„Wenn Menschen nach sakralen Erfahrungen suchen, werden sie sie hier finden. Wenn sie nach profanen Erfahrungen suchen, werden sie auch diese finden. Ich stelle mich auf keine Seite.“ Was Mark Rothko 1961 für die Besucher seiner Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art notierte, liest sich wie ein Leitmotiv für die aktuelle Ausstellung des Kunsthistorischen Museums in Wien. Mark Rothko hat sich zeitlebens dagegen gewehrt, als Maler abstrakter Bilder vereinnahmt zu werden. Der Künstler, der nur selten über sich selbst oder sein Werk sprach, hat es vorgezogen, sich nicht von Anekdoten aus dem Bereich des Persönlichen ablenken zu lassen, sondern forderte die Betrachter auf, den Blick auf die Leinwände zu richten, um die universellen und „größeren Wahrheiten“ zu erfahren.
Als Glücksfall erweist sich die Anstrengung von Kurator Jasper Sharp, der gemeinsam mit den Kindern von Mark Rothko, Kate und Christopher, eine Schau zusammentragen hat, die versucht, den künstlerischen Spuren und Anregungen, die Mark Rothko zeitlebens gesucht und erfahren hat, nachzuspüren – ein anspruchsvolles Unterfangen, das von einem sorgfältig recherchierten Katalog begleitet wird. Eine vergleichbare Gelegenheit, Werke von Mark Rothko in dieser Dichte zu erleben, wird sich so schnell nicht wieder bieten: sein tiefes und anhaltendes Interesse an der Kunst der Vergangenheit und seine radikale Entwicklung über mehrere Jahrzehnte, von den frühen figurativen Gemälden aus den 1930er Jahren, über die Übergangsphase der 1940er Jahre bis zu den wegweisenden Werken der 1950er und 1960er Jahre, lassen sich nun im Kunsthistorischen Museums verfolgen.
Die Wiener Präsentation setzt ein mit einer frühen Badeszene aus den Jahren 1933/34. Zu diesem Zeitpunkt lebte der 1903 als Marcus Rothkowitz im damals russischen Dwinsk geborene Künstler, der als Zehnjähriger mit seiner Familie in die USA gekommen war, in New York. Nach Studien in Yale und an der New School of Design in New York begann Rothko, ab 1930 als Künstler zu arbeiten, und hatte bereits 1933 seine erste Einzelausstellung in der dortigen Contemporary Arts Gallery. „Bathers/Beach Szene“ ist ein frühes Beispiel einer kleinen Werkgruppe von Akten und Badeszenen, die Rothko Anfang der 1930er Jahre schuf. Mit diesem klassischen Motiv tritt Rothko in einen Dialog mit Künstlern früherer Jahrhunderte: Von den Bildhauern des antiken Griechenlands und Rom über Sandro Botticelli und Tizian bis zu Paul Cézanne, dessen Einfluss hinsichtlich des Sujets und der Technik bei Rothkos Badenden augenscheinlich ist.
Ein wichtiges Ereignis für den Maler und seine amerikanischen Zeitgenossen war die Eröffnung der „Art of This Century“, der Museumsgalerie der Erbin Peggy Guggenheim im Oktober 1942. Hier lernte Rothko die europäischen Künstler und Immigranten kennen, die während es Krieges in New York Zuflucht gesucht hatten, darunter Max Ernst, André Breton, Marcel Duchamp, André Masson, Marc Chagall, Fernand Léger, Jacques Lipchitz und Piet Mondrian. Vor allem Joan Miró und Giorgio de Chirico sind Künstler, deren Präsenz in Rothkos Werken aus den späten 1930er Jahren zu spüren ist. Danach beeinflussten ihn die Pariser Surrealisten, deren Werke er 1936 bei einem Besuch der Ausstellung „Fantastic Art, Dada – Surrealism“ im Museum of Modern Art sah. Streng chronologisch und dicht nebeneinander gehängt, zeigt die Wiener Ausstellung einen hungrig nach neuen Ausdrucksformen sich immer wieder neu orientierenden Künstler der 1930er und 1940er Jahre.
Prägend für Rothkos weiteren künstlerischen Weg, auf dessen Höhepunkt später Bilder aus bloßer Farbe entstehen, war vor allem seine Begegnung mit dem Werk von Henri Matisse, dessen Gemälde „Das rote Atelier“ ihn nachhaltig beeindruckte: „Wenn man dieses Bild anschaut“, schwärmte er, „geht man ganz in der Farbe auf, ist man total erfüllt von davon.“ Rothkos Auseinandersetzung mit Matisse trug wesentlich dazu bei, seine Abkehr von einem figurativen surrealistischen Stil bis hin zur vollständigen Abstraktion seines reifen Stils zu beschleunigen. Bereits 1947 notierte er: „Für mich sind meine Bilder Dramen und die Formen in den Bildern sind die Darsteller. Zu diesem Zeitpunkt entschied er sich dafür, seine Werke ungerahmt auszustellen, um so eine unmittelbarere und konfrontative Beziehung zum Betrachter herzustellen, die er durch die zunehmende Größe seiner Werke weiter intensivierte. Fortan verzichtete er auch weitgehend auf beschreibende Titel und zog es vor, sie zu nummerieren oder unbetitelt zu lassen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Mark Rothko in seiner Malerei praktisch alle offensichtlich figurativen Spuren beseitigt und war über die Entwicklung surreal-biomorpher Formen zu einer Anordnung immer kompakterer Farbwolken gekommen, die er „Multiforms“ nannte. Die Gemälde, die den Übergang von der figurativen Malerei zu seinen bekannteren abstrakten Werken markieren, sind durch Flecken aus dünn geschichteten Farblösungen gekennzeichnet, die in mehrdeutigen räumlichen Umgebungen schweben. Verantwortlich für die Wirkung von Werken wie „Untitled“ von 1946 oder „NO.21“ von 1947 war vor allem Rothkos innovativer Umgang mit der Farbe, die er durch Terpentin stark verdünnte und in mehreren Schichten auf die Leinwand auftrug, um schließlich als matte, in sich strukturierte Oberfläche zum ausdrucksstarken Träger von Bedeutung und Emotion zu werden. Auf der Suche nach Klarheit reduzierte er die Anordnung der Formen und fand 1950 in „Untitled“ ein kompositorisches Format, an dem er bis zu seinem Tod festhalten sollte: zwischen zwei orangefarben und neapelgelb leuchtenden Feldern, die auf einen lasierend rötlichen Grund aufgetragen sind, liegen nur wenige horizontal angeordnete Strichlagen. Eine sanfte Bewegung wird suggeriert: das Gemälde scheint zu atmen.
1950 brachen Rothko und seine zweite Frau Mary Alice Beistle zu einer fünfmonatigen Europareise auf, die sie von Frankreich nach Italien und später nach London führte. In Italien besuchte Rothko Venedig, Rom, den Küstenort Santa Marinella, Arezzo und Florenz. Rothko war fasziniert von Tintorettos Gemäldezyklus in der Scuola Grande di San Rocco, von Piero della Francescas und Giottos Fresken in der Basilika von Santa Croce. Jasper Sharp weist in seinem Katalogtext darauf hin, dass zu den vielen Orten, die Rothko und seine Frau besuchten, zwei Gebäude gehörten, die sein Werk und die Entscheidungen, die er in den nächsten zwanzig Jahren treffen sollte, nachhaltig beeinflussten. Im Kloster von San Marco in Florenz war Rothko fasziniert von dem scheinbar ursprunglosen, gleichmäßig gestreuten Licht, das Fra Angelico in seinen Fresken eingefangen hatte und das den einzelnen Räumen eine tiefe meditative Gelassenheit verlieh. Das zweite Gebäude war die Biblioteca Laurenziana, die Michelangelo Buonarroti für Papst Clemens VII. entworfen hatte und die Rothko später als „das dunkle Gewölbe“ oder seine „Sixtinische Kapelle“ bezeichnete. In Italien erlebte Rothko, wie der Betrachter gemäß dem Renaissance-Ideal in das Kunstwerk eingebunden wird, eine elementare Erfahrung, die für sein späteres Werk prägend werden sollte.
In vier Kabinetten, in denen jeweils nur ein Werk aus den Jahren 1949 bis 1956 hängt, gewährt die Wiener Ausstellung nun ein ähnlich kontemplatives Abenteuer. Ihnen schließt sich ein Raum an, in dem die Werke aus der Serie der „Seagram Murals“ vom Ende der 1950er Jahre versammelt sind. Für das luxuriöse Four Seasons Restaurant im Seagram Building in New York, das von Philip Johnson gestaltet wurde, sollte Rothko auf Einladung des Architekten 1958/59 großformatige Gemälde schaffen. Rothko nahm den Auftrag an und schuf drei Serien von Wandgemälden mit roten, schwarzen und orangefarbenen portalähnliche Flächen auf vielschichtigen dunkel-, purpurroten und kastanienbraunen Gründen. „Nachdem ich einige Zeit an der Arbeit gewesen war, wurde mir klar, dass mich Michelangelos Wände im Treppenhaus der Medici-Bibliothek in Florenz unbewusst beeinflussten. Er hatte genau das Gefühl erreicht, nachdem ich strebe – er gibt dem Betrachter das Gefühl, in einem Raum gefangen zu sein, in dem alle Türen und Fenster zugemauert sind“, beschrieb Rothko rückblickend das Gefühl der Beklemmung und Desorientierung, ausgelöst durch den von Blindfenstern und eingelassenen Vertäfelungen geprägten Innenraum.
Immer mehr zweifelte Mark Rothko jedoch daran, ob ein Luxusrestaurant der geeignete Raum für seine Werke sei, und beschloss schließlich auf den Auftrag zu verzichten. In Wien geben nun sechs großformatige Entwürfe und ein Gemälde aus der National Gallery of Art in Washington eine Vorstellung von der Intention des Künstlers, durch Malerei eine Form von Architektur zu schaffen, etwas was er selbst als „einen Ort“ bezeichnete.
Den Ausklang der Ausstellung bildet ein Raum mit Großformaten aus den letzten zehn Jahren von Rothkos Schaffen zwischen 1960 und 1969. Rothko bevorzugte eine dunkle Palette, insbesondere Braun-, Grau- Schwarz- und dunkle Weintöne, die er jeweils sorgfältig aufeinander abstimmte. Die Bilder scheinen von innen heraus zu leuchten. Dieses Ergebnis erzielte Rothko, indem er die Leinwände mit dünnen, abwechselnd matten und glänzenden Farbschichten bemalte und die Ränder auflöste, an denen Felder unterschiedlicher Farbe aufeinandertreffen. So flimmert durch die samtige Oberfläche ein Licht, das der Farbe selbst innezuwohnen scheint. In der im Jahr 1964 entstandenen Reihe der sogenannter „Black Forms“ reduzierte Rothko die Farbigkeit schließlich zu subtil abgestimmten Schwarztönen, um im Anschluss an diese Werkserie mit dem wichtigsten Projekt seiner künstlerischen Karriere zu beginnen: der Erstellung einer Gruppe von Gemälden für eine interreligiöse Kapelle in Houston.
Rot in all seinen unterschiedlichen Tönen und Temperaturen war in den letzten 15 Jahren seines Schaffens die Farbe, die Mark Rothko wegen ihrer unterschiedlichen Konnotationen besonders mochte und zu der er häufig griff. In Wien hängt am Ende der Ausstellung ein Hochformat, das 1968 entstand. Für „Untiteld, Red; Orange“ trug Rothko in vielen Schichten dünnflüssige Lasuren übereinander, die zwischen Blutrot und Orange changieren, um schließlich einen luziden Farbkörper zu erreichen, der mit der glatten Oberfläche des Bildes zu schwingen scheint. Rot sollte auch die Farbe seines letzten Gemäldes sein, das Rothko Anfang 1969 vollendete, bevor er sich im Februar 1970 das Leben nahm. „Wenn ich mein Vertrauen überhaupt in etwas legen soll“, schrieb Mark Rothko in einer Postkartennotiz an den britischer Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker John Berger, „dann in die Psyche des empfindsamen Betrachters, der frei von den Konventionen des Verstehens ist. Ich hätte keinerlei Bedenken hinsichtlich des Nutzens, die er aus den Bildern für die Bedürfnisse seiner Seele zöge. Denn wenn es sowohl Bedürfnisse als auch eine Seele gibt, wird gewiss eine wirkliche Transaktion stattfinden.“ In Wien haben die Besucher des Kunsthistorischen Museums die Gelegenheit, das zu erfahren.
Die Ausstellung „Mark Rothko“ läuft bis zum 30. Juni. Das Kunsthistorische Museum Wien hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis zusätzlich 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 16 Euro, ermäßigt 12 Euro. Für Kinder und Jugendliche unter 19 Jahre ist er frei. Der Katalog kostet 30 Euro. |