Recht einladend präsentiert sich die junge Frau dem Betrachter: Nicht nur der über die Schulter geworfene Blick fordert regelrecht dazu auf, sich ihr zu nähern, auch die durch den schwarz gepunkteten Tüll mehr entblößte als verhüllte Rückenpartie der Dame macht einen alles andere als verschlossenen Eindruck. Lässig hat sie eine leicht schimmernde Federboa über ihre Schulter gelegt, ebenso lässig verdeckt das herabfallende Haupthaar ihres frechen Bubikopf-Haarschnitts die linke Gesichtshälfte. Eine Personifikation des freizügigen, feierlustigen Berlin der Zwischenkriegszeit ist dieses Halbfigurenbildnis, gemalt von einem, der damals mittendrin stand: Georg Tappert schuf dieses Ölbild um 1931 mit dem für ihn charakteristischen raschen, sicheren Pinselstrich und kontrastreicher Farbigkeit. Gut achtzig Jahre später ist das Gemälde eines der Hauptlose der Versteigerung moderner und zeitgenössischer Kunst bei Irene Lehr in Berlin: 50.000 Euro soll die junge Dame mit der Federboa dem nicht näher bezeichneten Einlieferer einbringen.
In dieser Größenordnung hat die wie gewohnt beachtlich bestückte Auktion am 27. Oktober noch weitere Exemplare zu bieten. So beispielsweise Auguste Herbins „Nature Morte à la Cuvette“ aus dem Jahr 1909, ein typisches Frühwerk des Franzosen, allerdings schon mit einer leichten Andeutung kubistischer Elemente – kein Wunder: Kurz zuvor hatte Herbin Georges Braque, Juan Gris und Picasso kennengelernt (Taxe 80.000 EUR). Ein weiteres Hauptwerk sind Emil Noldes „Tiefe träumende Blumen“, die des Künstlers großartiges Talent für suggestivste Wirkungen von Malereien in Aquarell und Gouache demonstrieren (Taxe 75.000 EUR). Flechtheim-Provenienz bringt Karl Hofers „Tessiner Bauer“ aus dem Jahr 1925 mit, der etwas abwesend, den Hut noch auf dem Haupt, auf seinem Stuhl sitzt und am Betrachter vorbeischaut (Taxe 60.000 EUR).
Mit 26.000 Euro etwas günstiger kommt man an einen „Anfahrenden Schnellzug“ aus dem Jahr 1909. Schon der Titel des Bildes verweist auf den gebürtigen Schlesier Hans Baluschek, nicht minder die dämmerdunkle und doch zugleich haptische Farbigkeit, aus der die Lichter der Lok wie Augen eines Monstrums hervorleuchten. Das Gemälde ist eines der wenigen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Lesser Urys duftiges Pastell „Märkischer Waldsee“ mit abendlich beleuchteter Baumgruppe von circa 1900/10 für 20.000 Euro und Franz von Stucks wohl aus etwa der gleichen Zeit stammende skizzenhafte „Quelle des Lebens“ mit männlicher und weiblicher Aktfigur an einem Brunnen für 12.000 Euro deuten auf die vielen Kunstströmungen in Deutschland zu Beginn des 20sten Jahrhunderts hin. Für ein „vornehmes Empfangs-Zimmer für ein Haus in Leipzig“ des Schriftgießereibesitzers Georg Giesecke schuf der norddeutsche Jugendstilkünstler und -designer Hans Christiansen 1901/02 den Entwurf eines dreiteiligen Wandgemäldes mit allerlei mythischem Personal großteils im Adamskostüm. Zur Ausführung gelangte dieser Entwurf, der jetzt für 8.000 Euro zur Disposition steht, allerdings nicht.
In den unteren Preisrängen beeindrucken ferner Werke der Zwischenkriegszeit wie Herbert Behrens-Hangelers in überwiegend streifenartig strukturierte Farbflächen zerlegte „Erscheinung“ einer baumbestandenen Landschaft von 1923 (Taxe 9.000 EUR), Erwin Hahs’ erdige, abstrakte Komposition „Dynamik“ von 1931 (Taxe 3.500 EUR) oder auch Rudolf Kasters „Paar in Abendgarderobe“, ein nicht gerade optimistisch wirkendes Ölbild aus dem Jahr 1942, für bescheidene 750 Euro. Diesen Ausgrabungen weitgehend unbekannter Künstler stehen auch einige bekanntere Namen zur Seite, etwa Gustav Wunderwald, unverwechselbar an der ziemlich weitgehenden Stilisierung seiner Herbstlandschaft mit „Gelber Kastanie“ um 1920 (Taxe 9.000 EUR), oder Albert Wigand. Dessen „Sedanfassade (Coiffeur pour Dames A. Laurichesse)“ von circa 1965 ist allerdings keine Unbekannte: Vor einem Jahr unter dem Titel „Häuserfassaden bei Nacht“ bei Van Ham in Köln an 15.000 bis 20.000 Euro gescheitert, versucht es Irene Lehr mit der farbigen Mischtechnik nun dennoch mit der oberen Grenze der damaligen Schätzung.
Als Meisterwerke der Neuen Sachlichkeit verdienen Franz Lenks relativ späte, in wässrigen Farben gemalte „Bergkapelle bei Dornbirn im Bregenzer Wald“ von 1953 (Taxe 7.000 EUR), drei Stillleben mit Blumen und Früchten von Erich Lindenau aus den 1930er und 1940er Jahren für bis zu 1.400 Euro und Herbert Böttger eine Hervorhebung. Besonders seine Feldblumen in einer Glasvase mit Fliege und Falter von 1944 sind von einer fast pedantischen Exaktheit, die selbst die alten Niederländer noch übertrifft (Taxe 4.000 EUR). Aus der sozialkritischen Richtung treten Rudolf Schlichter mit seiner karikierenden Zeichnung mehrer Männer beim „Viehmarkt“ aus den 1920er Jahren (Taxe 3.500 EUR) und Grete Hart mit dem etwa gleichaltrigen erschütternden Ölgemälde „Trauernde Mutter“ mit ihrem toten Kind auf dem Bett hinzu (Taxe 2.000 EUR). Mit der Moderne traten zunehmend auch Frauen als künstlerisch eigenständige Persönlichkeiten in Erscheinung. Darauf deuten im Katalog etwa Elena Liessner-Blomberg und ihr zartes Aquarell eines Blumenstilllebens von 1924/25 (Taxe 500 EUR), ihre Berliner Kollegin Maria Slavona mit einer impressionistischen Gartenstadt für 1.500 Euro sowie die Stuttgarterin Luise Deicher und ihr kräftiges Stillleben mit Teekanne von 1914 hin (Taxe 1.200 EUR).
Die Liste der deutschen Künstler aus der ersten Jahrhunderthälfte, die zu Unrecht vergessen wurden, hat Irene Lehr etwa noch mit Paul Grunwaldts farblich zu kräftigem Grün verfremdetem Aquarell „Ruderer in der Brandung“ von 1922 (Taxe 450 EUR), Kurt Haase-Jastrows expressivem, gelb-grünem Ölgemälde „Tümpel im Walde II“ von 1921 (Taxe 3.000 EUR), Erich Krauses koloristisch aufgewühltem Selbstbildnis von 1914 (Taxe 900 EUR) oder mit Willi Maillards kompakten Farbflächen in dem um 1911 entstandenen Werk „Blaues Haus mit Türmchen“ bestückt (Taxe 4.000 EUR). Seinen expressionistischen Anfängen folgte Otto Beyer 1945 in gemäßigten Formen in seinen „Fischerbooten am Strand“ (Taxe 1.000 EUR). Zwischendurch gibt es einige auch internationale Berühmtheiten wie Erich Heckel mit einer aquarellierten Landschaft „Am See“ von 1953 (Taxe 7.000 EUR), Pablo Picassos sparsame, klassizistische Kaltnadelradierung „Les trois amies“ von 1927 für 10.000 Euro oder Kees van Dongens schnell skizziertes Bildnis einer jungen Frau mit Hut in blauem Farbstift auf Papier für 5.000 Euro. Für das späte Schaffen Otto Dix’ steht die 1954 datierte Farblithografie „Hemmenhofen“, kraftvoll wie ein Holzschnitt gestaltet und ausschließlich in Gelb und Rot eingefärbt (Taxe 9.000 EUR).
Mit einer „Abstraktion I“ versuchte sich Rudolf Ausleger 1962/67 in Form kantiger bunter Farbflächen, die sich wie Papiere übereinander zu legen scheinen (Taxe 4.000 EUR). Freude an den freien Formen hat auch Hannah Höch, und das in allen Phasen ihres künstlerischen Schaffens: 1928 bannte sie in Aquarell und Gouache „Die schweren, roten Blüten“ mit dynamischen Impetus auf Karton (Taxe 3.600 EUR), 35 Jahre später war es eine „Abraum-Halde“, die als Motiv für eine Fotocollage über Aquarell diente (Taxe 6.000 EUR). In die frühe Ungegenständlichkeit weist zudem Rudolf Bauers Aquarell schwebender Farbflächen von 1915 (Taxe 2.500 EUR), in die späte Herbert Bayers zeichenhafte Deckfarbenarbeit „Nocturnal with N (Studie)“ von 1979 (Taxe 1.800 EUR) und Karl Hagedorns genau abgezirkelte, technoide „Equipoise on red“ von 1982 (Taxe 1.000 EUR). Teuer wird es in diesem Metier mit Karl Otto Götz’ „Anta“, einer mit großer Geste auf mittelgroße Leinwand geworfenen Mischtechnik des Jahres 1962. Hier stehen 25.000 Euro auf dem Etikett. Wilder noch geht es bei Fred Thieler zu: Scheinbar unkontrolliert sind in den Nummern „M I/78“ und „A/12/61“ die Farben auf die Leinwand geworfen (Taxen 10.000 und 5.000 EUR).
Lehrs Stammgast Hermann Glöckner steuert das „Bruchstück 55“ bei: Tempera, Lack, Mörtel und Strohstoff fanden in dieser 1955 entstandenen, erdverbundenen Mischtechnik Verwendung (Taxe 12.000 EUR). Zu den bedeutendsten Künstlern der DDR gehört einmal mehr Gerhard Altenbourg. Aus den knapp drei Dutzend Papierarbeiten ragt besonders die halb ernste, halb augenzwinkernde Tempera-Aquarell-Mischtechnik „Auch etwas zur Ikonographie des Stillebens“ aus dem Jahr 1968 für 15.000 Euro heraus. Wolfgang Mattheuer beeindruckt als Grafiker und Zeichner etwa mit seiner Farbkreidearbeit „Der Nachbar will fliegen“ von 1983, bei der das Surreale Einzug in den Alltag hält (Taxe 8.000 EUR). Bei den klassischen Skulpturen dominiert Figürliches: Gustav Seitz’ „Stehende“ von 1956 in klassischer Schritthaltung (Taxe 9.000 EUR), Fritz Cremers kniender Männerakt „Der Geschlagene“ von 1949 (Taxe 3.000 EUR) oder Fritz Klimschs ruhend am Boden lagernder Frauenakt „Siesta“ auf Basis einer Skulptur von 1924 für 4.000 Euro.
Die Reihe der Werke lebender Künstler führen Georg Baselitz’ Grafitzeichnung eines Baumfragments aus der Serie „Pastorale“ von 1985 (Taxe 10.000 EUR) und Bernd Zimmers schöne Farblandschaft „Mitsommer, Onega“ von 2004 für 12.000 Euro an. Neoexpressiv gibt sich Lambert Maria Wintersbergers „Faun – karibisch I“ in auffallenden Grüntönen von 1992 (Taxe 8.000 EUR). Via Lewandowsky hat sein Triptychon „Der epileptische Schwimmer“ von 1999 grafisch wie Illustrationen aus einem alten Lehrbuch gemalt (Taxe 4.000 EUR). Bekannt für seine Spiegelskulpturen ist der 1934 in Köln geborene Victor Bonato. Ein solches Objekt, „KX-IX-Fx 2/68“ betitelt und datiert, gelangt jetzt für 4.000 Euro zum Aufruf. Zu den originellsten dreidimensionalen Arbeiten gehört Jiri Hilmars „Obsah 027/1971“: Eine Unzahl regelmäßig applizierter Kartonelemente sind so in Schwarz und Blau bemalt, dass sich aus dem Dickicht immer wiederkehrender Formen ein Karo herausschält. Für Hilmar sind Werke wie dieses unverwechselbar, doch Irene Lehr ist eine der wenigen regelmäßigen Anbieter im deutschsprachigen Raum. Diesmal werden 8.000 Euro erwartet.
Die Auktion beginnt am 27. Oktober um 13 Uhr im Hotel Excelsior in Berlin. Die Vorbesichtigung läuft bis zum 25. Oktober täglich von 12 bis 19 Uhr in den Räumen des Auktionshauses. Der Online-Katalog unter www.lehr-kunstauktionen.de bildet alle Objekte ab. |