| | Sislej Xhafa, ovoid solitude, 2019 | |
Größer könnte der Kontrast kaum sein. Im dichten Messetrubel der Unlimited Halle auf der Art Basel stehen die Besucher Schlange für ein Erlebnis der unheimlichen Art. Der saudi-arabische Künstler Abdulnasser Gharem, Jahrgang 1973, vertreten durch die Kölner Galerie Nagel Draxler, hat im Eingangsbereich eine begehbare Gummizelle aufgebaut, wie man sie in psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen findet. Die gelbe Plastikmarkise am Eingang der Arbeit dürfte den meisten Messebesuchern noch aus der TV-Berichterstattung über die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul bekannt sein. Die Besucher treten einzeln oder zu zweit ein und dürfen nur 40 Sekunden an diesem beklemmenden Ort verweilen. Auf einem Sektionstisch aus Edelstahl finden sie große Stempel mit Politikeraussagen und Literaturzitaten, in denen es um Macht und Gewalt geht. Die Besucher sind aufgefordert, sich einen davon auszusuchen und mit blutroter Stempelfarbe einen Abdruck auf den weißen Gummiwänden zu hinterlassen, die sich nach und nach rot einfärben. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Diese plakative, politisch stark aufgeladene Arbeit ist nur eines von 75 raumgreifenden Projekten im Rahmen des Unlimited Sektors. Messedirektor Marc Spiegler, der in den USA Politische Wissenschaften studiert hat, ehe er als Kunstmarkt-Journalist tätig war und 2012 zum Global Director der Art Basel berufen wurde, legt großen Wert darauf, dass auf der Unlimited nicht nur leicht konsumierbare, marktgängige Projekte gezeigt, sondern immer auch gesellschaftliche Bruchstellen und die Ränder des Kunstbetriebs mit in den Fokus genommen werden.
In diesem Jahr letztmals von dem in New York lebenden Schweizer Gianni Jetzer kuratiert, versteht sich die Art Unlimited als eine Plattform für raumgreifende Installationen, monumentale Skulpturen und Gemälde, Videoprojektionen und Performancekunst. Giovanni Carmine, Direktor der Kunst Halle Sankt Gallen und Jetzers designierter Nachfolger, dürfte diese Linie in den nächsten Jahren fortsetzen. Die diesjährige Ausgabe bewegt sich zwischen den Polen laut und leise. Im Zentrum der 17.000 Quadratmeter messenden Halle präsentiert etwa der deutsche Künstler Daniel Knorr seine spektakuläre Installation „Laundry“. Aus Leinwänden zusammenmontierte Autos werden von Performern durch eine Autowaschanlage geschoben, deren Bürsten mit Farbe präpariert sind. Das Resultat dieses lauten Happenings sind quietschbunte Autos im Stil des Abstrakten Expressionismus.
Ebenfalls lärmend ist die performative Skulptur „Breathing“ der in Berlin lebenden italienischen Künstlerin Monica Bonvicini. Die feministische Künstlerin lässt einen monumentalen Hexenbesen aus zusammengebundenen schwarzen Ledergürteln von der Decke herabbaumeln. Angetrieben durch einen Kompressor, verwandelt sich das schwarze Gebilde in regelmäßigen Abständen in ein berserkerhaftes Folterinstrument, das wild und unkontrolliert durch den Raum schwingt. Politisch konnotierte Arbeiten sind nicht selten auf der Art Unlimited. Der farbige Berliner Künstler Marc Brandenburg thematisiert in seiner Videoarbeit „Camouflage Pullovers“ mit spielerischem Ernst den alltäglichen Rassismus auf Berliner Straßen. Und die kalifornische Künstlerin und feministische Aktivistin Andrea Bowers präsentiert unter dem Titel „Open Secret“ eine Art „Wand der Schande“ mit ausführlichen Dokumenten zu rund 200 im Rahmen der #MeToo-Debatte bekannt gewordenen Fällen sexueller Übergriffe. Eine durchaus kontroverse Arbeit: Eine der geschlagenen Frauen war geschockt von der ungefragten Zurschaustellung auch von Opfern und verlangte die sofortige Entfernung ihres Fotos.
Im Gegensatz dazu steht die Slow Motion-Performance „ovoid solitude“ des in New York lebenden Kosovaren Sislej Xhafa. Xhafa hat ein viele Meter langes Rollgitter installiert, wie es bei Ladengeschäften in Nord- und Südamerika zu finden ist. In einer türgroßen Öffnung sitzt Raúl Postillo Zamá, ein distinguierter älterer Herr, der in Kuba als Eierverkäufer tätig ist. Der Künstler hat ihn eigens aus Kuba einfliegen lassen. Jetzt beobachtet er mit allergrößter Gelassenheit das Messegeschehen. Hin und wieder beugen sich Besucher zu ihm herunter, um dem einsamen Mann etwas Gesellschaft zu leisten. Sislej Xhafas performative Installation hat zwar einen etwas voyeuristischen Unterton. Dennoch ist sie Entschleunigung pur. Angesichts des hektischen Messegeschehens bietet sie einen Pol absoluter Ruhe und Gelassenheit.
Ebenfalls reichlich Ruhe vermittelt die Installation „Nirvana“ des chinesischen Künstlers Xu Zhen. In einem an ein Spielkasino erinnernden Raum hat er sechs ausladende Roulettetische aufgebaut. Während der ganzen Messe sind chinesische Performer damit beschäftigt, aus eingefärbtem Sand die Spielfelder zu konstruieren. Sobald sie mit der Herstellung der Sand-Mandalas fertig sind, wird alles zusammengefegt, und sie beginnen ihre Sisyphos-Arbeit wieder von vorne. Sie benutzen dazu eine jahrhundertealte Schütttechnik tibetischer Mönche. Glücksspiel und Meditation, das große Geld und die innere Einkehr, Hektik und Ruhe vereint hier Xu Zhen spielerisch miteinander.
Kontrastprogramm dann in den benachbarten Messehallen 2.0. und 2.1. Hier präsentieren 290 Galerien aus 34 Ländern Kunst von der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts bis zur unmittelbaren Gegenwart. Wer an den allerneuesten Tendenzen interessiert ist, beginnt seinen Messerundgang am besten in der Sektion Statements mit 18 jungen Einzelpositionen. Bei der Berliner Galerie Chert Lüdde ist ein bühnenbildartiges Setting des in Berlin lebenden, spanischen Künstlers Alvaro Urbano, Jahrgang 1983, zu sehen. Seine Arbeit „Ever Since Night Falls“ kommt als humorvoll irreale Installation aus 29 Skulpturen daher, die allesamt von Details aus zerstörten oder verloren gegangenen Kunstwerken inspiriert sind. Das Spektrum reicht von steinzeitlicher Höhlenmalerei über Caravaggio, Caspar David Friedrich, Frida Kahlo, Eva Hesse, Pablo Picasso bis hin zu Andy Warhol und Rachel Whiteread.
Aufmerksamkeit gab es auch für die beiden Art Statement-Teilnehmer, die den diesjährigen mit je 30.000 Schweizer Franken dotierten Bâloise Kunstpreis erhalten haben. Die international besetzte Fachjury entschied sich für die italienische Künstlerin Giulia Cenci, vertreten durch die Galerie SpazioA aus Pistoia, sowie für die in Paris lebende chinesische Malerin Xinyi Cheng, repräsentiert von der Pariser Galerie Balice Hertling. Die in Amsterdam beheimatete Bildhauerin Giulia Cenci, Jahrgang 1988, hat die gesamte Koje mit einer Installation aus gefundenen Maschinenteilen, Zivilisationsmüll und modifizierten natürlichen Materialien zu einer dystopischen „Urban Landscape“ verdichtet. Die in den USA und an der Rijksakademie in Amsterdam ausgebildete Xinyi Cheng, Jahrgang 1989, wiederum zeigt figurative Gemälde in einer exzellenten Maltechnik. Ihr bevorzugtes Bildsujet sind junge, spärlich bekleidete Männer in ambivalenten, leicht melancholischen Momenten nach der Lustbefriedigung durch Sex, Wein, Tabak, Delikatessen oder andere Mittel. Die in nahezu altmeisterlicher Technik dargestellten Figuren entstammen allesamt ihrem persönlichen Umfeld. Xinyi Cheng malt in einer eher freien Interpretation nach Fotovorlagen. Das überkommene Klischee vom männlichen Maler und seinem weiblichen Modell dreht sie selbstbewusst um. Bereits eine Stunde nach Messeöffnung war die gesamte Koje ausverkauft. Die Gemälde kosteten je nach Format 10.000 Euro bis 30.000 Euro.
Einen starken Auftritt hat auch die Berliner Galerie Neugerriemschneider. Der Eyecatcher-Stand steht unter dem Thema „Welle“, ausgehend von einer in einer Vitrine präsentierten Porzellanwelle des Chinesen Ai Weiwei. Der Frankfurter Konzeptkünstler Thomas Bayrle hat den gesamten Raum mit einem wellenartigen Fries aus blau-weißen Smartphone-Darstellungen versehen. Ein knallgelber Industriefußboden unterstreicht die Optik. Arbeiten von Rirkrit Tiravanija, Olafur Eliasson oder Michel Majerus zu den Themen Naturgewalten, Brandung und Progressivität, umrahmt von dem Fischschwarm aus Smartphone-Umrissen, gehen hier eine ausgeklügelte Verbindung ein. Die ebenfalls in Berlin ansässige Galerie Esther Schipper hat Werke unter anderem von Ugo Rondinone, Dominique Gonzalez-Foerster und Martin Boyce mit nach Basel gebracht. Dazu tritt der im internationalen Ausstellungsbetrieb derzeit gern gesehene britische Konzeptkünstler Simon Fujiwara mit Architekturfragmenten aus Burj Al Babas, einer türkischen Geisterstadt und Investitionsruine mit hunderten leerstehenden Villen im Stil französischer Schlösser.
Die Düsseldorfer Galerie Kadel Willborn hat eine neue Arbeit der US-amerikanischen Konzeptfotografin Barbara Kasten für 40.000 US-Dollar im Angebot. Die 1938 geborene, ursprünglich als Malerin ausgebildete Fotografin aus Chicago ist in Europa noch ein Geheimtipp. Das könnte sich jedoch demnächst ändern. Das Kunstmuseum Wolfsburg plant im nächsten Jahr eine Retrospektive mit Werken von Barbara Kasten. Diese wird die erste institutionelle Einzelausstellung der überwiegend analog arbeitenden Fotografin in Europa sein. Außerdem am Stand von Kadel Willborn: eine wandfüllende Tapisserie der in Berlin lebenden Kanadierin Shannon Bool, die die Architektur von Le Corbusier subversiv mit den Rundungen Kim Kardashians verquickt. Die Arbeit in einer 3er-Auflage mit jeweils individuell bestickten Partien ist für 38.000 Euro zu haben.
Der Berliner Galerist Thomas Schulte macht auf eine mechanische Arbeit mit auf- und absteigenden Messern der 1944 geborenen Bildhauerin Rebecca Horn für 375.000 Euro sowie einige ihrer gestischen Körperzeichnungen aufmerksam. Passend dazu wurde gerade eine Übersichtsschau von Rebecca Horn im Museum Tinguely in Basel eröffnet, in der auch viele frühe Arbeiten der Künstlerin versammelt sind. Daneben fiel das großformatige Gemälde „White Moon Abyss“ der 79jährigen US-Amerikanerin Pat Steir von 2006 ins Auge. Die äußerst produktive New Yorkerin feiert im hohen Alter Erfolge auf dem Kunstmarkt. Für das abstrakte Gemälde aus ihrer Serie „Waterfall“, in einer Schütttechnik ausgeführt, verlangt Thomas Schulte 660.000 US-Dollar.
Die Kunstmesse Art Basel bietet jedoch nicht nur der gut betuchten Sammlerklientel ein attraktives Angebot an qualitativ hochwertiger Kunst. Auch für kunstinteressierte Besucher ohne Kaufabsicht gibt es spannende Formate wie etwa das Art Film Programm mit einer exzellenten Auswahl an Künstlerfilmen im Stadtkino Basel. Daneben feiert in diesem Jahr der beliebte Sektor Art Parcours sein zehnjähriges Jubiläum. Hier sind für die Dauer der Messe 20 ortsspezifische Kunstprojekte im Stadtraum rund um den Münsterplatz aufgebaut. Mit dabei sind etwa Dan Graham, Camille Henrot oder Matias Faldbakken.
Auch wenn vermehrt von Messemüdigkeit, dem harten Überlebenskampf kleinerer Galerien und einer Verlagerung des Geschäfts ins Internet zu hören ist: Der Art Basel mit ihren drei Standorten in Basel, Miami und Hongkong geht es nach wie vor blendend. Damit neben Global Playern wie Gagosian, Hauser & Wirth oder David Zwirner auch neue Galerien ihre Chance erhalten, unterstützt Messedirektor Marc Spiegler Erstteilnehmer in diesem Jahr erstmals mit einer Reduktion des Quadratmeterpreises um 20 Prozent. Ob diese Maßnahme ausreicht, wird sich zeigen. Im nächsten Jahr wird auf jeden Fall erst einmal der 50. Geburtstag der Messe mit einer umfangreichen, von Kasper König kuratierten Jubiläumsausstellung gefeiert.
Die 50. Art Basel läuft vom 13. bis zum 16. Juni täglich von 11 bis 19 Uhr. Der Eintritt beträgt 58 Franken, ermäßigt 45 Franken und ab 17 Uhr 30 Franken. Das Zwei-Tage-Ticket ist für 98 Franken zu haben und das Dauerticket für 140 Franken. Der Katalog zur Art Unlimited kostet 60 Euro, das Jahrbuch gibt es für 70 Euro.
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