| | Hans Hesse, Annaberger Bergaltar, 1520/21 | |
Zu Beginn sieht sich der Besucher einer besudelten Haldenlandschaft ohne Felder oder Wiesen gegenüber. Inmitten dieser Öde gehen Schmelzer, Haspelknechte oder Münzpräger ihrer Tätigkeit im Erzbergbau nach. Der wohl in Nürnberg ausgebildete Maler Hans Hesse gestaltete damit die Rückseite des 1521 geweihten Annaberger Bergaltars. Das Motiv hat das Leipziger Künstlerkollektiv Paula Ábalos, Emerson Culurgioni, Charlotte Eifler, Deborah Jeromin, Mikhail Tolmachev und Clemens von Wedemeyer nun zu der raumgreifenden Videoinstallation „Ausbeutung oder wie man die Oberfläche durchbricht“ verarbeitet. Im Mittelpunkt steht eine Restauratorin, die einzelne Ausschnitte analysiert, Recherchen zum Verhältnis von Arbeit und Macht anstellt sowie regionale Spuren aufsucht, die teils bis nach Bolivien führen. Dort und in Sachsen wurde unlängst auch Lithium geortet, ein elementarer Zusatz aufladbarer Batterien. Die Bewegungen der Restauratorin übersetzte das Künstlerteam mithilfe eines digitalen Trackingsystems in eine immer abstrakter werdende digitale Spur. Die Videoarbeit führt prägnant in das Ausstellungsthema ein: Ein Blick auf die Geschichte der Industrialisierung in Sachsen und ihre Auswirkungen auf Kunst und gesellschaftlichen Wandel.
Um 1470 lösten reiche Silberfunde ein „Berggeschrey“ aus. Fortan prägte über 500 Jahre hinweg der Bergbau das Erzgebirge. Hier fanden zahlreiche Arbeitszweige wie die Textilindustrie oder der Maschinenbau zusammen mit der Eisenbahn als Entwicklungsmotor günstigste Bedingungen für eine florierende Industrielandschaft. Im Gegensatz zu den begabten Tüftlern im deutschen Südwesten oder dem ab 1830 einsetzenden malochenden Stahlkochertum im monostrukturierten Ruhrgebiet prägte eine Vielseitigkeit der Produktpalette das Land Sachsen. Kunst und Wissen, Kapital und Arbeit, Technik und Gesellschaft balancierten ein produktives Spannungsverhältnis und führten zu wichtigen Innovationen. Bis zum Ersten Weltkrieg war Sachsen das Land mit dem höchsten Industrialisierungsgrad im Deutschen Reich.
In sechs Kapiteln mit hunderten Exponaten bietet die Landesausstellung „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“, die neben dem Hauptort im Zwickauer Audi-Bau an sechs korrespondierenden Schauplätzen im Erzgebirge stattfindet, keine Geschichte der Industrie, sondern wirft Schlaglichter auf die Auswirkungen auf Kunst und Gesellschaft über 500 Jahre hinweg. Eher unscheinbare Artefakte können dies evident vermitteln, etwa die bemalte Büchsenkasse der Freiberger Hüttenknappschaft von 1546. Alle Mitglieder mussten monatlich für wohltätige Zwecke hier einzahlen – ein Vorläufer der heutigen Sozialversicherung. 500 Gulden spendete übrigens die Knappschaft zur Herstellung des Bergaltars.
Der oft zitierte Leitsatz, dass der Barock in Dresden nie entstanden wäre, wenn es nicht das Silber aus dem Erzgebirge gegeben hätte, durchzieht alle Abschnitte. Erfindungen wie das „europäische“ Porzellan wären ohne das Wissen über Rohstoffe oder Verhüttungstechniken nicht denkbar. So waren neben dem Alchemisten Johann Friedrich Böttger bei der Produktion des ersten „Weißen Goldes“ im Jahr 1708 auch ein Physiker und ein Bergrat maßgeblich beteiligt. Nur so konnte die richtige Mischung und ein geeigneter Hochtemperaturofen für die Porzellanherstellung ermittelt werden. Die Johann Joachim Kändler griff für die Meißner Manufaktur diese Verbindungen auf und schuf 1752 etwa den prächtigen Tafelaufsatz einer Bergarbeitergruppe oder Putti mit bergmännischem Gezähe.
Die auf dem Bergbau fußende Wirtschaftskraft und die finanziellen Stärken mündeten in die opulente Prachtentfaltung Augusts des Starken. Bis heute prägen das Barock und der Bergbau das Selbstverständnis der Sachsen. Nach dem zerstörerischen Siebenjährigen Krieg (1756-1763) nahm als weiterer Leitsektor die Textilindustrie Fahrt auf. Eindrucksvoll zeigt dies die vom Pariser Bildhauer Michel Victor Acier aus Meißener Porzellan geschaffene, imperiale Huldigungsgruppe für Friedrich August III., die den jungen Kurfürsten auf Tuch und Bergbau stehend inszeniert. Neben der Spitzenherstellung brachte es die Strumpfwirkerei zur Weltgeltung. Viele Textilindustrielle pflegten weit verzweigte Beziehungen zu Kaufleuten, Künstlern und Humanisten wie etwa der Strumpffabrikant Herbert Esche. Er ließ sich vom Norweger Edvard Munch porträtieren, erwarb Landschaftsbilder und beauftragte Henry van de Velde mit den Planungen für seine Villa in Chemnitz, die heute zu den Inkunabel des Jugendstils zählt.
Auch die Maschinenbauindustrie mit revolutionären technischen Entwicklungen führte zu nachhaltigen Auswirkungen auf Kunst, Literatur und Politik. Im „roten“ Königreich Sachsen formierten sich Arbeiter- und Lebensreformbewegungen. Karl May flüchtete sich in exotische Fantasiewelten. Seine Bücher wurden Besteller und erste Vertreter einer Massenkultur, illustriert von dem Maler Sascha Schneider. Dessen Monumentalgemälde „Die Glut“ aus dem Jahr 1904 huldigt dem Körperkult und gilt als ein Hauptwerk des Symbolismus. Von Arbeitern, Fabriken und Eisenbahnen ließen sich gleichfalls die drei Architekturstudenten Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff inspirieren. Die Gründer der Dresdner Künstlergemeinschaft „Brücke“ und des deutschen Expressionismus brachen mit ihrer unmittelbaren unverfälschten Bildsprache und den provozierenden Sujets wie Tanz, Baden in Teichen, Großstadt- und Industrielandschaften mit tradierten moralischen Vorstellungen. Der als veraltet geltende, handwerklich anspruchsvolle Holzschnitt wurde von ihnen der scharfen Abgrenzungen und kontrastreichen Flächen wegen ausgiebig genutzt.
Das vierte Kapitel widmet sich der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Gebrüder Schocken von Zwickau aus mit dem Aufbau ihres Warenhauskonzerns den Sprung in die Konsumgesellschaft mit Qualitätsartikeln zu günstigen Festpreisen vorantreiben. Der Stararchitekt Erich Mendelsohn entwarf die repräsentativen Filialen, etwa in Stuttgart, Nürnberg oder Chemnitz. Aber wie tief die Schmerzen des Krieges noch saßen, manifestiert sich eindringlich in Otto Dix’ Porträt eines in seiner Dachkammer sitzenden Arbeiters mit hagerem Gesicht, brüchigem Blick und schwieligen Händen.
Mit Schlaglichtern auf die jüngere Vergangenheit läuft die Ausstellung im Audi-Bau aus. Harald Metzkes’ Ölgemälde „Die Näherinnen“ von 1982, die Vorstellung einer „Roten Brigade“ oder Wolfgang Mattheuers bekanntes Werk von der „Flucht des Sisyphos“ aus dem Jahr 1972 demonstrieren teils plakativ, teils hintersinnig, wie Künstler in der DDR mit der Arbeitswelt und dem Sozialistischen Realismus umgingen. Ihre Kunst steht zwischen Zwang und Freiheit und übt nicht selten subtile Kritik an den Verhältnissen.
Gelungen ist die Szenografie der Schau aus verglasten Hochregalgestellen am authentischen Standort. In den 1937 von Theophil Quaysin errichteten Hallen des Audi-Baus wurden einst serienmäßig Kleinwagen produziert. Nebenan findet der Leitgedanke in der Satellitenschau „AutoBoom“ im August Horch Museum seine Fortsetzung. Es geht hier um Forschungen und Visionen mit Verweisen auf die Künste. So hat der Grafiker Klaus Bürgle in den 1960er Jahren futuristische Verkehrs- und Stadtkonzepte entworfen. Die Schau „MaschinenBoom“ im Chemnitzer Industriemuseum begibt sich auf die Suche nach Veränderungen des Alltags durch Maschinen und fragt, was eigentlich eine Maschine ist. Schon die Griechen prägten das Wort „mechane“, was nichts anderes besagt als List, also Betrug an der Natur. Mit einigen Superlativen kann der Teil „EisenbahnBoom“ im ehemaligen Rangierbahnhof Chemnitz-Hilbersdorf aufwarten: In Sachsen wurden die ersten deutschen Lokomotiven gefertigt, liegt der erste deutsche Eisenbahntunnel, die erste deutsche Fernstrecke, mit Leipzig der größte deutsche Kopfbahnhof und mit der Göltzschtalbrücke die größte Ziegelsteinbrücke der Welt.
Als hätten die Textilarbeiter gerade ihren Arbeitsplatz verlassen, zeigt sich unter dem Titel „TextilBoom“ die alte Tuchfabrik der Gebr. Pfau in Crimmitschau. Hier ist das Inventar aller Produktionsabläufe komplett erhalten. Die markante Architektur des 1924 in Betrieb genommenen Förderturms überragt den Schauplatz der Schau „KohleBoom“ im Bergbaumuseum in Oelsnitz, wo die Bergleute im Mittelpunkt der Präsentation stehen. Hier sind erstmals die Grußformel „Glück auf“ sowie das berühmte „Steigerlied“ nachweisbar. Und wer einmal selbst in den Berg einfahren möchte, hat im Freiberger Forschungs- und Lehrbergwerk „Silberbergwerk“, das die Serie der Schauplätze unter dem Titel „SilberBoom“ abrundet, die Gelegenheit dazu.
Die Ausstellung „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“ im Audi-Bau Zwickau und an den sechs weiteren Standorten ist bis zum 31. Dezember verlängert. Der Eintritt in die Zentralausstellung in Zwickau beträgt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Das Kombiticket kostet 40 Euro, ermäßigt 20 Euro. Geöffnet ist täglich von 10 bis 18 Uhr. Der Ausstellungskatalog kostet an den Museumskassen 19,90 Euro.
Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen
Audi-Bau, Audistraße 9
D-08058 Zwickau
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