| | Tausendarmiger Avalokiteshvara, Tibet, spätes 17. Jahrhundert | |
Die Luft wird zwar nicht dünner, aber man schnappt nach ihr wie in Tibet, wenn der Aufstieg über die hochstufige Prachttreppe in die Belletage der Villa Hügel geschafft ist. Abgedunkelte Säle, orientalischer Räuchergeruch und golden glänzende, spottartig inszenierte Exponate entführen den Besucher der Essener Ausstellung „Tibet - Klöster öffnen ihre Schatzkammern“ in eine magische, spirituelle Szenerie. Um den Eintretenden herum gruppieren sich im ersten Saal zehn lebensgroße Porträtplastiken. Aus dem Kloster Mindröl Ling stammen die feuervergoldeten Lehrmeister aus getriebenem Kupfer, die ins frühe 16. Jahrhundert datieren. Im religiösen Kult des Buddhismus verkörpern sie ranggleich mit dem wohl um 560 geborenen Königssohn Buddha die unverfälschte Weitergabe der Erleuchtung durch Meditation, mittels derer die Menschen aus dem ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt ausbrechen können.
Faszinierend an der Figurengruppe sind neben der Lebendigkeit und technischen Vollkommenheit die individuellen Züge der Plastiken, deren unterschiedliche Persönlichkeiten vortrefflich herausgearbeitet sind. Gerade die Mischungen aus indischen und chinesischen Stilelementen definieren neben regionalen stilistischen Erscheinungen das Typische der tibetisch-buddhistischen Kunst. Die „Meister der höchsten Erleuchtung“ sind Asketen. Fast ganz auf Bekleidung verzichtend, tragen sie lediglich Schmuckstücke wie Ohrringe, Brust- oder Gürtelschmuck und das über die Schulter geworfene Meditationsband. Das Lamdre-System ihrer Sakya-Schule vermittelt dem Schüler auf meditativem Weg die Stufe der Buddhaschaft.
Nach dem furiosen Auftakt durch die Lehrmeister tauchen die Betrachter in die Welt der buddhistischen Gottheiten ein. Gemäß dem Ordnungsprinzip des buddhistischen Glaubens aus „sechs Zufluchten“ ist jedem der „Zufluchtsobjekte“ ein eigener Raum gewidmet. Buddha, der Erwachte, ist in feuervergoldeten Statuengruppen und Figuren präsent. Unter den Kleinfiguren stellt eine Ausgabe in sitzender Form mit in sich gekehrten Blick aus dem Jahr 473 das älteste Stück der Schau dar. Farbintensiv gehaltene und klar aufgebaute Rollbilder zeigen Episoden aus dem Leben Buddhas.
Den Stupas ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Diesen glockenförmigen und mittels abgestufter Plattformen aufgebauten, grabhügelähnlichen Gebäuden für Reliquien kommt zugleich die Funktion eines Erinnerungsmals zu, in dessen inneren Kammern beschriftete Ziegel- und Kupferplatten aufbewahrt werden. Verkleinerte Nachbildungen als Motivmodelle aus Holz oder Kupfer verdeutlichen die diversen typologischen Ausprägungen.
Dharma, die buddhistische Lehre als Weg zur Befreiung vom Leiden, wird durch eindrucksvolle illustrierte Handschriften aus dem 11. bis 18. Jahrhundert nahe gebracht. Sangha, die Gemeinde der Mönche und Laien, brilliert durch Figuren den tausendarmigen Avalokiteshvara, dem Gott des Mitgefühls, der zugleich Schutzpatron von Tibet ist. Das tatkräftige Mitgefühl für alle Lebewesen, als deren Schutzheiliger und Retter er auftritt, demonstriert kein Exponat besser als das fragile, nur 53 Zentimeter hohe, elfköpfige Exemplar aus dem späten 17. Jahrhundert, der Höhepunkt der Schau. Die an Lebendigkeit und Vollkommenheit unübertreffbare Plastik besitzt 1.000 jeweils einzeln ausgearbeitete Arme, die sich zu beiden Seiten des Körpers in konzentrischen, halbrunden Kreisen wie aufgefächerte Flügel ausbreiten.
Neben den drei äußeren Zufluchtsobjekten Buddha, Dharma und Sangha gesellen sich drei innere Zufluchtsobjekte: Der Lama als ein dem Buddha gleicher Lehrer, Yidam, die Meditationsgottheit, sowie Dakinis und Dharmapalas, die Himmelswandlerinnen und Schutzgottheiten. Besonders hervorzuheben sind neben den aufwendig geschnitzten, wiederum feuervergoldeten Kultfiguren der Götter die lichtempfindlichen seidengestickten Textilarbeiten, allen voran die mit blaugrundigem Goldbrokat eingefasste Seiden-Thangka mit dem sechsarmigen Meditationsgott Yidam Guhyasamaja-Akshobhya aus dem 15. oder 16. Jahrhundert.
Der bekannteste und wohl auch faszinierendste Ausdruck tibetisch-buddhistischer Kultur ist das Mandala, eine geometrische Konstellation, in welcher der Kreis dominiert. Zu den in einem eigenen Saal konzentrierten, teils sehr unterschiedlichen Mandala-Formen, die dem Ritual und der meditativen Erfahrung mit dem Ziel der Überwindung des Kreislaufes der Wiedergeburten dienen, beeindrucken neben den Gouachen auf Baumwolle vor allem die vergoldeten Kupferplastiken in der Form aufklappbarer Lotosknospen, die im Inneren mit Gottheiten ausgefüllt sind.
Pracht, Macht und Einfluss der Herrscher und Klöster, die Verbindung von Politik und Religion spiegeln im angrenzenden Saal Insignien hoher Würdenträger, persönliche Kult- und Ritual- und Gebrauchsgegenstände wie Teeschalen, Thronroben, Reitzeug, Schreine, Altargeräte, Weiheutensilien, Tempeldekor, rituelle Musikinstrumente und Masken, Opferschalen, Gebetsmühlen, Wandbehänge bis hin zu Butterlampen, die allesamt den uns fremden den Alltag in den Palästen und Klöstern zu veranschaulichen helfen.
In Anlehnung an die fünf Buddha-Familien, fünf Himmelsrichtungen und fünf in Tibet allgegenwärtigen Farben der Gebetsfahnen, die im Wind flatternd Kraft, Glück und Segen zum Wohle aller hinaustragen, wurde die Schau in fünf mit Weiß, Blau, Gelb, Rot und Grün unterlegten Kapiteln gegliedert. Den Abschluss der fünf Kapitel bildet das der Farbe Grün zugeordnete Feld der tibetischen Heilkunde. Buddha gilt als Arzt und seine Lehre als Heilmittel. Die hier aufgehängten Rollbilder aus dem beginnenden 20. Jahrhundert, die zu den jüngsten Exponaten gehören, werden bis heute zur Ausbildung tibetischer Ärzte herangezogen.
Von den 150 Exponaten meist anonym gebliebener Künstler aus 1500 Jahren haben höchstens 20 jemals ihre Heimat verlassen. In verborgenen Schatzkammern mehrerer Klöster sowie dem Sommerpalast der Dalai Lamas und einem Zentralmuseum in Tibet wurde die Auswahl in vierjähriger Vorbereitungszeit aufgespürt und für kurze Zeit ihren kultischen Funktionen entrückt. Bislang unbekannt und unpubliziert, führt diese einmalige Ausstellung wahrlich Neues vor Augen, während bislang die Kenntnis tibetischer Kunst in erster Linie auf Stücken aus westlichen Privatsammlungen fundierte. Noch nie wurden religiöse Kultgegenstände aus verschiedenen tibetischen Klöstern in einer Ausstellung gezeigt. Die private und eng mit der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung verbundene Kulturstiftung Ruhr besaß die Möglichkeiten und Kontakte zur Überwindung aller diplomatischer und finanzieller Hürden. Sie finanzierte neben den nicht geringen Leihgebühren mehrere unumgängliche Exkursionen aufs „Dach der Welt“, deren Teilnehmer mit Sauerstoffflaschen ausgestattet die beschwerlichen Wegen zu den Klöstern zu bewältigen hatten. Nur so konnte Schritt für Schritt Überzeugungsarbeit geleistet und Vertrauen hergestellt werden.
Trotzdem versagten einige Klöster strikt eine Beteiligung. Weitere Einschränkungen mussten hingenommen werden. Der Wunsch des Kuratorenteams, einen Thron ausleihen zu können, blieb aus Gründen der rigorosen Vermeidung von Personenkult unerfüllt. Doch all dies schmälert nicht den sensationellen Charakter der Ausstellung, mit der ein neues Kapitel zur Erforschung und Pflege buddhistisch-tibetischer Kultur eingeleitet wird. Was bleibt, ist der mit 4,3 Kilogramm wahrlich gewichtige, 664 Seiten starke Katalog, in dem die katalogisierte Einzeldokumentation aller Objekte durch Essays renommierter Wissenschaftler aus aller Welt ergänzt wird. Dieses grundlegende Werk wird auf sehr lange Sicht durch kein gleichwertiges Ersetzt werden können.
Die Ausstellung „Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern” ist noch bis zum 26. November in der Villa Hügel zu besichtigen. Geöffnet ist täglich von 10 bis 19 Uhr, dienstags und freitags bis 21 Uhr. Der Eintritt beträgt 7,50 Euro, ermäßigt 5,50 Euro. Der Katalog zur Ausstellung kostet an der Kasse 30 Euro.
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