| | Hans Baldung Grien, Zwei Hexen, 1523 | |
Niemand wird unberührt bleiben von dem einnehmenden Blick, mit dem Hans Baldung, genannt Grien, sogleich Kontakt zum Besucher aufnimmt. Die Sicht in den Spiegel zielt unmittelbar auf den Betrachter. In der Form einer Bildnisbüste entfaltet das Porträt, das beinahe das Blatt komplett ausfüllt, eine enorme Präsenz. Entscheidend trägt dazu auch der dominante Florhut mit seinen weichen abstehenden Zotteln bei, dessen Krempe das linke Auge des jungen Künstlers fast verbirgt. Leichte Schraffuren in zartem Rosa und der Lichteinfall von links akzentuieren die Rundungen des Körpers. Das frühe jugendliche Selbstbildnis Hans Baldung Griens von etwa 1502 gehört zu den erstaunlichsten seiner Gattung in der deutschen Renaissance. Dies gilt umso mehr, da der wohl nicht einmal 18jährige Künstler in dieser effektvollen Selbstinszenierung mit scharfem selbstbewusstem Blick und sicherer Strichführung ein schier unglaubliches Talent aufblitzen lässt.
Die Rosatönung und das blaugrün grundierte Papier wurden um 1500 in Schwaben verwendet, wo der Maler anscheinend erste Schulungen erfuhr. Um 1484/85 vermutlich in Schwäbisch Gmünd geboren, lässt sich über die Anfänge des Hochbegabten nur spekulieren. Nicht beweisbar ist, dass Baldungs frühes Selbstbildnis als Arbeitsprobe für Albrecht Dürer diente. Der berühmte Nürnberger Meister, in dessen Werkstatt Baldung von 1503 bis etwa 1508 als Geselle tätig war, nannte ihn „Grünhans“, woraus sich dann der Namenszusatz „Grien“ entwickelte. Nach einer Gesellenwanderung durch oberrheinische Gebiete, die ihn unter anderem nach Colmar in die Werkstatt Martin Schongauers, nach Basel und Straßburg führte, erwarb er 1509 das Straßburger Bürgerrecht, gründete eine Familie und richtete sich eine Werkstatt ein. In der Elsass-Metropole lebte er, unterbrochen von einem Zwischenspiel in Freiburg im Breisgau, bis zu seinem Tod im Jahr 1545.
Die von Holger Jacob-Friesen chronologisch unter thematischen Schwerpunktsetzungen in den letzten zehn Jahren konzipierte Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe umfasst rund 200 Arbeiten Baldungs, darunter 60 Tafelgemälde und 13 Glasmalereien. Ergänzend verdeutlichen Werke von Albrecht Dürer, Martin Schongauer oder Lucas Cranach das künstlerische Umfeld. Noch vor 60 Jahren, als letztmalig die Karlsruher Kunsthalle Hans Baldung Grien mit einer Retrospektive ehrte, konnten noch 400 Werke versammelt werden – aus konservatorischen Gründen heute ein unmögliches Unterfangen. Dennoch ist es Jacob-Friesen in Zusammenarbeit mit Julia Carrasco und Johanna Scherer gelungen, im Lichte neuer Forschungsergebnisse die wesentlichen Charakteristika Baldungs mithilfe erstrangiger Werke vorzustellen. Schon zu Beginn wird deutlich, wie breit Baldungs Schaffen technisch und motivisch aufgestellt war und sich zwischen den beiden Polen religiöser und profaner Darstellungen bewegte. Dies geschah während einer turbulenten, von vielen Brüchen, Kriegen und der Reformation geprägten Zeit, die Baldung in einer individuellen, zuweilen extremen künstlerischen Position kommentierte.
Zwar offenbaren die Heiligen- und Andachtsbilder, mit denen er sich an der Holzschnittproduktion in Dürers Werkstatt beteiligte, in Stil und Technik die Nähe zu seinem Lehrmeister. Doch trotz fast nahtloser Einfügung in Dürers Bildwelt fallen Eigenständigkeiten ins Auge, so etwa das lebhaftere Agieren der Personen. Obwohl von Hans Baldung Grien geschaffen, tragen Heiligenbilder das Signet von Dürers Werkstatt. Baldungs frühe Gemälde beeindrucken durch wuchtige Figuren in groß dimensionierten, flächig aufgelegten Formen und leuchtend satten, souverän verteilten Farben. Zu den glanzvollen Werken gehören seine Glasmalereien. Monumentalität und Lebendigkeit der Farben verstand wohl kaum ein anderer Künstler der Zeit derart überzeugend zum Ausdruck zu bringen. Dabei fertigte Baldung nicht nur den Entwurf, sondern beteiligte sich auch an der technischen Realisierung in der Nürnberger Werkstatt von Veit Hirschvogel. Hier konzipierte er um 1506 die sogenannten „Löffelholz-Fenster“ für die Stadtpfarrkirche St. Lorenz. Die daraus entnommene „Anbetung der Könige“ und weitere Glasgemälde sind Glanzlichter der Karlsruher Schau. Viele Details, allen voran die Gewänder, sind in kräftig leuchtende Töne getaucht. Die berauschenden Farborgien gelten als beste Leistungen in diesem Genre zur Dürer-Zeit.
Recht schnell erhielt Hans Baldung Grien bedeutende Aufträge. Dazu gehörte Markgraf Christoph I. von Baden. Um 1510 verewigte ihn der Künstler als Stifter samt Familie auf der „Markgrafentafel“ und hob dessen Sohn Philipp als bevorzugten Erben hervor. Sie gilt sowohl als politisches Manifest, als auch als Ausdruck der Frömmigkeit. In diesen Kontext gehört auch der um 1511 gefertigte Porträtholzschnitt des Markgrafen Christoph, der als erstes deutsches Fürstenbildnis in dieser Technik gilt. Willensstark mit Adlerblick und -nase sowie löwenähnlichen Zottelbart inszeniert Baldung hier ein politisches Propagandabild des Herrschers, dessen Autorität von seinen Söhnen infrage gestellt wurde.
Im Jahr 1512 erreichte der wohl prestigeträchtigste Auftrag Hans Baldung Grien. Für den neuen Chor der Stadtpfarrkirche „Unserer Lieben Frau“, dem heutigen Freiburger Münster, sollte er das Hochaltarretabel mit Szenen aus dem Marienleben gestalten. Um dieses malerische Hauptwerk mit der Marienkrönung im Zentrum bewerkstelligen zu können, musste Baldung zwischen 1512 und 1516 vor Ort eine Werkstatt mit mehreren Gesellen einrichten. Zeitgleich mit dem „Isenheimer Altar“ von Matthias Grünewald entstanden und immer noch am selben Ort stehend, gehören beide Kunstwerke zu den bedeutendsten Retabeln des 16. Jahrhunderts. Die Ausstellung zeigt den Hochaltar samt wandelnden Ansichten in digitaler Form unter Erläuterung des Bildprogramms.
Die Freiburger Jahre zählen zu den produktivsten in Baldungs Laufbahn. Ihr Kennzeichen ist eine ausgeprägte Farbigkeit. In der Ausstellung unterstreichen dies Gemälde wie das „Blumenwunder der heiligen Dorothea“ von 1516, deren Schicksal Baldung in eine karge Schneelandschaft mit Tauwetter bettete, oder die gleichaltrige „Sintflut“. Die Szenerie dieses koloristischen Meisterwerks, in der um eine kastenförmige Arche Menschen ums Überleben kämpfen, lädt zu visuellen Spaziergängen in eine Welt voller Sünden und Begierden ein.
In der Karlsruher Ausstellung führen Holzschnitte und Zeichnungen dann die Schaffensbreite und unvergleichliche Eigentümlichkeit Hans Baldung Griens vor Augen. Ausdrucksstarke Blätter mit dunkler Feder und weißen Höhungen auf farbigem Grund weisen ihn als virtuosen Zeichner aus, der sich neben christlichen auch profanen Motiven, Landschaften und Tieren widmete. Baldung nahm eine führende Rolle bei den inhaltlichen, stilistischen und technischen Neuerungen auf dem Gebiet der Druckgrafik ein. Wie sehr Lichtinszenierungen, expressive Linienführung oder gesteigerter emotionaler Ausdruck in dieses Medium einfließen, demonstrieren wiederum originelle Bildfindungen, etwa „Der behexte Stallknecht“ um 1534. Sicherlich zum Schmunzeln anregen dürfte die Buchillustration für das sogenannte „Gebetbuch Kaiser Maximilians I.“ um 1520. Sie zeigt den trunkenen Weingott Bacchus, wie er von Putten geneckt und „begossen“ wird.
Im weiteren Verlauf behandelt das Kuratorenteam kapitelweise einzelne Themen. Hans Baldung Grien verschloss sich schon allein aus wirtschaftlichen Gründen nicht der ab 1500 zunehmenden Beliebtheit von Porträts. Viele Wohlhabende schätzten, wie er Blick und Gestik individuell erfasste, zunächst in kleinen Formaten mit knappem Bildausschnitt und einfarbigem Grund. Ab 1520 änderte sich sein Stil. Er verlegte sich auf größere Bilder, integrierte Architektur- oder Landschaftskulissen im Hintergrund und malte die Porträtierten mit straffen Blicken. Vanitas-Bilder, die die Nichtigkeit alles Irdischen ins Gedächtnis rufen, Hexendarstellungen oder der Sündenfall sind weitere Themengruppen und stehen für schillernde Wechselspiele von Moral, Erotik und Schaulust. Zwar gewannen nach Durchsetzung der Reformation in Straßburg 1529 mythologische Sujets an Bedeutung, trotzdem schuf Baldung bis 1545 viele religiös geprägte Werke, die von einem subjektiv aufgefassten Manierismus zeugen. Zu den Bildern voller exzentrischer Übersteigerungen gehört auch das 2019 von der Kunsthalle Karlsruhe erworbene, fragmentarische Gemälde „Lot und seine Töchter“.
Hans Baldung Grien orientierte sich in seinem von der oberrheinischen Spätgotik über die Renaissance bis hin zum Manierismus reichenden Œuvre weniger an klassischer Statik als sein Lehrer Dürer. Ein affektreicher, in der Ausdruckskraft gesteigerter Duktus offenbart sich auch am Schluss der Schau. Vergänglichkeit und der Tod bestimmen das Spätwerk. Eines der letzten Bilder verhandelt „Die sieben Lebensalter der Frau“. Mit großem Realismus erfasste Baldung die Lebensabschnitte der Frau, die er als Aktfiguren mit Symbolen vor strahlend blauem Himmel ausführte. Auf halbreisförmigen Bogen beschreiben einzelne Altersstufen das Werden und Vergehen, das Auf und Ab des Lebens. Baldung schuf Bilder des Gespräches. Die intensiven Blicke der Figuren aus dem Bild nehmen Kontakt zum Betrachter auf. Sie fordern zum Nachdenken und zur Stellungnahme auf, um Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen.
Die Ausstellung „Hans Baldung Grien. heilig | unheilig“ ist bis zum 8. März zu sehen. Die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Geschlossen bleibt am Faschingsdienstag. Der Eintritt beträgt 12 Euro, ermäßigt 9 Euro bzw. 3 Euro. Zur Ausstellung sind ein umfangreicher Katalog, der im Museum 39,90 Euro kostet, und ein Tagungsband für 29,90 Euro im Deutschen Kunstverlag erschienen. |