 |  | Richard Tuttle in seinem Studio | |
In einem Gespräch mit dem Maler Addison Parks erwähnt der 1941 im Staat New Jersey geborene Richard Tuttle, dass es das wichtigste für einen Künstler sei, über die Arbeit nachzudenken. Andere können dabei helfen, solange sie sich auch mit der Arbeit befassen: „Can’t other people give us this courage, or arm us with weapons to fight our own battle. Yes, they can, as long as each is thinking about the work.”
1963 erwarb Tuttle im Alter von 22 Jahren den Bachelor of Arts am Trinity College in Hartford. Im gleichen Jahr kaufte er eine Zeichnung der Konzeptkünstlerin Agnes Martin. Aus dem Verkaufsgespräch ergab sich eine Freundschaft der beiden Künstler, die 1998 auch in einer gemeinsamen Ausstellung im Modern Museum Fort Worth dokumentiert wurde. Zu dem Zeitpunkt des Ankaufs der 22,86 Quadratzentimeter messenden Zeichnung war sich Tuttle selbst noch nicht genau des Unterschieds zwischen einer Zeichnung der Künstlerin und einem karierten Rechenblatt bewusst. „I remember myself ...what the difference was between graph paper and Agnes’s grids.“
Bereits 1965 hatte Tuttle seine erste Einzelausstellung in der Betty Parson Gallery in New York. 1967, als Pop Art und Minimal Art aufkamen, war sein weltweiter Durchbruch. 1977 und 1982 beteiligte er sich an der Documenta 6 und 7. Als allerorten Hardedge- Malereien entstanden und trivialste Dinge in kunstwürdige Themen verwandelt wurden, entstand die Arbeit „Tan Octagon“. Das Octagon war eine eingefärbte, auf die Form eines Oktagons zugeschnittene Leinwand (shaped canvas), welche Tuttle ohne Träger an der Wand befestigte.
Und wieder änderte der Künstler 1971 seine Formensprache: Die „Wire Pieces“ entstanden. Zarte Bleistiftlinien liefen direkt über die Wand, darüber wurden dünne Drähte gehängt, die in unregelmäßigen Windungen gedreht waren. Diese Arbeiten sind nicht von Dauer. Nach der Ausstellung werden sie zerstört. „Die Leute mögen Dinge, die beständig sind, ich mag Dinge, die vergehen.“
Die später entwickelten „Line Pieces“ bestehen aus in Bodennähe angebrachten Elementen aus Papieren, Holz oder Blech, die mit unübersetzbaren, farbigen Zeichen versehen sind. Auch Collagen und Assemblagen aus verschiedenen Materialien, die - fast provisorisch - mit Klebeband oder Draht zusammengehalten werden, können Bestandteil eines Line Piece sein. Von unten ausgehend verläuft eine dünne vertikale Linie über die Wand. Diese Linie kann als Zeichen im Raum gelesen werden. Ihr kommen sowohl intelligible Qualitäten zu, als auch räumlich stoffliche in Form eines der Wand eingeschriebenen Architekturelementes.
Tuttles Arbeit wurde, ebenso wie die von Eva Hesse und Robert Morris, mit dem Begriff der Antiform belegt und dem Postminimalismus zugeordnet. Jedoch ist es schwer, den Künstler in einer Kategorie festzulegen. In der Kunstgeschichte finden sich einige Bezugspunkte. Neben Assoziationen zum Kunsthandwerk gibt es Bezüge zu Dada (vor allem Arp und Schwitters), zum Suprematismus, sowie zu den Reflektionen der Impressionisten. 1990 entstand eine Serie von Arbeiten aus dünnem, bemaltem Holz, betitelt mit „Inside, the Still Pure Form.“ Während der Kunstkritiker Barry Schwabsky der Arbeit Tuttles einmal die „konkretisierte Aura der Attitüde“ bescheinigte, hält Kathleen Whitney die Werke für die Zusammenfassung von in verschiedene Richtungen verlaufender Gedanken.
In einer Sammlung von Drucken mit dem Titel „Any Two Points“ beginnt das erste Blatt mit einem nahezu ins Zentrum platzierten roten Rechteck und einem erhabenen weißen Rechteck in der oberen rechten Ecke. Bis zum letzten Blatt, dem achten entwickeln sich weitere Quadrate, Rechtecke und davon abgeleitete Umformungen der Ausgangsflächen. Über diese Drucke äußerte sich Richard Tuttle folgendermaßen: „Archimedes sagte: Gib mir einen Hebepunkt und einen Hebel und von der richtigen Stelle aus kann ich die Welt bewegen.“
Es entstanden auch kleinformatige Aquarelle, Lithogragien, Collagen oder teilweise zu Wandobjekten verdichtete Assemblagen und Reliefs. Oft kombiniert Tuttle einfache Materialien zu feinnervigen Arrangements von narrativer und poetischer Wirkung. Ästhetische Versuchsanordnungen werden von dem Künstler in Form von mit Bleistift auf die Wand gezeichneten linearen Feldern oder Gittern von 30,5 x 91,5 cm Größe, sowie darin sorgfältig angebrachten, plastisch sich absetzenden "Obstacles" durchgeführt. Diese sogenannten „Hindernisse“ sitzen wie Fremdkörper auf den Rastern, stören die klare Struktur des Grundmusters und brechen vorher scheinbar Kontrolliertes auf.
Eine Nähe zu Ellsworth Kelly kommt in den Tuttles „Overlaps“ und anderen Werkgruppen mit dem Material Sperrholz auf. So besteht die Arbeit mit dem Titel „Ten“ aus mehreren 10 inch (25,4 cm) großen Sperrholzelementen. Wo Kellys Arbeiten jedoch glatt und steril sind, sind die Objekte von Tuttle meist von Handarbeit gezeichnet. Sie haben raue Kanten, das Holz ist verzogen und die Maserung scheint durch die Farbe. So wird der Betrachter von dem scheinbar idealen Anspruch des Werks schnell in die Realität zurückgeworfen. Auch sucht Tuttle mit seinem Arbeiten einen Ausdruck von Schönheit jenseits der Sprache. Zu Texten über Kunst äußerte er sich einmal: „Die Kunstwelt ist immer so hysterisch über den Text, als wäre Kunst ohne Text nicht seriös.“
Den Arbeiten liegt das Ausloten eines Spannungsfeldes zwischen Materialität und Immaterialität zugrunde. Basis für diese „Metaphysik des Einfachen“ ist die fernöstliche Philosophie. 1967 war Tuttle erstmals nach Japan gereist. Für eine Ausstellung in der Bawag Foundation bat er den Kunstkritiker und Lyriker John Yau darum, keinen Text zu schreiben, sondern ein Märchen.
Immer wieder hatte Tuttle größere Einzelausstellungen, so zeigte er 1972 seine Werke im Museum of Modern Art, New York. Es folgten Werkschauen im Whitney Museum of Amerikan Art, New York, 1975 und im Jahre 1980 eine Ausstellung im Museum Haus Lange in Krefeld. Anschließend stellte unter anderem das Sprengel Museum Hannover Richard Tuttle 1990 aus. Weniger lange zurück liegt die „Konjunktion der Farbe“ im Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen. Dort erhielt er auch den Kunstpreis der Stadt. Aus Anlass des 60. Geburtstags in diesem Jahr richtet die Berliner Akademie der Künste eine Ausstellung mit Arbeiten Tuttles, der in New York und New Mexico lebt und arbeitet. Die Ausstellung „Perceived Ostacles“ läuft noch bis zum 18. November.
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