Auch wenn man es seinen aus vielen Elementen bestehenden Arbeiten nicht unbedingt auf den ersten Blick ansieht: Das Werk des Hamburger Künstlers Dirk Stewen, Jahrgang 1972, hat sich aus dem Medium Fotografie heraus entwickelt. Besser gesagt, aus dem fotografischen Denken heraus. Fotos macht Dirk Stewen auch heute noch fast täglich en passant auf seinen Streifzügen durch Hamburg, Amsterdam, London oder andere Orte. Jede Fotografie, die er in seiner Arbeit verwendet, hat er selbst gemacht. Oft sind es eher unspektakulär wirkende Aufnahmen, beiläufige Momente, kleine Beobachtungen am Rande. Dirk Stewen arbeitet meist in analoger Technik, lehnt die digitale Fotografie jedoch keineswegs dogmatisch ab. „Es ist nicht das eine besser oder schlechter als das andere“, sagt er. „Es ist eben eine andere Arbeitsweise.“ Sicher ist das Nebeneinander der beiden Methoden – die Verfügbarkeit von tradierten Fototechniken, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit der digitalen Bildbearbeitung – charakteristisch für unsere Zeit.
Dirk Stewen studierte an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg Fotografie. Er experimentierte im Schwarz-Weiß-Labor mit vielen klassischen Techniken vom Barytabzug bis zum Fotogramm. Prägend für ihn war jedoch vor allem die Zeit während der Gastprofessur von Wolfgang Tillmans. Die Farbfotografie wurde an der Akademie plötzlich als gleichwertig angesehen. Das Medium Fotografie wurde unter konzeptuellen Gesichtspunkten neu betrachtet und auf seine Materialeigenschaften hin untersucht.
Dirk Stewen misstraut dem heroischen, perfekt abgezogenen und im Rahmen abgeschotteten Einzelbild. Für ihn ist eine Fotografie vielmehr ein Material unter anderen. Häufig verwendet er eigene Fotos als Ausgangspunkt für komponierte Ensembles: Komplexe Arrangements, die auch Zeichnungen, Aquarelle, gefundene Papiere und Texte enthalten können. Seine Arbeiten werden in einem langen Prozess konzeptuell durchkomponiert. Er benutzt dabei verschiedene, in seinem Werk immer wiederkehrende Materialien, die er in seinem Atelier in der Hamburger Innenstadt aufbewahrt: Fotopapiere, eigene Aquarelle, übermalte Filmplakate, andere Drucksachen und vor allem in letzter Zeit antiquarisch erworbene Mappen mit Reproduktionen von populären Meisterwerken der Malerei. Diese Mappen stammen überwiegend aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um ein Distributionsmedium, das zwischen Massenware und elitärem Zeitvertreib changiert. Die schon leicht vergilbten Mappen bestehen aus Abbildungen, Bildtiteln und kurzen erklärenden Texten.
Dirk Stewen, der ein sensibler Beobachter mit ausgeprägtem Sinn für feine Bedeutungsverschiebungen ist, fiel auf, dass sich in den Bilderklärungen, Übersetzungen und Titeln des Öfteren kleine Fehler eingeschlichen haben. Diese Verschiebungen, die oft neue, überraschende Sinnzusammenhänge ergeben, nimmt er häufig zum Ausgangspunkt für seine „Ensembles“. Mit großer Präzision und in Form sinnlicher Kompositionen stellt Stewen neue Bedeutungszusammenhänge her. Fast spielerisch lenkt er dabei den Blick des Betrachters. Seine Arbeiten strahlen bei aller konzeptuellen Strenge auch Leichtigkeit und Transparenz aus.
Die Produktion der Arbeiten ist für Dirk Stewen ein langwieriger Prozess. Es dauert einige Zeit, bis sich die einzelnen Elemente zu einem Ganzen zusammenfügen. Die Dimension Zeit hat für sein Werk zentrale Bedeutung. Der allgemeinen Auffassung eines einfach nach vorne gerichteten Zeitpfeils setzt er individuelle Parameter von Zeit und zeitlichem Erleben entgegen. Stewen springt, indem er Fundstücke, aber auch autobiographisch besetzte ältere Materialien in aktuelle Werke überführt, zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. So verunklart er seine eigene Zeitgenossenschaft, was bei manchen Betrachtern zu der irrigen Annahme führt, seine Werke entstammten tatsächlich einer weit zurückliegenden Epoche. In palimpsestartigen Schichtungen verschafft er unterschiedlichen Materialien, die zuvor in seinem Archiv allein für ihn zugänglich waren, partielle Sichtbarkeit für den Betrachter.
Indem er diese Materialschichtungen aber durch ihre hermetische Rahmung irreversibel versiegelt, nimmt er die einzelnen Elemente in gewissem Sinne auch aus der Welt. Stewen betreibt so eine fein ausbalancierte Dialektik des Präsentierens und Verbergens. Während in der Archäologie oder in der Psychoanalyse Verschüttetes freigelegt wird, beschreitet Stewen genau den umgekehrten Weg: Seine Ästhetik des Partiellen und Fragmentarischen fördert zwar verborgene Dinge zu Tage und stellt sie auf den ersten Blick sogar wie Reliquien oder Memento Mori aus. Gleichzeitig bedient sie sich aber auch der Stilmittel des Verschüttens und Verbergens: Fotografien verschwimmen hinter Pergamentpapier, und was auf der untersten Ebene seiner Schichtungen liegt oder von schwarzer Tinte unumkehrbar eingefärbt ist, gibt sein Geheimnis so schnell nicht wieder preis. So entsteht neben aller formalen Eleganz immer auch eine Aura des Magischen und Alchemistischen. Ihn interessiert nicht das tagesaktuelle Geschehen, sondern vielmehr, „was in 12 oder 24 Jahren sein wird“.
Dennoch lassen sich Stewens Arbeiten durchaus auch politisch deuten. Selbst wenn er keinen tagesaktuellen Kommentar abgibt, entwickelt er in seinen Arbeiten einen sensiblen Gegenkosmos, eine Art alternative Ordnung, die sich der allseits propagierten Fortschrittsrhetorik der Werbe- und Konsumwelt wirksam entzieht. Seine Verwendung von alten, oft stark holzhaltigen Papieren mit Licht- und Gebrauchsspuren könnte man als nostalgisch bezeichnen. Dirk Stewen selbst betrachtet solche „apokalyptischen“ Elemente als abgeschlossen. Er blickt lieber gelassen zurück, „als in der Hitze des Neuen zu agieren“.
Eine wichtige Werkgruppe sind die „Konfetti-Arbeiten“, die auf dunklem und auf hellem Papier entstehen. Die dunklen sind nicht durchnummeriert, die hellen dagegen werden mit „Untitled (Soft Corps)“ betitelt und mit einer Nummerfolge versehen. Ausgangsmaterial für die dunklen „Konfetti-Arbeiten“ ist großformatiges Fotopapier für Farbfilme. Dirk Stewen entnimmt es der Packung, setzt es dem Tageslicht aus und färbt es in mehreren Arbeitsgängen mit schwarzer Tusche ein. Hier beginnt ein längerer, nicht bis ins letzte Detail kontrollierbarer Arbeitsprozess, denn die Tusche muss trocknen, bevor weitergearbeitet werden kann. Das Ergebnis ist ein organisch wirkendes, farblich changierendes Material.
In der nächsten Phase wird das Papier dann behutsam geknickt, brutal durchstochen und mit Nähten versehen. Mit Fäden fixiert Dirk Stewen an großformatiges Konfetti erinnernde, ausgeschnittene Kreise in verschiedenen Durchmessern auf dem durchgefärbten Papier, teilweise übereinandergelagert. Diese Papierkreise stellt er selbst her. Er verwendet dafür ausschließlich Materialien aus seinem Atelier: Aquarelle, Fotos, Plakate, in den Schubladen liegende Drucksachen. Auch hier kommt seine Recyclingliebe zum Vorschein. Jeweils neun Fotopapiere setzt er zu einer Fläche zusammen. Die Konfetti-Kreise sind mit teils schwarz bemalten, teils farbig durchscheinenden Fäden auf das Papier genäht. Überschüssiges Fadenmaterial hängt aus dem Bild heraus. Das Konfetti und die Fäden verleihen den Arbeiten eine karnevaleske Heiterkeit und Leichtigkeit, die durchaus auch biografisch zu lesen ist. Dirk Stewen wurde im westfälischen Dortmund geboren, wo der Karneval eine große Rolle spielt. Gleichzeitig rufen die herabhängenden Fäden aber auch Assoziationen hervor, die an organische Zersetzungs- und Auflösungsprozesse erinnern. Stewens visuelle Ordnungen, die Sternbildern oder Kartographien ähneln, entpuppen sich so als aus dem Gleichgewicht geratene Systeme.
Die „Untitled (Soft Corps)“ entstehen nach einem ähnlichen Prinzip. Bildträger für die aufgenähten Konfetti-Kreise sind hier jedoch die bereits erwähnten antiquarischen Blätter aus den Reproduktionsmappen. Hier fallen Textelemente, Bildtitel, Jahres- und Ortsangaben zu den reproduzierten Kunstwerken ins Auge und ergeben neue Sinnzusammenhänge. Dirk Stewen verwendet nur die betexteten Blätter, die Reproduktionen selbst werden entfernt und wandern ins Archiv, so etwa in dem Ensemble „untitled, Hamburg 2011 (Portrait of a Young Man)“. Grundlage ist hier ein leeres Blatt mit dem Titel des Bildes „Portrait of a Young Man“ von Michelangelo aus dem Jahr 1658. Das darauf fixierte Papierelement fand Dirk Stewen in der Schublade seines Archivschrankes zufällig auf dem Blatt liegend. Er fügte dann noch eine neue Komponente aus Gouache, Gesso und Tusche hinzu. Durch Ritzen, Kratzen, Auslöschen und Addieren entsteht so ein geheimnisvolles, mysteriöses Gegengewicht zum Bildtitel: ein gültiges Porträt, das den Zorn in Zeitlupe abbildet. Ein gelungener Balanceakt zwischen Magie und Mystik.
Alle Arbeiten von Dirk Stewen verharren in einer Art Schwebezustand. Das Equilibrium erreicht er fast spielerisch. Dekorative Elemente wie Luftschlangen, die horizontal und vertikal platziert werden und nicht in den üblichen Partyfarben daherkommen, sondern ausschließlich schwarz sind, kombiniert Stewen in einigen Fällen mit schwarz lackierten Vierkanthölzern. Diese lehnen dann locker an der Wand, teilweise werden sie aber auch waagerecht zusammen mit anderen Elementen fest an der Wand fixiert oder flankieren, schräg montiert und in Kombination mit einem glänzenden Metallring, Stewens Ensembles. Sie sind Teil der Arbeit und geben ihr auch mit ihrem Schattenwurf eine zusätzliche Präsenz im Raum. Der räumliche Effekt wird mit wenigen Mitteln erreicht. Gleichzeitig wird eine ambivalente Aufladung erzielt: Die Stäbe mit ihren genormten Industriemaßen können als Maßstäbe, Disziplinierungsmittel, Zeigestöcke oder auch Ausrufezeichen relativ autoritär gedeutet werden. Neben dieser, eine gewisse Strenge implizierenden Lesart, die sich gleichzeitig ironisiert, werden aber auch Bezüge zu Themenfeldern wie Magie, Zauberei und Märchen aufgerufen.
Ein weiteres Element, das gelegentlich in den Arbeiten Dirk Stewens auftaucht, sind selbst genähte Handschuhe. Auch hier liegt eine autobiografische Lesart nahe. Die Hände sind für den Künstler das wichtigste Instrument. Er arbeitet mit ihnen, er blickt beim Tuschen, Aquarellieren, Schneiden oder Nähen ständig auf sie. Stewen wählt beim Nähen der feminin und elegant wirkenden Handschuhe einen bewusst einfachen Weg: Er zeichnet den Umriss seiner eigenen Hand, schneidet die entstehende Form aus Baumwolle aus, näht sie zusammen und stülpt sie um. So entsteht eine erotisch-feminin wirkende, zierliche Handform. Erotik spielt im Werk von Dirk Stewen eine unterschwellige Rolle. Die blässlichen Papiere der Reproduktionsmappen wecken Assoziationen zur Oberfläche menschlicher Haut. In einigen Arbeiten taucht Sexspielzeug auf, nicht vordergründig und pornografisch, sondern nur auf den zweiten Blick dechiffrierbar und eingebunden in konzeptuelle Settings.
Dirk Stewens visueller Kosmos speist sich aus hinterfragenden Denkprozessen, sensibler Kombinatorik und emotionaler Aufladung. Sein Werk entwickelt er aus einem System von Dingen, die miteinander kommunizieren wie die Buchstaben eines Alphabets. Dirk Stewen: „Die Arbeiten verändern sich. Die Elemente tauschen die Plätze, aber das Alphabet bleibt.“ |