„Manchmal will man gar nicht wissen, was es ist. Hauptsache, es ist trocken“, sagt Natascha Borowsky, während sie vom Bürgersteig in der Düsseldorfer Ackerstraße ein undefinierbares, bräunliches Stück offenbar organischen Materials aufhebt und in ein Papiertaschentuch einwickelt. Ein paar Schritte weiter in einem Café wird sie sich dann gründlich die Hände waschen.
Die Fotografin Natascha Borowsky, geboren 1964 in Düsseldorf, sammelt Objekte, die gemeinhin unterhalb der Nulllinie unseres tradierten Wertesystems taxiert werden: verrottendes organisches oder anorganisches Material von den Nichtorten und Randzonen der Zivilisation. Am Ufer des Rheins, im Wald, auf innerstädtischen Grünflächen oder eben auf dem Trottoir findet sie oft spröde, amorphe und bisweilen rätselhafte Dinge, die sie aufbewahrt, visuell erforscht und nach sehr individuellen Kriterien kategorisiert, um sie schließlich unter äußerst präzise definierten und konstanten Aufnahmebedingungen in ihrem Studio zu fotografieren. Das Endergebnis ihrer intensiven Beschäftigung mit den Fundstücken sind fotografische Inszenierungen und Erfassungen der Objekte vor oftmals intensiv farbigen Hintergründen und im stets gleichen Format von 50 auf 60 Zenitmeter.
Für den Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866-1929), dessen legendärer Mnemosyne-Atlas die moderne Bildwissenschaft begründete, bestand die Leistung der Kunstwerke im „Gewinnen von Klarheit aus dem Chaos, von Form aus diffuser Fülle“. Ein Weg, den Natascha Borowsky konsequent beschreitet: „Klarheit war mir immer wichtig, Klarheit in Form, in Material - im Sinne von Konzentration“.
Borowsky betreibt eine Art poetischer Restpostenbesichtigung, indem sie mit ihrer Kamera ein visuelles Formenrepertoire einkreist, das uns zwar alle umgibt, aber nur von den wenigsten von uns in Bezug auf seine formalen Qualitäten bewusst wahrgenommen wird. Vertrocknete Blätter, Pflanzenhalme, Fruchtstände, Baumrinden oder Ähnliches rücken einige ihrer Aufnahmen in die vermeintliche Nähe Karl Blossfeldts (1865-1932), dessen stark systematisierende schwarzweiße Pflanzenfotografie jedoch von den Objektivitätskriterien der Neuen Sachlichkeit geprägt war und weniger von subjektiv-individuellen Impulsen wie bei Natascha Borowsky. „Blossfeldt war am Anfang wichtig, jetzt distanziere ich mich zunehmend von ihm“, betont sie, nicht ohne zu erwähnen, dass sie angesichts einer Ausstellung im Kölner August Sander Archiv im Jahr 2001 die Arbeiten genau dieses Künstlers mit ihren eigenen konfrontierte.
Die Meisterschülerin von Bernd Becher einzig und allein innerhalb einer Ahnenreihe fotografierender Künstlerkollegen und Lehrer einordnen zu wollen, käme ohnehin einer zu starken Verkürzung und Vereinfachung gleich. Vielmehr sind allzu deutliche Bezüge und Parallelen zu denjenigen künstlerischen Strategien und Positionen offenbar, die unter Begriffen wie dem von Harald Szeemann anlässlich der Documenta 5 von 1972 geprägten Terminus „Individuelle Mythologien“ als „Versuche des Einzelnen, der großen Unordnung die eigene Ordnung gegenüberzusetzen“ oder vielleicht noch präziser als „Spurensicherung“ bekannt geworden sind. Der Pariser Kunstkritiker und Essayist Günther Metken bemerkt dazu: „An romantisches Finderglück à la Schliemann oder James George Frazer angelehnt, entwickelten die Künstler der Spurensicherung ihre Kulturtechniken, betrieben Feldforschung und Begehung von Terrains auf kleinstem Raum. Kaschiert hinter ärmlichen Spuren wie Putzbrocken, Kieseln, Federn, Spielzeugteilen, Unkraut, Scherben, die man als Indizienketten fotografisch festhielt, war es ein anthropologischer Ansatz.“
Borowskys künstlerischer Ansatz basiert auf dieser obsessiven Aneignung gefundener Objekte. Das Fotografieren ist daher nur ein Schritt am Ende eines langen Prozesses. So nutzte sie als Stipendiatin des Künstlerdorfes Schöppingen die Gelegenheit, ein großes Atelier in einer Scheune benutzen zu dürfen, um alle in der dortigen Umgebung gefundenen Gegenstände auf dem Boden auszubreiten. „Viele habe ich gesammelt, aber nicht alle fotografiert. Es war mir wichtig, die Gegenstände um mich zu haben, auf dem Boden ausgebreitet. Geordnet, aber nicht nach herkömmlichen Kriterien, sondern eher formal. Nach der Form, visuell bestimmt“, erläutert sie.
Wenn Natascha Borowsky ein Gegenstand ins Auge springt und sie ihn aufhebt und damit quasi isoliert und adelt, beginnt der Prozess der Aneignung und Zuordnung. „Jedes Ding kriegt seinen Ort und hat seinen Auftritt“, fasst sie den Akt des Fotografierens zusammen, dem eine intensive Suche nach dem passenden Hintergrund vorausgeht. Langes Experimentieren mit Lebensmitteln wie einfachen Teigen aus Wasser und Mehl oder auch mit Zuckerguss bildet hierbei die Grundlage. Eine Art Pudding als Hintergrund für einen verschrumpelten Champignonkopf gibt dem Ganzen eine nicht lesbare Identität. Gerne streut Natascha Borowsky noch Farbpigmente oder schlicht und einfach Currypulver oder Kräuter in die Masse, die etwa eine Stunde lang hält, während der die Fotografie entstehen muss. Die Becher-Schülerin arbeitet mit einer klassischen Großbildkamera, was ihr langsames Arbeiten, eine hohe Präzision und technisches Können abringt. „Ich finde es schön, dass es eine manuelle Arbeit ist, die Schritt für Schritt vor sich geht und eine hohe Konzentration erfordert“, kommentiert sie ihre Vorliebe für die analoge Technik. Dabei vermeidet sie jegliche Überinszenierung. „Mir geht es gar nicht darum, eine Werbeästhetik hinzukriegen.“ Natürliches Tageslicht, ein Tisch mit dem Gegenstand auf dem präparierten Hintergrund und eine gute Kamera reichen für eine typische Borowsky-Fotografie: klar und immer etwas rätselhaft.
Schon als Kind und Jugendliche entdeckte die Lehrerstochter auf zahlreichen Kunst- und Kulturreisen mit den Eltern ihre Vorliebe für Archäologie, Frühgeschichte und allerlei Fundstücke wie Knochen und Steine. Aber nicht nur der naturwissenschaftliche Zugang interessierte sie, sondern die Dinge an sich: „Ich sehe die Eigenarten der Gegenstände, die Formen der Natur und die vom Menschen neu geschaffenen Formen. Die Aufladung der Dinge mit Bedeutung wie bei einer Reliquie ist etwas, das mich sehr interessiert.“
In seiner Abhandlung „Das System der Dinge“ stellt der Soziologe, Medientheoretiker und Fotograf Jean Baudrillard folgende Überlegungen über die Reliquie an: „Die Reliquie bietet die Möglichkeit, die Person der Gottheit oder die Seele des Verstorbenen in ein Objekt einzuschließen. Ohne Schrein gibt es aber keine Reliquie. Die Kraft strömt von der Reliquie in den Schrein, der aus Gold sein muss, um den authentischen Wert zu bekräftigen, was seine symbolische Wirkung verdoppelt.“ Natascha Borowsky ist natürlich weit entfernt davon, goldene Schreine zu schaffen, aber dennoch setzt auch sie auf das Inszenierungsprinzip Heterogenität. Statt möglichst neutraler Hintergründe oder der Freistellung des Objekts dramatisiert sie ihre Fundstücke zusätzlich durch die Wahl ungewöhnlicher Fonds aus schwer dechiffrierbarer Materie und erzeugt so erst ein mal narrativ, mal auch ironisch aufgeladenes Spannungsverhältnis. „Es geht sehr viel um Material und Form. Die gefundenen Dinge haben oft keine markante Farbigkeit. Die stelle ich dann durch den Hintergrund her“, beschreibt sie diese kontrastierende Methode.
Besonders reizvoll findet Natascha Borowsky jene Gegenstände, die nicht als etwas Eindeutiges identifizierbar sind: Ein Büschel Schafwolle, eine verrottete, von der Natur zurückeroberte Plastikflasche, zusammengerollter, wirrer Kupferdraht, ein Grasbüschel, ein dreckiger Klumpen Styropor. Das Organische mischt sich mit dem Anorganischen, Natur mit Kultur, der Betrachter darf rätseln: Durch die Vergrößerung des Gegenstandes, durch das fotografische Erfassen und die Überführung in den Kunstkontext wird das banale, weggeworfene Objekt zurückerobert und nobilitiert. Ein Stück Zivilisationsmüll oder abgestorbene Natur werden zum Juwel. Dabei driftet Borowsky nie ins Blutrünstige oder geschmacklos Unappetitliche ab. Auch wenn sie einen abgehackten Hühnerfuß fotografiert, bewahrt sie stets die feine Balance zwischen Ekel und Ästhetik.
Als Becher-Schülerin ist Natascha Borowsky natürlich mit dem Begriff des Seriellen vertraut. „Für mich war immer klar, dass nicht das einzelne Bild im Vordergrund steht, sondern dass es einen Zusammenhang gibt: Sammeln, Ordnen, Hintergründe, Zuordnen, ein eigenes System schaffen, Kategorien finden.“ Auch die Gruppierung und Anordnung der einzelnen Fotos und das Reagieren auf die Räumlichkeiten von Ausstellungsorten sind für sie wichtig.
Als inspirierende Vorbilder nennt Borowsky etwa Eva Hesse, die der minimalistischen Kunst der Männerwelt in den 1960er Jahren weiche und organische Materialien entgegensetzte, die sie gerne in Vitrinen und Sammelschränken präsentierte. Ebenso bewundert sie die Konsequenz und Eigenständigkeit von Künstlerinnen wie Louise Bourgeois oder Agnes Martin, deren Zeitlosigkeit und das Fortschreiten auf dem einmal eingeschlagenen Weg, unabhängig von Erfolg und Misserfolg, sie beeindruckt. Bildhauer wie Tony Cragg, Land Art-Künstler wie Richard Long, Maler wie Ellsworth Kelly oder Goya und Fotografen wie Paul Strand stehen bei der Düsseldorfer Fotografin ebenfalls hoch im Kurs. Und nicht zuletzt Joseph Beuys, der sich in Bezug auf das zweckgerichtete Denken und das auch in der Kunst immer mehr um sich greifende Rentabilitätsprinzip einmal wünschte, dass „man ganz einfach mal zur Kenntnis nehmen würde, wie ein Künstler mit Material umgeht, mit Bearbeitungsvorgängen, mit Strategien, mit Erkundung“. Natascha Borowskys Arbeiten bieten da ideales Anschauungsmaterial.
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