In den 70er und 80er Jahren tauchten in den Großstädten langhaarige Männer mit wilden Bärten auf, die sich in lose Gewänder aus ungefärbter Wolle kleideten und eine vegetarische Ernährung sowie ein naturgemäßes Leben und Pazifismus propagierten. Das entfremdete Leben in den verpesteten Metropolen war ihnen ein Graus. Man experimentierte mit alternativen Lebensformen und suchte sein privates Glück jenseits der staatlich und kirchlich sanktionierten Ehe. Die Frauen trugen weite Kleider statt der einengenden Korsette. Unter dem Begriff „Lebensreform“ sind solche Bestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis heute geläufig. Das 1899 gegründtete Darmstädter Institut Mathildenhöhe war selbst eine der wichtigsten Einrichtungen dieser Bewegung. Mit ihr widmet erstmals ein großes deutsches Ausstellungshaus diesem Phänomen eine umfassende Ausstellung.
Noch vor der Reichsgründung, schon in den 1860er Jahren, zeigten sich erste Tendenzen zu einer „sittlichen Lebenserneuerung“ und der Wunsch nach einer „naturgemäßen Lebensweise“. Ihren Höhepunkt erlebte die Bewegung, die sich aus verschiedenen Quellen speiste, freilich erst um 1900, als mit dem Jugendstil eine alle Lebensbereiche umfassende Kunstrichtung der Idee eines harmonischen Zusammenlebens aller Menschen mit der Natur und dem Kosmos zu weitverbreiteter Popularität verhalf.
Gleich im ersten Raum erwarten den Besucher einige der programmatisch wichtigsten Kunstwerke. Ludwig von Hofmanns „Frühlingssturm“ von 1894/95 zeigt eine unbekümmerte Jugend, die in idealer Nacktheit einer auch sexuell von den Fesseln moderner Zivilisation befreiten Zukunft entgegenschreitet. Ähnlich gelagert ist das Anliegen Karl Wilhelm Diefenbachs, der mit seinem 68 Meter langen Schattenfries „Per Aspera ad Astra“, von dem vier Teile in Darmstadt zu sehen sind, durch Europa zog und seinen Jüngern und der uneinsichtigen Menschheit paradiesische Zustände durch ein naturgemäßes Leben und fleischlose Kost predigte. Der Wunsch die gesamte Lebenswelt des Menschen zu erfassen und zu verändern, wird durch ausliegende Zeitschriften der Zeit deutlich, wie etwa durch einen Band der „Reformblätter“ von 1902, in dem auf einen Artikel über „Die Bedeutung des Zahnverfalls“ ein Aufsatz „Zur Diätethik des Tanzens“ folgt.
Die „Lebensreform“ als antimodernen Kitsch eines idyllesüchtigen Bürgertums abzutun, würde einer derartig heterogenen Erscheinung jedoch nicht gerecht werden. Nicht umsonst ist Friedrich Nietzsche, dem „Umwerter aller Werte“, eine eigene Sektion gewidmet. Dem Sinnverlust des säkularisierten 19. Jahrhunderts stellte er den Willen, den er mit dem Leben gleichsetzte, und den Entwurf des „Übermenschen“ entgegen. Nietzsches Einfluss manifestiert sich nicht zuletzt in der Idee des Neuen Menschen, wie er von Diefenbachs Schüler Fidus nackt, auf einem Felsen oder Berggipfel stehend, die Arme zum „Lichtgebet“ ausgebreitet, dargestellt wird.
Die Betonung des Geistigen führte schließlich über Künstler wie Wilhelm Morgner, Frantisek Kupka und Wassily Kandinsky zur Abstraktion. Die Farbräusche der abstrakten Malerei waren inspiriert von theosophischem Gedankengut: Die Farben, von der Pflicht zur gegenständlichen Darstellung befreit, sollten in der Lage sein, Seelenzustände ebenso sichtbar zu machen wie Musik oder kosmische Zusammenhänge. Der Aufbruch in die Moderne Kunst hat seine Ursprünge in demselben Bedürfnis nach Erneuerung und Sinnhaftigkeit wie die etwas verschrobeneren Phänomene jener Zeit.
Dem umfassenden Anspruch ihres Gegenstandes wird die Ausstellung gerecht, indem sie neben der Kunst zahlreiche Objekte des täglichen Lebens aus Kunsthandwerk und industrieller Produktion zeigt. Reform-Kleidung aus grober Wolle steht neben dem edlen Tea Gown nach einem Entwurf von Henry van de Velde und einem Seidenkleid, das nach dem Willen von Behrens ohne Korsett zu tragen war. Der Hygiene nahm sich die Bewegung ebenfalls an. Handbetriebene Waschmaschinen fanden ebenso Einzug in das Warensortiment wie die Glockenbrause Sahanoris, nach Aussage des Anbieters „der vollkommenste Frauen-Spülapparat“. Wohin ideologisch die Reise ging, macht die Erklärung des Herstellers deutlich: „Eine kranke Frau liebt man nicht!“ Dass der Aufbruch in die große Freiheit denn auch bald in die Arme einer wohlmeinenden Industrie führte, war abzusehen: Zu unterschiedlich, wenn nicht gegensätzlich waren die Anliegen der Naturisten, Theosophen, Pazifisten, Monisten. Was blieb, waren Odol und Kaffee Hag, Reclams Universalbibliothek und die gleichen Sorgen und Sehnsüchte, die uns heute noch umtreiben.
Am 19. Januar findet ein ganztägiges Symposium statt, das sich unter dem Motto „Experiment Leben“ mit der Frage beschäftigt, ob und inwieweit die Ideen der Lebensreformbewegung Aktualität besitzen. Die Veranstaltung beginnt um 9:30 Uhr und kostet 5 Euro Eintritt.
Der schwergewichtige Katalog in zwei Bänden beleuchtet in bisher einzigartiger Weise das gesamte Spektrum der Lebensreform. Er ist im Museum in einer Paperbackausgabe für 90 Mark zu haben, die gebundene Buchhandelsversion kostet 85 Euro.
Die Ausstellung wurde wegen des großen Publikumsinteresses bis zum 10. März 2002 verlängert und ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet, mittwochs bis 20 Uhr.
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