| | Forensic Architecture, Ape Law, 2016 | |
Ende August 2010 kam der französische Spielfilm „Enter the Void“ in die deutschen Kinos. In dem Streifen ging es um ein traumatisches Erlebnis eines Drogendealers, der in einer Kneipe namens „The Void“, die Leere, in einen Hinterhalt gerät und bei einer Schießerei mit der Polizei stirbt. Als Scheinwesen versucht er, zurückzukehren und seine Lücke zu füllen. Stefanie Böttcher, die Leiterin der Mainzer Kunsthalle, hat den Titel des Films für ihre aktuelle Ausstellung rekrutiert. In der Gruppenschau untersuchen Lawrence Abu Hamdan, Ursula Biemann, Forensic Architecture und Paulo Tavares aus unterschiedlichen Perspektiven Aspekte des Naturschutzes, von Tierversuchen oder Verhaltensmuster von Strafgefangenen. Dabei folgen die Künstler der Strategie, Lücken in der Übermittlung von Beweisketten, in der Rechtsprechung oder in unserer sinnlichen und physischen Wahrnehmung aufzuspüren und hervorzuheben.
Was sich anhört, wie die akribische Untersuchung von globalen Gerichtsprozessen, um Leerstellen zu entdecken, ist eine subtile Ausstellung, die mit Mitteln der Kunst höchst abstrakte Vorgänge visualisiert – in Zeiten von Corona, wo eine Depression das Land überrollt hat, keine leichte Kost. So greift der Jordanier Lawrence Abu Hamdan, der sich selbst als „private ear“ bezeichnet, in seiner künstlerischen Auseinandersetzung auf das Material Sprache, Klang und Ton zurück. In Mainz präsentiert er seine umfangreichen Recherchen, die er im syrischen Foltergefängnis Saydnaya angestellt hat. Über Amnesty International hatte Hamdan die Gelegenheit, mit sechs ehemaligen Häftlingen über ihre dortigen Erfahrungen zu sprechen. Nach einem Streik der Gefangenen wurden die Haftbedingungen extrem verschärft. Ihre Augen waren beständig verbunden, und sie durften nur noch flüstern. Die „fehlenden 19 Dezibel“ stellt Hamdan in dem schallisolierten Raum der Mainzer Kunsthalle nun aus.
In dem weißen Kubus gibt es ein Klangerlebnis, das, begonnen mit einer landenden Boeing über einen fahrenden Zug, das Reiben einer Karotte und der Aufnahme aus einem Luxusspa in der Schweiz bis zum Flüstern in Saydnaya, die Reduzierung von Klängen bis zur Stille hörbar macht. Zudem hat Hamdan außerhalb des Kubus 95 Gegenstände auf dem Boden der Halle und in Regalen verteilt. Sie sind sein fortlaufendes „Earwitness Inventory“ und halten Erinnerungen an Menschenrechtsverletzungen wach. Die Gegenstände symbolisieren Gerätschaften, die Töne erzeugen können, die man mit Tötungs- und Foltersequenzen in Verbindung bringt. Das Zerreißen eines starken Leintuchs beschreibt etwa das Geräusch von Gewehrsalven. In der Summe betrachtet, demonstriert Hamdans Installation die Hilflosigkeit des Menschen, Unvorstellbares zu beschreiben.
Forensic Architecture ist eine unabhängige Rechercheagentur an der Goldsmith University in London. Ihre Werkschau beginnt mit einer Dokumentation zum Fundort der Gebeine Josef Mengeles, der als Lagerarzt in Auschwitz-Birkenau tätig und für grausame Menschenexperimente und Vergasungen zahlreicher Unschuldiger verantwortlich war. Mengele starb 1979 in Südamerika, wohin er flüchten konnte. Anhand seines Schädels konnte Mengele durch einen DNA-Test identifiziert werden. Für Eyal Weizman, den Gründer Gruppe, ist diese Geschichte der Beginn der modernen Forensik. Lücken in medizinischen Beweisversuchen können mit neuen wissenschaftlichen Methoden geschlossen werden. In einer weiteren Arbeit geht es um Angriffe auf die Natur im Kontext geopolitischer Konflikte, etwa durch gezielte Rodung oder Vergiftung der Umwelt. Auf einem projizierten Globus sind die Orte hervorgehoben, an denen Forensic Architecture schon tätig war. In zwei Fallbeispielen aus Indonesien beschäftigen sich Filme mit Bränden in den Gebieten Kalimantan und Sumatra. Die Giftwolke dieser Brände zog nach Malaysia, Singapur, Thailand und Vietnam und kostete mehr als 100.000 Menschen das Leben.
So viele Männer und Frauen der indigenen Bevölkerung wurden für die Entwicklung einer lukrativen Monokultur geopfert; doch auch Orang-Utans starben. In der malaiischen Sprache bedeutet Orang-Utan „Mensch des Waldes“. Diese Spezies hat die größte physische Ähnlichkeit zur Menschheit. Auszüge von juristischen Verhandlungen in Sachen „Mensch des Waldes“ thematisiert der zweite Film. Dabei hat die Association of Professional Lawyers for Animal Rights 2014 versucht, unsere „Vorfahren“ rechtlich dem Menschen gleichzustellen, wenigstens jedoch eine neue Menschengruppe zu etablieren. Doch in diesem Grenzbereich ethischer und philosophischer Fragen gibt es noch eine begriffliche Lücke bei der Gesetzgebung, die das bis jetzt verhindert. Geschildert wird dies am Beispiel der Orang-Utan Dame „Sandra“, die den legalen Status einer „nicht-menschenähnliche Person“ erhielt und daher durch die Haltung in einem Zoogehege von Buenos Aires ihrer Freiheitrechte beraubt wurde. Immerhin existiert der Begriff „Ape Law“ für solche Fälle.
Mit der Natur beschäftigen sich auch Ursula Biemann und Paulo Tavares. Die Künstlerin und der Architekt präsentieren in „Forest Law“ eindringliche Aufnahmen des ecuadorianischen Regenwaldes und Gespräche mit Menschen, die seit Urzeiten diesen Wald als ihr zu Hause betrachten. So liefert er ihnen wichtige Heilmittel, die die indigene Bevölkerung in ihrer Naturmedizin mit großem Erfolg einsetzt. Der um Karten, Dokumente, Objekte und Publikationen ergänzten Zweikanal-Videoinstallation „Forest Law“ liegen mehrere Rechtsfälle zugrunde, die den Wald als eigenständige juristische Person, vertreten durch seine menschlichen Bewohner, behandelten. Dabei stand der Wald für die Bevölkerung als Haus, als der intimste und direkte Lebensraum, vor Gericht, den es zu erhalten gilt. Die Sarayaku vom Río Bobonaza im ecuadorianischen Teil Amazoniens haben ihren Prozess gewonnen. Lücken schließen sich, weil viele den Satz „Enter the void“ ernst genommen haben. Trotzdem bleibt immer noch ein Vakuum zwischen der Natur und unserer westlichen Gesellschaft, da sie schon lange nicht mehr miteinander koexistieren können.
Die Ausstellung „Enter the Void. Lawrence Abu Hamdan, Ursula Biemann, Forensic Architecture, Paulo Tavares“ ist bis zum 1. November zu sehen. Die Kunsthalle Mainz hat dienstags, donnerstags und freitags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs zusätzlich bis 21 Uhr und samstags und sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt regulär 6 Euro, ermäßigt 4 Euro. |