„Wenn ich etwas fotografieren will, dann fotografiere ich es einfach. Komme, was da wolle“, sagt die 1953 in Washington, D.C., geborene amerikanische Fotografin Nan Goldin. Schonungslos, offen und ungeschminkt, aber auch mit großer Empathie und Menschenliebe gewährt Goldin seit Ende der 1970er Jahre intime Einblicke in das bewegte Leben ihrer Freunde – und in ihr eigenes. Themen wie Sex, Drogen, Armut, Obdachlosigkeit, Gewaltexzesse bis hin zu Aids, Sterben und Tod charakterisierten lange Zeit ihr Werk. Goldin wurde zu der Chronistin des New Yorker Underground. Später fotografierte sie auch ruhigere Sujets. In dem 2013 erschienenen Buch „Eden and After“ etwa porträtiert sie ihre schwangeren Berliner Freundinnen und begleitet das unbeschwerte Aufwachsen von deren Kindern. Das Fotografieren, so Goldin, habe ihr immer wieder das Leben gerettet. Jedes Mal, wenn sie etwas Angsteinflößendes oder Traumatisches erlebt habe, habe sie die Situation nur durchgestanden, indem sie fotografierte.
Die Kestnergesellschaft in Hannover spannt mit ihrer schlicht „Nan Goldin“ betitelten großen Sommerausstellung jetzt einen weiten Bogen: von Goldins frühen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre bis hin zu der ursprünglich 2010 für den Pariser Louvre entstandenen Diaschau und Werkgruppe „Scopophilia“. Daneben sind auch noch ausgewählte andere Serien und Einzelarbeiten zu sehen.
Im Gegensatz zu anderen Fotografen präsentiert Nan Goldin ihre Werke nicht ausschließlich gerahmt und an der Wand hängend oder sorgfältig arrangiert in sündhaft teuren Coffee Table Books. Bekannt geworden ist die Künstlerin mit einer ganz anderen, mittlerweile zu ihrem Markenzeichen avancierten Präsentationsweise: der häufig mit Musik unterlegten Dia-Show. Die autobiografische Arbeit „The Ballad of Sexual Dependency“ – Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit – von 1986 ist ihr berühmtestes Werk. Goldin zeigt in dieser rund 700 Aufnahmen umfassenden, tagebuchartigen Diaschau aus privaten Schnappschüssen intime Aufnahmen aus ihrer Wahlfamilie. Ein bunter, oft aber auch düsterer Bilderbogen der Subkultur in Boston, New York und anderswo. Voller Lebenslust, Exzess, Liebe, Sex, Gewalt und Trauer.
Auch „Scopophilia“ besteht aus über 400 Fotografien, die Goldin zu einer 30minütigen Dia-Show montiert hat. Der Clou daran: Nan Goldin bekam, wie wohl noch kein anderer Künstler vor ihr, vom Pariser Louvre eine Carte blanche. Was immer ihr gefiel, durfte sie fotografieren und in ihr Werk einbauen. Sie erhielt die exklusive Erlaubnis, während eines Zeitraums von acht Monaten immer dienstags, also am wöchentlichen Schließtag des Louvre, stundenlang durch das leere Museum zu streifen. Begleitet von zwei Assistenten und einer Aufsicht, durchwanderte sie immer wieder die schier endlosen Galerien und Kabinette des drittgrößten Museums der Welt vorbei an antiken Venus- und Amazonenstatuen, weltberühmten Gemälden von Théodore Géricault, Vertretern der Schule von Fontainebleau, Leonardo da Vinci, Bronzino oder Gustave Courbets 1866 entstandenem Skandalgemälde „Der Ursprung der Welt“. Ihre Kamera und eine Leiter hatte sie immer dabei. Goldin: „Ich bin eine kleine Frau. Deshalb brauchte ich die Leiter, denn ich wollte den von mir geliebten Figuren auf den Bildern Auge in Auge gegenüberstehen.“
Der Titel der Arbeit „Scopophilia“ lässt sich im Deutschen mit „Schaulust“ oder „Voyeurismus“ übersetzen. Der Begriff, der im Englischen eng mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse in Verbindung steht, umfasst aber ein wesentlich breiteres Bedeutungsfeld, das vom sexuell motivierten Trieb zur Betrachtung nackter Körper bis hin zu den unbewussten Prozessen reicht, die generell beim Anschauen narrativer Bilderfolgen in abgedunkelten Vorführräumen wie dem Kino in Gang gesetzt werden. „Den Ausgangspunkt für dieses Projekt bildet die Begierde, die durch Bilder ausgelöst wird. Es ging mir darum, ein Gemälde oder eine Skulptur, indem ich sie fotografiere, gewissermaßen zum Leben zu erwecken“, so Goldin. Der antike Pygmalion-Mythos stand da eindeutig Pate. In Ovids „Metamorphosen“ wird beschrieben, wie der Künstler Pygmalion eine lebensecht aussehende, weibliche Elfenbeinstatue schafft. Er fleht die Götter an, sie zum Leben zu erwecken. Und nach seiner Rückkehr ins Atelier erlebt er genau dies. Aphrodite hat ihm seinen Wunsch erfüllt und die Statue zu einer echten Frau aus Fleisch und Blut werden lassen.
Dialogisch kombiniert Goldin Fotos von Gemälden und Skulpturen aus dem Louvre mit ausgewählten Motiven aus ihrem vier Jahrzehnte umfassenden Archiv. Punkige New Yorkerinnen treffen da auf spätbarocke Schleierfrauen und orientalische Badende von Jean-Auguste-Dominique Ingres, Hieronymus Boschs Chimären auf einen feuerspuckenden Mann mit bloßem Oberkörper. Junkies und Tätowierte begegnen Gestalten aus der griechischen Mythologie. Der ungesunde, aber einstmals coole „Heroin Chic“ der 1990er Jahre paart sich mit den Highlights europäischer Malerei. Unterlegt ist das Ganze mit einem Soundtrack des Komponisten Alain Mahé für Piano, Cello und Gesang. In lateinischer Sprache singt eine Sopranstimme die Metamorphosen des Ovid. Ebenso ist eine afrikanische Sängerin zu hören. Die überwältigende Aufnahme ist in einem leeren Saal des Louvre entstanden.
Von der knallharten realistischen Dokumentation des New Yorker Underground hin zu den mythologischen Darstellungen der Antike und der europäischen Kunstgeschichte. Von schillernden Transvestiten und anderen New Yorker Nachtgestalten zu Eros, Narziss, Cupido und Psyche. Wie erklärt sich Nan Goldin selbst diesen Schwenk von der Subkultur zum Mythischen und Spirituellen? „Es stimmt“, sagt sie rückblickend. „»Die Ballade« war ein sehr düsteres Werk. Jetzt sehe ich die Dinge in einem wesentlich helleren Licht. Nicht weil ich heute glücklicher bin als damals, aber einfach, weil ich jetzt die Welt mit anderen Augen betrachte. Außerdem sind ja auch 30 Jahre vergangen.“
Die Ausstellung „Nan Goldin“ ist bis zum 27. September zu sehen. Die Kestnergesellschaft hat dienstags bis freitags sowie an Feiertagen von 11 bis 18 Uhr geöffnet, donnerstags zusätzlich bis 20 Uhr. Der Eintritt beträgt 7 Euro, ermäßigt 5 Euro. Mitglieder der ADKV zahlen keinen Eintritt. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog in deutscher und englischer Sprache mit Essays von Lotte Dinse und Glenn O’Brien im Steidl Verlag Göttingen. |