende der 50er Jahre im Fernsehen sieht - bei Nachbarn, denn die Eltern schaffen sich erst Mitte der 60er einen Apparat an. Allmählich verliert sich der Einfluss der Märchen. "Königstochter jüngste, mach mir auf" wird von der "Reise um die Erde in 80 Tagen" und anderen phantastischen Romanen Jules Vernes verdrängt. Daneben bietet der Alltag genügend Abwechslung. 1963 darf er Hubert Rogge, den Vater einer Mitschülerin, nach Pasewalk zum Flugplatz begleiten; im Jahr darauf fliegt er zum ersten Mal mit. Die "Gesellschaft für Sport und Technik" ermöglicht ihm das Segelfliegen. Die Eindrücke sind unvergesslich und prägen noch Jahrzehnte später seine Landschaftsdarstellungen.
1966 wechselt er zur Kopernikus-Oberschule und beginnt gleichzeitig eine Lehre als Betriebsschlosser im "VEB Max Matern", wo er vor allem in der Formkastenschlosserei arbeitet.
Daneben zeichnet und malt er wieder mehr. Seine Zeichenlehrer Siegfried Wege, Hans-Joachim Althaber sowie der Fachberater am Kreiskulturhaus, Heinrich Scheffler, fördern ihn sehr. Wolfram Schubert, ein späterer Kollege und Freund, berät ihn in diesen Jahren beim figürlichen Zeichnen.
Nach dem Abitur im Juni 1970, zeitgleich mit dem Abschluss seiner Lehre, absolviert Behrendt ein Praktikum im Flughafen Berlin-Schönefeld, bevor er im November mit dem Studium an der Verkehrsoberschule Dresden beginnt: Fachrichtung Verkehrskybernetik. Nach kurzer Zeit wird ihm kommentarlos mitgeteilt, dass er das Studium mit dem gewünschten Abschluss "Pilot" nicht werde fortsetzen können.
Im Januar 1971 wechselt er zur Kunsthochschule Dresden. Herbert Kunze betreut ihn in der Kompositions- und Materiallehre; Gerhard Kettner, einer der wichtigsten zeitgenössischen Zeichner, im Grundstudium. Die anfängliche Begeisterung weicht bald einer gewissen Ernüchterung. Zu eng und einseitig läuft das Lehrprogramm in den ersten Jahren ab. "Ich bin doch kein Raumzeichner, konnte nie so' n Arm perspektivisch perfekt von vorn zeichnen. Hab' alles wie die Ägypter oder die Maler des Mittelalters in die Fläche drehen wollen. Das Freie kam erst bei Horlbeck, da hat es endlich wieder Spaß gemacht."
Seit Herbst 1972 ist er in der Graphikklasse bei Günter Horlbeck, der Behrendts wichtigster Lehrer wird. "Wir waren nur zu dritt in diesem Studienjahr in der Graphik, Gerd Mackensen, Helmut Wiesotzki und ich. Erneut hatten wir erfolglos mit dem Aktzeichnen begonnen. Da kam von Horlbeck die Anregung, uns doch mal Märchen zum Illustrieren auszusuchen, um offener und lockerer an Figuren heranzugehen." Behrendt wählt Philipp Otto Runges "Von den Fischer un syne Fru". Verschiedene Gründe mögen eine Rolle gespielt haben: Runge stammte aus Wolgast, nur wenige Kilometer von Torgelow entfernt, und hatte das Märchen in vorpommerscher Mundart, also dem vertrauten Plattdeutsch der Menschen von der Küste niedergeschrieben. Vielleicht reizt ihn aber auch der erhabene Ton des Märchens, die Maßlosigkeit der Fischersfrau oder die stoische Gleichgültigkeit des Fischers. Zunächst entstehen eine Reihe von Skizzen und Vorzeichnungen. Es geht ihm um das Geheimnisvolle, traumhaft Schwebende, Surreale, all das, was zum Märchen gehört. "Je phantastischer der literarische Hintergrund, desto größer die Chance für das neue Bild." Schließlich entsteht seine erste Kaltnadelradierung. "Da stolziert die Fischersfrau durch ihr Schloss und hat immer noch nicht genug; sie will werden wie der liebe Gott!" Es gibt nur wenige Abzüge des Blattes. Über Auflagen und ähnliches macht er sich noch keine Gedanken. Schablithographien folgen zu Brechts "Schneider von Ulm", dann farbige Linolschnitte. "Der Traum vom Fliegen"- die alte Flugleidenschaft spiegelt sich in seiner Druckgraphik wider.
1975 kehrt er nach Abschluss des Studiums in den Norden zurück, zunächst noch für ein Vierteljahr nach Torgelow, dann bezieht er eine Neubauwohnung in der Rudolf-Virchow-Straße 7 in Neubrandenburg. Die Arbeit als freischaffender Künstler beginnt mit dem Auftrag des Zentrums für Bildende Kunst, in Vorbereitung der 8. Kunstausstellung der DDR eine Mappe "Neubrandenburger Monatsbilder" zu schaffen. "Ich wollte alle Varianten an Farbradierungen ausprobieren" — seine Experimentierfreude im Bereich von Hoch-, Tief-, Färb- und Prägedruck ist groß, die Bildthemen sind eher zweitrangig. In der Rückschau fällt auf, dass sich Märchenblätter wie ein roter Faden durch sein Werk ziehen. 1976 druckt er ein Blatt, das nebeneinander drei kleinformatige Ätzradierungen zu "Der kleine Muck", "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen" und erneut "Von den Fischer un syne Fru" zeigt, betitelt die Dreierfolge aber nur lakonisch "Märchen". Stärker als vorher geht es ihm um die Gegenüberstellung einer großen Form und kleinteiliger Bildelemente. Vor allem aber erweitert er jetzt in den einfarbigen, in mehreren Stufen geätzten Aquatintaradierungen die Palette seiner Schwarz- und Grauvaleurs.
Es folgen in den nächsten beiden Jahren weitere Radierungen mit Märchenmotiven, die man konkret zuordnen könnte ("Die Bremer Stadtmusikanten", "Kalif Storch", "Das tapfere Schneiderlein"), doch begnügt sich Behrendt bei den Titeln konsequent mit "Märchen" und fügt jeweils eine römische Ziffer an. Bei "Märchen I" steht Dornröschen im Zentrum, umgeben von Schloss und Dornenhain, im Vordergrund der Prinz. Er will das Märchen nicht "illustrieren". "Es ist eine Ätzradierung, mit Kaltnadel zwei Jahre später überarbeitet (die gitterartige Struktur im linken Bildteil). Ich habe verschiedene Farbvarianten ausprobiert. Gedruckt wurde schließlich in einem geschwärzten Blau." Es geht ihm um handwerkliche Perfektion und märchenhafte Anklänge. Die Intentionen der großen Märchenillustratoren - Walter Crane, Arthur Rackham, Iwan Bilibin, Vilhelm Pedersen, Edmund Dulac, Ludwig Richter, Otto Ubbelohde und vieler mehr - sind ihm fremd. "Ich mach' keine Märchenbilder im Sinne von Illustrationen, sondern märchenhafte Bilder. Die Märchen sind Anlass, Anregung - so im Sinne Friedlaenders, alles sei nur Vorwand, um etwas Neues- nämlich Bilder zu schaffen. Es soll ja kein Märchenbuch entstehen, da müßte ich ständig die Textnähe berücksichtigen und an Seitenzahl und Satzspiegel denken."
"Märchen II" wird erneut angeregt durch "Von einem, der auszog ...". Auffällig die Form des großen Kopfes neben den kleinteiligen Staffagefiguren. "Ich habe vor allem an kleine Lichter im großen Dunkel gedacht." Es gibt nur wenige Probedrucke. Die Variante in neutralem Schwarz wird als kleine Auflage gedruckt.
"Märchen IV" - Aquatinta und Strichätzung, 1978 - geht auf Andersens "Das Feuerzeug" zurück. Deutlich erkennbar der Soldat mit dem Dreispitz und der König mit wallendem Bart und Krone. Rolf Ludwig ist Behrendt noch aus dem DEFA-Film als Soldat in Erinnerung. "Ein sehr guter Schauspieler. Hab' ihn mal als "Diener zweier Herren" im Deutschen Theater gesehen; liegt jetzt neben Niemeyer-Holstein auf Usedom begraben."
Lassen wir einen Augenblick die Märchen beiseite. Anregungen zu seinen Arbeiten hat Behrendt auch in anderer Form gefunden. Ähnlich wie Andersen ist er immer gern gereist. Begonnen hat es in der Schulzeit mit Zeltlagern auf Rügen oder in Löcknitz bei Pasewalk und Klassenfahrten, etwa nach Weimar und Buchenwald. Während des Kunststudiums führten Exkursionen zur Zinkhütte in Freiberg oder ins Stahlwerk von Riesa und von Dresden aus immer wieder ins nahe Prag. Mit der Rückkehr nach Neubrandenburg verlagern sich die Reiseziele. Bei einem mehrwöchigen Arbeitsaufenthalt lernt er 1976 Koszalin (Köslin), die Partnerstadt Neubrandenburgs, kennen und die Wanderdünen von Leba bei Danzig. Er besucht die Plakatbiennale in Warschau und die Graphikbiennale in Krakau, wohin er ein halbes dutzendmal zurückkehrt. Abi 982 ist er dort alle zwei Jahre auf den Biennalen mit eigenen Arbeiten vertreten. "Krakau war, wenn auch nur nach 17stündiger Bahnfahrt, leicht zu erreichen."
Er hat inzwischen Preise errungen; Museen kaufen seine Arbeiten an. Überraschend erhält er durch das Ministerium für Kultur das Angebot einer Libanonreise, eingeladen hat der Künstlerverband der PLO. Er tritt die vierwöchige Reise gemeinsam mit den Kollegen Bechtle, Bullmann, Heinze und Rechn im Juni 1979 an. Die Erlebnisse sind erschütternd: so viel Elend und Hoffnungslosigkeit im vom Bürgerkrieg zerstörten Beirut. Die Ruinen und die Lazarettbesuche sind nicht frei von der Faszination des Schreckens, die sich später in seinen düsteren, großformatigen Radierungen niederschlägt. Im Frühjahr 1981 fliegen die Fünf erneut nach Beirut, wo ihre Arbeiten in einer Galerie gezeigt werden. Im März des gleichen Jahres ist er in Wien, um die Figurendarstellung Alfred Hrdlickas zu studieren, den er mehrfach trifft und im Atelier besucht. Im September folgt eine Reise nach Razgrad in Bulgarien.
In Bezug auf die Märchen ist erst wieder eine Reise nach Mittelasien von Interesse, die er mit Kollegen im Spätherbst 1986 unternimmt: Tblissi, Erewan, Chiva, Samarkand, Schachrisjabs und Taschkent. Tief beeindrucken ihn die Oasen und die Grenzenlosigkeit der Nomadenbereiche in den Steppen und Wüsten. Staubbedeckte Sträucher und jahrhundertealte Maulbeerbäume, ein paar Schafe in der glühenden Hitze. Und dann die uralten Städte an der Seidenstraße mit ihren eindrucksvollen Moscheen und baufälligen Minaretten, die Innenhöfe mit den blauen Fliesen, der Farbe des Paradieses. Tamerlan lässt grüßen. Es war ein König von Samarkand, den Scheherazade 1001 Nacht lang mit ihren Märchen bezauberte ... Fotos und Skizzen führen drei Jahre später zur Farbradierung "Grüne Oase", einer "märchenhaften" Arbeit.
Im Sommer 1989 veranstaltet er mit Kollegen ein vierwöchiges Radier-Pleinair (Symposium) in der Nähe von Neubrandenburg. Gleichsam hinter den sieben Bergen liegt das Dorf Puchow sanft eingebettet in der Landschaft. Behrendt greift in seiner Arbeit auf das Material aus Mitte der 70er Jahre zurück und reichert diesen Fundus durch spontane Kritzeleien an. Im Zentrum einiger Arbeiten steht die Figur eines Mädchens mit Pappkrone, das die Künstler damals viel besuchte. Er nimmt das Thema im Anschluss an das Symposium noch einmal auf und überzeichnet mit Farbstift und Aquarell den Probeabzug einer großformatigen "Puchow"-Platte. 1990 wird diese Arbeit fortgesetzt. "Schloßbesichtigung" ist die Überarbeitung einer Radierung des Puchower Parks. Wie schon in den 70er Jahren verwendet er bereits benutzte Platten und überätzt sie unter Einbeziehung der vorhandenen Strukturen.
Nach einem halbjährigen Arbeitsaufenthalt im gleichen Jahr in Neumünster (Stipendium der Dr. Hans-Hoch-Stiftung) zieht Behrendt Ende Januar 1991 nach Lübeck. Er wohnt dicht an der Trave in der Altstadt in einer verwinkelten, kopfsteingepflasterten Straße. Die Umgebung scheint einer anderen Zeit anzugehören. "Es war einmal im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab ..." Er wählt in der Gouache "Schneewittchen" den Augenblick, in dem die Zwerge die Königstochter leblos auffinden. "Sie legten sie auf eine Bahre ... und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen." Die düstere Darstellung beschwört Fegefeuer und Höllenfahrt, erinnert aber auch daran, daß der Fährmann Charon einst die Seelen der Verstorbenen über den Acheron ins Totenreich brachte. Nach einem Kommentar befragt, antwortet Behrendt nur: "Das leuchtende Rot stand gut auf dem darunterliegenden Lithodruck."
Auf der "Art multiple 1992" in Düsseldorf, wo ihn das Kunsthaus Lübeck vertritt, wird er auf die Edition Grimm aus Magdeburg aufmerksam. "Von den ausgestellten Siebdrucken war ich begeistert. Den Stand betreute ein abweisend dreinblickender Herr. Es kam zu keinem Gespräch. Ein Jahr später wiederholte sich der Vorgang am selben Ort. Dann erschien, die Messe lief bereits einige Tage, am Stand des Kunsthauses der Herr mit dem mürrischen Gesicht, stellte sich als Kunstdrucker und Editeur Grimm vor und fragte mich, nachdem die abtastenden rhetorischen Anfangsgeplänkel überstanden waren, ob ich mir vorstellen könne, mit ihm zu arbeiten. Ich konnte. Der Drucker hatte die Wahl seines Graphikers getroffen!" Die ganze inhaltliche Bedeutung dieses Vorgangs erschloss sich beiden erst später ....
Im Sommer 1994 entstehen in der Magdeburger Werkstatt zwölf vielfarbige Siebdrucke für einen "Siebdruckkalender 1995". Der Name des Druckers legt es nahe, und bei Behrendt ist die alte Sympathie für Märchenthemen sofort wieder da: Wie wäre es mit einer Mappe zu "Grimms Märchen" im Siebdruck? Es wird an einer Reihe von mittleren Formaten gearbeitet, aber nur "Kleiner König" und "Kleine Königin" werden fertig und in einer Auflage von je 10 Exemplaren gedruckt. "Dem Grimm ist kein Aufwand zu viel, kein Experiment zu extrem, kein Arbeitstag zu lang. Bei beiden Blättern wurden jeweils mehr als 25 Farben eingesetzt, ein unerhörter Aufwand, denn 25 Farben heißt 25 Zeichnungen gleich 25 Siebe gleich 25 Druckvorgänge. Während des Siebdruckens ist so viel an Materialfragen, Gestaltungsproblemen und persönlichen Differenzen zu klären, dass sich der Entstehungsprozess der Blätter oft über Jahre hinzieht. Zwei Schränke in Magdeburg sind voll mit halb- und dreiviertelfertigen Blättern, vielleicht werden auch die mal abgeschlossen. Die Mappe "Grimms Märchen" wäre natürlich schön, aber ob ich das nervlich durchhalte?"
Rastlosigkeit und Arbeitsbesessenheit führen ihn nach Hamburg, wohin er im Sommer 1995 zieht. In der Werkstatt "Tinsdaler Steindruck" in Hamburg-Rissen druckt er Lithographien. Es entstehen auch hier märchenbezogene Blättern, u. a. "Kleine Meerjungfrau", "Hinter sieben Bergen" und "Jorinde und Joringel". Die seit seiner Kindheit gespeicherten Erinnerungsbilder bleiben das Material für zukünftige Arbeiten. Er verzichtet auf die Darstellung der Zauberin, die Jungfrauen in Vögel verwandelt. "Wohl siebentausend solcher Körbe mit so raren Vögeln" befinden sich in ihrem Schlosse. Das wäre ja auch eine Zeichnung wert gewesen. Behrendt wählt die Schlussszene. "Indem Joringel so zusah, merkte er, dass die Alte heimlich ein Körbchen mit einem Vogel wegnahm und damit nach der Türe ging. Flugs sprang er hinzu, berührte das Körbchen mit der Blume und auch das alte Weib: nun konnte sie nichts mehr zaubern, und Jorinde stand da, hatte ihn um den Hals gefasst, so schön wie sie ehemals war."
Zahlreiche Farbvarianten werden erprobt und Reihen mehrfarbiger Unikatdrucke hergestellt. Kurz vor Beendigung der Zusammenarbeit mit Dickus Heitmann und Felix Büttner entstehen 1998 die beiden großformatigen Lithographien "Du bist die Schönste im ganzen Land" (Schneewittchen) und "Sechse kommen durch die Welt". Nach vielen Probedrucken werden beide Blätter mit einem großflächigen, die Umrisse der Figuren genau bestimmenden Schlussstein beendet. Den Untergrund bilden verschiedene delikate Grautöne, zartes Gelb und reines Rot. Aus der Tiefe strahlen die leuchtenden Farben edel hervor.
Inzwischen hatte sich eine örtliche Verlagerung der Arbeit auf den Lithosteinen vollzogen.
Bereits 1992 hatte ihn die Edition Copenhagen zu einem ersten Aufenthalt in der eigenen Litho-Werkstatt eingeladen. Diesem folgten zahlreiche Wochen gemeinsamer Arbeit am Stein. Ab 1995 vertritt die Edition Behrendts Werk in Skandinavien.
1999 arbeitet er zwei Monate im Atelier Statens Vasrksteder for Kunst og Handvasrk im Gammel Dok nahe der Strandgade an einer langen Reihe von Gouachen zum Thema "Gärten und Häfen" Zur Ausstellung im Herbst 1999 erscheint ein aufwendiger Katalog. Zwei der letzten Abbildungen zeigen, was ihn nach wie vor beschäftigt: "Bellevue l", "Bellevue II". Beide Gouachen, überzeichnet mit Tusche bzw. Kohle und Kreide, sind H. C. A. gewidmet, also Hans Christian Andersen. Es sind figurenreiche Darstellungen am Strand des 0re-sunds nördlich von Kopenhagen, die sich durch surreal märchenhafte Leichtigkeit auszeichnen. Kindliche Experimentierfreude und künstlerische Erfindungslust durchdringen sich hier - ein graziöses Spiel zwischen Tiefe und Fläche, Geheimnis und Amüsement, Traum und Wirklichkeit.
Bald danach zeichnet er zwölf kleinformatige Märchenmotive des von ihm verehrten H. C. A. für den "Kalender 2002" der Edition Copenhagen auf die Kupferplatte. Das in der Kindheit gespeicherte Reservoir scheint unerschöpflich, - oder sollte man sagen, er habe sich die Phantasie seiner Kindheit bewahrt? Es ist aber auch eine immer wiederkehrende langwierige und harte Auseinandersetzung mit den bekannten Texten.
Im Jahr 2002 ist er erneut für längere Zeit in Kopenhagen, Die Bedingungen sind so wie vor drei Jahren, also ideal. Dass es sich bei den entstehenden großformatigen Arbeiten nicht um Märchenillustrationen handelt, geht schon aus den Titeln hervor: "Märchenerzähler", "Märchengarten", "Die Schatzinsel", "Kanälen". Ein Restaurant gleichen Namens existiert direkt neben seiner Wohnung genau wie einzelne Kopenhagener Türme und Architektureinsprengsel. Den Untergrund bildet der schwarzweiße Andruck einer früheren "Warnemünde"-Radierung, inzwischen vielfach übermalt und durch aufgeklebte breite Blaustreifen zur Collage geworden. Jetzt treffen sich Figuren, die als Rumpelstilzchen, Zwerg Nase oder Prinzessin auf der Erbse auszumachen sind. Es ist eine Mischung aus Erlebnis vor Ort und glückseliger Erinnerung. Eine Zentralperspektive, bei der die Fluchtlinien sich in einem Punkt hinter dem Bild treffen, gibt es nicht, eher könnte man bei ihm von der Bedeutungsperspektive sprechen: Wichtiges wird groß, Unbedeutendes klein. Aus dem Hintergrund aber leuchtet
- Abglanz einer sublimierten, höheren Wirklichkeit - die Gerechtigkeit und Wahrheit aller Märchen: die Letzten sind die Ersten, der Schwache siegt über den Starken, Armut schlägt in Reichtum um, der Schweinehirt wird König.
Text von Helmut Schumacher zum Katalog der Ausstellung „Märchenhaft“, Oktober 2002
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