Jacqueline de Jong und ihr farb- und formgewaltiges malerisches Werk mit wenigen Sätzen zu charakterisieren, ist nahezu unmöglich. Es sperrt sich vehement gegen leichtfertige Einordnungen in irgendwelche wohlfeilen Kategorien oder Schubladen. Nonkonformistisch, mäandrierend zwischen den Stilen, unangepasst und ungestüm, voller Ambivalenzen und Widersprüche ist es aber allemal – und gerade daher in bewegten Zeiten wie diesen umso beachtenswerter.
Das Kunstmuseum Ravensburg zeigt nun mit der Ausstellung „The Ultimate Kiss“ als erstes Museum in Deutschland eine museale Einzelausstellung der seit den 1960er Jahren bis hinein in die unmittelbare Gegenwart unablässig tätigen Amsterdamer Künstlerin. Die Schau steht am Ende einer Ausstellungstournee, die bereits in den Institutionen Wiels in Brüssel und Mostyn im walisischen Llandudno zu sehen war. Ute Stuffer, die Direktorin des Ravensburger Museums, setzt zusammen mit ihrem Co-Kurator Axel Heil, Professor an der Kunstakademie in Karlsruhe, in Werkauswahl und Präsentation eigene Akzente. „Wir zeigen mit Jacqueline de Jong eine Künstlerin, die der Avantgardebewegung eine der wenigen weiblichen Stimmen verliehen hat“, so Ute Stuffer. Zu sehen sind über 90 Arbeiten aus den Medien Malerei, Skulptur, Pastellzeichnung, politisches Plakat und Künstlerbücher. Ein 73minütiger Dokumentarfilm mit dem Titel „Jacqueline de Jong – The Art Rebel“ vermittelt zudem unmittelbare Einblicke in Leben, Charakter, Vorlieben und Leidenschaften der temperamentvollen Künstlerin.
Mit der Ausstellung knüpft das noch junge, erst 2013 eröffnete Museum Ravensburg aber auch an die Bestände der eigenen Sammlung an. Basiert diese doch auf der Dauerleihgabe der rund 230 Werke umfassenden Stiftung Peter und Gudrun Selinka, einer seit den 1960er Jahren aufgebauten Privatsammlung mit den Schwerpunkten Expressionismus, Gruppe Spur und Gruppe CoBrA. Und genau zu den Mitgliedern dieser beiden Künstlergruppen pflegte auch Jacqueline de Jong enge, die Anfänge ihrer eigenen Malweise durchaus prägende Kontakte. Mit dem 25 Jahre älteren, dänischen Maler Asger Jorn, der zu den Gründern von CoBrA, aber auch der Situationistischen Internationale gehörte, war sie zehn Jahre lang liiert. Ihre von Höhen und Tiefen gekennzeichnete eigene Mitgliedschaft bei den männlich dominierten Situationisten, bestimmte ihren weiteren Weg. Abgesehen von ihr und der Schriftstellerin Michèle Bernstein gab es keine weiblichen Mitglieder. Guy Debord, der Chefdenker der radikalavantgardistischen Künstler- und Intellektuellengruppe, die Kunst und Leben miteinander vereinen wollte, machte sie zur Leiterin der Niederländischen Sektion. Doch nur zwei Jahre später wurde Jacqueline de Jong aufgrund ihrer nicht mit den zunehmend antikapitalistischen und kunstmarktfeindlichen Dogmen der Vereinigung übereinstimmenden Ansichten bereits wieder ausgeschlossen. Sie hatte sich der Forderung, ihre Kunstproduktion komplett aufzugeben und nur noch theoriebezogen-politisch tätig zu sein, einfach verweigert.
Typisch für ihren bis heute ungebrochenen Widerstandsgeist reagierte sie auf den Rausschmiss allerdings nicht mit Rückzug und Resignation. Stattdessen ging sie in die Offensive, indem sie mit dem zwischen 1962 und 1967 in nur sechs Ausgaben erschienenen Magazin „The Situationist Times“ eine englischsprachige Zeitschrift gründete, die bis heute Kultstatus genießt. Während sie sich in den Morgenstunden mit Künstlerkollegen und der interdisziplinär zusammengesetzten Autor*innenschaft vernetzte, um die jeweils nächste Ausgabe ihres Magazins zu planen, widmete sie sich im späteren Verlauf des Tages ihrer Malerei. In bester situationistischer Tradition versammelte die einem Bilderatlas gleiche Publikation Essays, Manuskripte, eigene und fremde Zeichnungen, Fotografien, Found Footage-Materialien und Ephemera. Neben Künstler*innen wurden auch Vertreter*innen anderer Disziplinen wie Musik, Architektur, Astrophysik oder Geschichtswissenschaften mit ihren Beiträgen berücksichtigt. Alle sechs Ausgaben werden in Ravensburg gezeigt. Es stehen auch Faksimileexemplare zur Verfügung, die durchgeblättert werden können.
Den Mittelpunkt der Schau machen jedoch ihre Bilder aus. Das titelgebende Gemälde „The Ultimate Kiss“ von 2002/12 präsentiert das Spektrum des artistischen Könnens von Jacqueline de Jong: Erotik, Gewalt und einen hintergründigen Humor bringt sie in ihren Bildern auf so unnachahmliche Weise zusammen, dass man ungeachtet allen Schreckens immer auch das Leben feiernde, komische oder versöhnliche Bildelemente entdeckt. Wer ist dieser fleischfarbene nackte Greis, der einem mutmaßlich weiblichen Gegenüber, das ganz in Grau gehaltenen ist und eher einem durchscheinenden Röntgenbild als einem lebendigen Wesen gleicht, seine flammenartige Zunge in den Mund rammt? Ist es der Tod, der das Mädchen küsst, wie Axel Heil es in seinem Katalogessay nahelegt? Oder gar Russland, wie es sich die Ukraine gefügig macht? Das kann natürlich nicht sein, denn das Bild wurde bereits vor zehn Jahren vollendet. Doch die Geschichte wiederholt sich. Die Stärkeren werden sich immer wieder der Schwächeren bemächtigen, während die am Konflikt Unbeteiligten einfach nur verdutzt zuschauen. Genau wie die kleine Kuhherde oben links in diesem Bild.
Ute Stuffer und Axel Heil gelingt es, die vielfältigen Kontinuitäten und Brüche im Werk Jacqueline de Jongs über die sechs Jahrzehnte ihres Schaffens anhand diverser größerer Werkgruppen nachvollziehbar zu vermitteln. Da sind etwa die in den 1960er Jahren entstandenen, neoexpressionistischen „Accidental Paintings“ und „Suicidal Paintings“, erzählerisch aufgeladene Bilder voller monströser Gestalten, hybrider Mischwesen aus Mensch, Reptil und Maschine, deformierter und ineinander verkeilter Autos, Fahrräder, Gerippe, Schädel und Körper. Clowneske Schwabbelwesen entsteigen da den Wracks und fallen – offenbar durch den Crash besonders erregt – hemmungslos übereinander her.
Anders wiederum kommen die Anfang der 1970er Jahre entstandenen Kofferbilder der Werkgruppe „Diptychs (Chronique d’Amsterdam)“ daher. Diese mit Tragegriffen und Scharnieren versehenen Holzboxen mit zwei quadratischen Leinwänden waren dafür gemacht, ohne großen Aufwand transportiert und an wechselnden Orten ausgestellt zu werden. Jacqueline de Jong entfaltet auf den Diptychen eine zeitgeistige, an die Ästhetik von Werbung und Massenmedien angelehnte Welt voller Anspielungen auf die sexuelle Befreiung, aber auch auf die Unterdrückung der Frau. Popkulturelle Versatzstücke wie Darstellungen von modernen Haushaltsgeräten, Fernsehern, Fußballspielern, Schlittschuhläufer*innen, Formel-1-Boliden, Flipperautomaten und vieles mehr treffen in scheinbar unhierarchischer Montagetechnik auf schwer entzifferbare Tagebuchaufzeichnungen. Ebenso beiläufig wird aber auch schwuler Gruppensex an der Schwelle zur Vergewaltigung verhandelt.
Von großer realistischer Klarheit und einer an die Neue Sachlichkeit erinnernden Reduktion auf das Wesentliche charakterisiert sind dagegen die Werke der zwischen 1976 und 1978 entstandenen Serie „Billiards“. Im Zentrum stehen hier der grüne Filztisch, die rot und weiß lackierten Kugeln und der fast immer von Männerhänden geführte Queue. Gelackte Typen mit gestreiften Hemden, Oberlippenbärten und teuren Accessoires wie aus der Luxusgüterwerbung mühen sich in teils manierierten Posen, der Kugel einen wohldosierten Stoß zu verpassen. Auch diese Gemälde sind voller latent erotischer Anspielungen, was die mitunter zweideutigen französischsprachigen Titel noch unterstreichen.
Von bedrückender Aktualität wiederum sind die Werke aus den beiden Kriegsserien, die Jacqueline de Jong während des Golfkriegs in den 1990er Jahren und während des Syrienkriegs 2013 gemalt hat. Besonders die Pastelle aus der Serie „War 1914-1918“ ziehen drastisch Parallelen zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Syrienkrieg. Gasmasken, eingefallene Schädel mit tiefen Augenhöhlen, Skelette in nächtlicher Umgebung und rollende Panzer vermitteln ein Kriegsgeschehen, das angesichts der russischen Invasion in der Ukraine wieder eine furchtbare aktuelle Bedeutung gewinnt.
In der Serie „Border-Line“, die Jacqueline de Jong 2020 während des Corona-Lockdowns gefertigt hat, setzt sich die Künstlerin mit der Situation von Flüchtlingen auseinander. Stacheldrahtzäune, geschundene Körper, Lager wie das angezündete Flüchtlingscamp Moria oder übervolle Boote auf dem Mittelmeer zeugen hier von einem schicksalhaften Leben voller Hunger, Flucht und Diskriminierung. Jacqueline de Jong hat als Kind selbst erlebt, was Ausgrenzung, Flucht und Vertreibung bedeuten. Geboren wurde sie 1939 im ostniederländischen Hengelo als Tochter eines jüdischen Textilfabrikanten. 1942 schaffte es ihre Mutter unter abenteuerlichen Umständen, gemeinsam mit ihr ins Schweizer Exil zu gelangen und der Deportation durch die Nazis in letzter Minute zu entkommen. Bereits 1947 erfolgte die Rückkehr in die Niederlande. Nachdem sie Ende der 1950er Jahre die Schule beendet hatte, folgten Jahre der Orientierung und des Ausprobierens. So studierte sie in Paris Französisch und Theaterwissenschaften, jobbte bei Christian Dior und ging danach mit der Absicht, Schauspielerin zu werden, nach London.
Nachdem sie diesen Plan fallen gelassen hatte, kehrte Jacqueline de Jong nach Amsterdam zurück und erlag während einer dreijährigen Assistenztätigkeit für den damaligen Direktor des Stedelijk Museums, Willem Sandberg, der Anziehungskraft des zeitgenössischen Kunstbetriebs und seiner Protagonisten, darunter Armando und Constant, aber auch der Mitglieder der deutschen Gruppe Spur. Schon Jacqueline de Jongs Eltern waren bedeutende Kunstsammler und ihr der Umgang mit Kunst und Künstlern bereits von klein auf vertraut. Ihre Beziehung zu Asger Jorn ebnete ihr dann den Weg nach Paris und weckte den Wunsch, selbst künstlerisch tätig zu sein. Nach der Trennung der beiden 1969 und einem insgesamt zehnjährigen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt zog sie 1971 wieder nach Amsterdam.
Bis heute hat sich Jacqueline de Jong ihre künstlerische und intellektuelle Unabhängigkeit erhalten. In einem Interview anlässlich der aktuellen Ausstellung äußerte sie sich folgendermaßen: „Das Wichtigste in meiner Arbeit ist, mich nicht einer bestimmten Interpretation anzupassen, völlig widersprüchlich und frei im Kopf zu bleiben. Soll das Publikum doch machen, was es will… Hauptsache, es geschieht mit Humor!“ Man kann das durchaus als ihr Credo verstehen.
Die Ausstellung „Jacqueline de Jong – The Ultimate Kiss“ läuft bis zum 26. Juni. Das Kunstmuseum Ravensburg hat dienstags von 14 bis 18 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr und donnerstags bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 7 Euro, ermäßigt 5 Euro. Jugendliche bis 18 Jahre erhalten freien Eintritt. Der Katalog aus dem Verlag Mercatorfonds in englischer Sprache mit deutschsprachigem Supplement kostet 39,95 Euro. |