Der Licht- und Luftkünstler Otto Piene liebte das Unvorhersehbare und starb nun selbst überraschend am gestrigen Donnerstag an den Folgen eines Herzinfarkts in Berlin in einem Taxi auf dem Weg ins Krankenhaus. Der 86jährige Mitbegründer der Avantgardegruppe ZERO hatte erst am Mittwoch eine großangelegte Doppelausstellung in Berlin eröffnet und bereitete gerade seine für Samstag angekündigte Lichtinstallation „Sky Event“ auf dem Dach der Neuen Nationalgalerie vor. Mit Otto Piene verliert die Kunstwelt einen der konsequentesten Wegbereiter der Nachkriegskunst, der mit seinem Œuvre etwas schaffen wollte, „was als Ausdruck der Seele oder der geistigen Verständigung unter Menschen taugt.“
Der vielseitige Otto Piene wurde 1928 in Laasphe in Westfalen geboren, erlebte den Zweiten Weltkrieg als Flakhelfer und studierte bis 1953 an der Blocherer Schule und der Akademie der Bildenden Künste in München sowie an der Kunstakademie in Düsseldorf. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Modeschule in Düsseldorf legte Piene 1957 sein Staatsexamen in Philosophie an der Universität in Köln ab. Im Folgejahr entstanden seine früheren Rasterbilder mit Op-Art-Wirkungen, die 1959 zur ersten Aufführung seines „Lichtballetts“ in der Galerie Schmela in Düsseldorf führten. Zur selben Zeit organisierte er Abendausstellungen in seinem Düsseldorfer Atelier, aus denen zusammen mit Künstlerkollege Heinz Mack 1957 die Gruppe ZERO hervorging, der sich später auch Günther Uecker anschloss. Um 1960 entwickelte Piene die sogenannten Rauch- und Feuerbilder aus Kerzen, die in komplexe Environments und Aufführungen mit Luft- und Heliumfiguren sowohl in Museen wie auch Theatern und unter freiem Himmel mündeten. Ihren Höhepunkt fand diese Arbeit 1972, als Piene den Auftrag zur künstlerischen Gestaltung der Eröffnungs- und Schlussfeiern der Olympischen Spiele in München erhielt und sich sein heliumgefüllter Plastikregenbogen über der Isarmetropole erhob.
1964 wurde Otto Piene als Gastdozent an der University of Pennsylvania verpflichtet und übte ab 1968 eine Lehrtätigkeit am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge aus. Dort übernahm er 1974 den Direktorenposten des Center of Advanced Visual Studies und leitete zwanzig Jahre lang das Medienlabor für künstlerisch-optische Experimente. „Der amerikanische Traum war wie Magie“, erzählte Piene rückblickend in einem Interview. Die in den USA entwickelte, seinem Werk eigene Verbindung von Kunst, Natur, Wissenschaft und Technik blieb bis zu seinem Tod richtungsweisend für Piene. Er war beteiligt an der Entwicklung neuer Kunstformen wie Medienkunst und Performances, gern gesehener Dauergast bei der Documenta in Kassel und „hat immer versucht, Grenzen aufzulösen – sowohl in der Kunst als auch geografisch“, so Tijs Visser, Leiter der ZERO-Foundation in Düsseldorf. Ende der 1980er Jahre betätigte sich Piene auch als Berater, so für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Planung für die Kunsthochschule der Medien in Köln und für das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe.
Otto Pienes Gestaltungsmittel waren elementare Kräfte wie Feuer, Luft, Rauch und Licht, der Himmel war zugleich Inspiration und Leinwand für ihn. Piene malte nicht das Licht, sondern ließ es malen. So entstanden seine „Lichträume“, „Lichtgeister“, „Lichtballette“ aus sich bewegenden Raumprojektionen und seine bunten Feuergouachen und Flammenblumen, wenn er seine Motive mit brennbarer Farbe auf Leinwand malte und sie anzündete. Mit der Gründung der ZERO-Gruppe forderte Piene einen radikalen, emotionsgeladenen Neuanfang für die Kunst im grauen Nachkriegsdeutschland. Die Gruppe eröffnete neue Felder, wollte weg von der Malerei und aus verstaubten Museen. Das spiegelten auch Pienes Einzelwerke, die er für den flüchtigen Augenblick herstellte und nicht zur Manifestation einer vergangenen Zeit an einer Galeriewand dienen sollten. Sie standen stellvertretend für eine ganze Generation voller Visionen, Hoffnungen und Taten, wie der Berliner Kurator Joachim Jäger bei der Ausstellungseröffnung am Mittwoch erklärte.
Die Berliner Lichtausstellung in der Neuen Nationalgalerie und „More Sky“ in der Deutsche Bank Kunsthalle präsentieren seit Mittwoch Otto Pienes psychedelische Farbrausch-Projektionen der reinszenierten Installation „The Proliferation of Sun“ im Mies van der Rohe-Bau. Die ZERO-Foundation berichtet, dass Piene noch am Donnerstag auf dem Dach des Museums gewesen war, um sein für Samstag geplantes „Sky Event“ vorzubereiten. Am Sonnabend sollten sich dort drei 90 Meter hohe und 20 Meter breite, aufblasbare Skulpturen langsam in den Himmel über Berlin erheben. Ob und wie dieses Event stattfinden soll, darüber wird in den Staatlichen Museen zu Berlin zur Stunde noch beraten.
Für August hatte Piene zudem ein ähnliches „Sky Event“ in Düsseldorf vorgesehen, und in New York laufen derzeit Planungen für eine ZERO-Ausstellung im Guggenheim Museum. Ungewollt schließt sich in Berlin der Kreis von Otto Pienes künstlerischem Schaffen. Nachdem eine seiner ersten Einzelausstellung dort vor Jahrzehnten stattgefunden hatte, wird „More Sky“ nun leider seine letzte sein. Es ist ein heiteres Vermächtnis mit explodierenden, leuchtenden, düsteren, mysteriösen und wie unter dem Mikroskop vergrößerten Farbklecksen und Pinselstrichen, in deren Hintergrund Pienes Stimme aus dem Off die Sonne beschwört. Besser könnte die zeitlose Modernität der Nachkriegskunst wohl kaum dargestellt werden. |