Angela Merkel, unsere gerade verabschiedete Bundeskanzlerin, ist eigentlich eine Wasserlilie, während Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder als Trichterwinde auftaucht, ein Unkraut, das man im Sommer häufig auf Feldern findet, und Helmut Kohl, der verstorbene Altkanzler, reckt seinen Kopf stolz aus einer Calla, einer Blume, die schon für manche erotische Fotografie herhalten musste. Diese gewagten Assoziationen findet man derzeit in der Mainzer Kunsthalle im Turmzimmer, also ganz oben. Für diese Thematik hat sich der im Libanon geborene und in den USA lehrende Künstler Walid Ra’ad entschieden. Er zeigt unter dem Titel „We Lived So Well Together“ einen neuen Werkblock, der erstmals im deutschsprachigen Raum zu sehen ist, und präsentiert dazu eine bunte vielfältige Sammlung aus der Welt der Vögel, Heuschrecken, Wasserfälle, Blumen und Fliegen, aber auch Motoren, die man mit der jüngeren Vergangenheit des Nahen Ostens verbindet.
So gehen die eigentümlichen Collagen aus Pflanzen und Politikerköpfen in Ra’ads Wand- und Bodentapete „Better be watching some clouds“ auf eine Geheimdienstagentin zurück, die während des Bürgerkrieges für die libanesische Armee gearbeitet und als Codenamen für ausländische Staatsoberhäupter Blumen verwendet haben soll. Walid Ra’ad ist ein Sammler, einer der mit 16 Jahren aus dem Libanon nach Amerika geschickt wurde, weil seine Eltern ihm nicht noch mehr Krieg zumuten wollten. Es war die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 dauerte. Erst nach Ende des Kriegs kehrte Ra’ad für einen längeren Aufenthalt in seine Heimat zurück. Der 1967 geborene Libanese hat das, was in seinem Heimatland und überhaupt im Nahen Osten passierte, nie vergessen und begonnen, mit Wissensdrang und Spürsinn Kontinente durch reale oder aber erdachte Objekte zu überbrücken. Er schuf Kunstgebilde, die versteckte Formen der Gewaltausübung lesbar machen, und hat damit ein weitverzweigtes System aufgebaut, das Erdteile, Personen, kriegerische Akte und Naturkatastrophen umspannt und miteinander verbindet. Damit stellt er wichtige Fragen über das Verhältnis von Fakten und Fiktion in historischen Narrativen, vor allem zur verworrenen Geschichte des Nahen Ostens und ihrer Verbindung zu anderen Staaten der Erde.
In der ersten Ausstellungshalle in Mainz stehen zwei monumentale Skulpturen aus der Reihe „I long to meet the masses once again“, die in ihrem Schattenwurf an riesige Schachfiguren erinnern – den König, den Springer, die Dame? Gefertigt sind sie aus Holzboxen, die dazu dienten, eilig abgebaute öffentliche Denkmäler Beiruts 1975 zu zerlegen, zu verpacken und an verschiedenen Orten aufzubewahren. Dabei sollen auch etliche Kisten in Mainz gelagert worden sein, wo, weiß allerdings niemand. Dreißig Jahre später hat man sie zusammengetragen, geöffnet und versucht, die alten Denkmäler zusammenzufügen. Aber ohne Pläne, Fotos etc. kamen merkwürdige Gebilde heraus, wie Walid Ra’ad sie nun in Mainz zeigt. So kreiert er Dokumente, Artefakte mit einem vermeintlich persönlichen Bezug, die sich aber auf einmal in Beziehung zu geopolitischen Konflikten und anderen Phänomenen setzen lassen.
In der Fortsetzung entstehen eigenartige Blüten in der Kunsthalle: In der Videoinstallation „Comrade leader, comrade leader, how nice to see you“ plätschern die „Fickle Falls“ auf winzige Politiker, Wasserfälle, die immer neue Namen von jenen Politikern bekamen, die Milizen im Libanon unterstützen. Es finden sich Iznik-Motive, klassische blau-weiße Blüten und Blätterformen hinter Bildern, so hinter dem Rubens aus der Kölner Kirche St. Peter. Oder es verstecken sich Heuschrecken hinter Bildern, die auf die Heuschreckenplage von 1915 in Palästina verweisen. Und dann wieder finden sich Blätter von typischen nordamerikanischen Bäumen, die mit Insekten besetzt sind, die diese Unikate gerade vernichten. Woher nimmt Ra’ad diese zwischen Fiktion und Realität angesiedelten Geschichten, die man ihm gerne glauben mag?
In der Zwischenebene der beiden Eingangshallen hängt ein PKW-Motorblock an einer schweren Eisenkette von der Decke. Auf einem historischen Foto an der Wand sieht man Politiker und Militärs, die diesen einsamen Motor betrachten. Während der Kriegsjahre wurden im Libanon 3.641 Autobomben gezündet. Das einzige, was dabei nicht zerstört wurde, war der Motorblock, der weit durch die Gegend geschleudert wurde. Diese Blocks, meistens aus Fahrzeugen der Marken Mercedes oder BMW, wurden gesichert, nach Deutschland zur Forensik geschickt und vergessen, denn sie stammen aus gestohlenen Autos. Walid Ra’ad hat sie in Stuttgart wieder entdeckt und für seine neue Installation „My neck is thinner than a hair: The Benz“ aufgekauft. Für wenig Geld, wie er sagt. In Mainz wird es zum Ende der Ausstellung Führungen mit dem Künstler geben. Hier erfährt man noch mehr über Ra’ad und seine künstlerische Recherchen zu den Konflikten im Nahen Osten und ihren weltweiten Bezügen.
Die Ausstellung „Walid Ra’ad – We Lived So Well Together“ läuft bis zum 15. Mai. Die Kunsthalle Mainz hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, am Mittwoch zusätzlich bis 21 Uhr und am Wochenende erst ab 11 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt regulär 6 Euro, ermäßigt 4 Euro. |