Im „Weltbild 1“ erscheinen die Figuren wie in prähistorischen Höhlenzeichnungen. Auf der gekrümmten Erdoberfläche treffen zwei Gruppen aus „Strichmännchen“ aufeinander, die sich in der Mitte bekriegen. Links bilden die an Maschinen hantierenden Arbeiter die Unterschicht, auf die zwei weitere Ebenen aufbauen. Alle sind Einzelgänger. Rechts stehen alle Menschen auf einer Stufe, arbeiten in Gruppen, halten ein System hoch. Es ist symbolisiert durch hammer- und sichelartige Gerätschaften: Die Bilder von A.R. Penck sind politisch engagierte Kunst. Sein 1961 entstandenes „Weltbild 1” ist das vereinfachte Abbild der Welt, so wie es der Maler zu Zeiten des Kalten Krieges empfand. In allen Gemälden Pencks, die derzeit in der Frankfurter Kunsthalle Schirn zu sehen sind, kommt die enge Verflechtung mit seiner persönlichen Biografie zum Ausdruck.
1939 wird A.R. Penck als Ralf Winkler in Dresden geboren. Schon früh eignet er sich in Volkshochschulkursen die Grundlagen der Malerei an. Landschaften, Stadtansichten und Porträts sind seine ersten Werke; daneben entstehen Holzschnitte. Winklers Bewerbungen an Akademien und Hochschulen bleiben ohne Erfolg. Autodidaktisch und in Abendkursen bildet er sich neben diversen Jobs weiter. Doch seine Werke werden als zu sehr vom Leben isoliert, als zu bürgerlich zerrissen, seine Begabung als verkümmert bezeichnet. Bereits 1962 darf er in der DDR nicht mehr öffentlich ausstellen. Im Westen dagegen verzeichnet er große Erfolge, nimmt an der venezianischen Biennale und der Documenta teil.
Winklers Malweise verändert sich stetig in Richtung einer starken Abstraktion. 1968 findet in Köln die erste große Einzelausstellung seiner Arbeiten statt. Gleichzeitig nimmt Winkler das Pseudonym A.R. Penck an in Bezugnahme auf den Geologen und Eiszeitforscher Albrecht Penck (1858-1945), während das R für seinen bürgerlichen Vornamen Ralf steht. Winkler will damit die forschende Funktion seiner Kunst unterstreichen und die Gesellschaftssysteme der BRD und DDR in einer als menschlich eiszeitlich kalt empfundenen Zeit analysieren.
Am Beginn der Retrospektive in der Schirn stellt eine Serie von Porträts den Künstler vor. Das Gesicht nimmt immer nahezu die gesamte Bildfläche ein. Die Formen sind stark vereinfacht, die Farben ausdrucksstark. Anhand weniger individueller Gesichtszüge bleibt die Person identifizierbar. Geheimnisvolle Zeichen schwirren um sie. Blutende Herzformen verweisen auf die Gefühlslage, Rechenschieber und Formeln auf die Beschäftigung mit der Logik. Aufgeladen durch Symbole wirken die simpel gehaltenen Bilder fast kindlich oder primitiv. Einfache Zeichen und Worte, schematische oder standardisierte Elemente, ja formelhafte Aufladungen ohne individuelle Züge stehen im konträren Gegensatz zu den staatlichen Vorgaben, glückliche Menschen, Volksnähe, realistische Motive unkompliziert auszuarbeiten.
A.R. Penck geht eigene Wege jenseits von traditioneller Kunst und sozialistischem Realismus. Seine Sache ist, abstrakte, tiefgründige Darstellungen zu verfassen. Die zweidimensionalen, reduzierten und anonymen „Strichmännchen“, Versatzstücke zwischen Figuration und Abstraktion, werden zu seinem Markenzeichen. Penck verknüpft sie in komplexen Kompositionen mit Allgemeinem und Individuellem zu zeitlosen Realitäten. Zusätzlich fließen in seine Malerei visuell-informative Sprachelemente technischer Steuerungs- und Reglungssignale mit ein, die im immer mehr automatisierten Leben in den 1960er Jahren Bedeutung gewinnen.
Über hohe Abstraktionsgerade und Systembegriffe experimentiert Penck und denkt über die Bildlogik nach. Der Bogen von primitiven Zeichnungen der Prähistorie zu modernen technoiden Symbolen, vom Urmenschen zur Computerwelt ist geschlagen. Gefühle, Botschaften, Zusammenhänge versucht er, über Zeichensysteme und Symbole mit Signalcharakter auszudrücken. Seine Kunst soll logisch, für alle nachvollziehbar und einfach sein. Die Bildflächen werden zu Systemen aus Wesentlichem und Übergreifendem. Aus allen existierenden Zeichensystemen, aus Verkehr, Politik, Technik, Religion kreiert Penck Zusammenhänge, die den Reiz seiner ungewöhnlichen Bilder ausmachen. So schematisiert und standardisiert werden die Bilder für jedermann verständlich und multiplizierbar, ein Anspruch, der eigentlich dem politischen System im Osten sehr nahe kommt.
Nach den „Weltbildern“ und „Symbolbildern“ ist es nicht mehr weit zu den „Standart-Bildern“, einer Form politischer Konzeptkunst aus benutzbaren, verständlichen Bildzeichen. Über die Reduktion des Bildes sollen Verhaltensweisen gesteuert und strukturiert, eine herrschaftsfreie Kommunikation intendiert sowie Diskussionen über Kunst angestoßen werden. Doch darüber hinaus weist Pencks Vokabular in eine weitaus vielschichtigere Welt. Daneben entwirft er „Standart-Modelle“: Bemalte und beschriftete Kartonplastiken, die in ihrer armen Ästhetik an Fluxus und Joseph Beuys denken lassen.
Unablässig untersucht, fragt und analysiert er, will aufklären unter minimalstem Aufwand, will objektivieren, systematisieren, versachlichen mit seiner eigenen Bild- und Wahrnehmungssprache, die er systematisch entwickelt und die im Laufe der Jahre deutlich aggressiver und expressiver wird, wie das 1974 entstandene Bild „Mike Hammers Geburt – Die Wurzeln des Faschismus“ eindrucksvoll offen legt. „Der Übergang“ von 1963 scheint schon fast zwangsläufig seine persönliche Entwicklung vorwegzunehmen. Über einen brennenden Balken wechselt mit flügelartig ausgebreiteten Armen ein Mann ohne individuelle Züge auf die westliche Seite – ein hochgefährlicher Balanceakt, das Leben eines Künstlers eben. 1980 geht A.R. Penck in den Westen.
Mit seiner Ausbürgerung aus der DDR geht ein stilistischer Wandel zu stärkerer Farbigkeit und Räumlichkeit einher. Elemente der Angst, der Unruhe, aber auch der Romantik sind verschwunden. Die neuen vielfältigen Eindrücke der westlichen Welt samt ferner Reisen werden in großformatigen Werken verarbeitet. Im „Dschungel“ des Westens muss sich Penck erst neu orientieren, während die östliche Wüste zwar dürr, aber übersichtlich erschien. Seine Bilder erzielen nicht mehr die Wirkung, erscheinen nicht mehr so klar, wichtig oder lebensnah wie früher. Systeme sind weggefallen, seine Systemanalysen funktionieren nicht mehr.
Mit dem drei mal zehn Meter großen Opus „Quo vadis Germania“ sprengt A.R. Penck 1984 alle Maßstäbe. Rätselhafte Wesen und Zeichen sind mit dicken, kraftvollen Strichen aufgetragen. Wie auf einem Schlachtfeld treffen alle seine Symbole zusammen, versehen mit Blutspuren. 1989 übernimmt Penck eine Professur in Düsseldorf. Seit seiner Emeritierung im Jahr 2003 lebt er in Dublin. Die nach 20 Jahren erste große, von der Schirn ausgerichtete Überblicksausstellung präsentiert neben den rund 130 großformatigen Gemälden, Skulpturen und Objekten zusätzlich etwa 70 Künstlerbücher, die auch den Sprachkünstler und Zeichner in umfassender Weise vorstellen.
Die Ausstellung „A.R. Penck Retrospektive“ ist noch bis zum 16. September zu sehen. Die Schirn Kunsthalle hat dienstags und freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 8 Euro, ermäßigt 6 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der an der Museumskasse 34 Euro kostet.
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