 |  | Franz Marc, Liegender Stier, 1913 | |
Vergangenes mit Aktuellem zu verschränken, erweist sich immer wieder als gute Strategie zum Verständnis einer Entwicklung. Der Hagener Sammler Karl Ernst Osthaus richtete seinen Blick nicht nur auf die Malerei des späten 19. Jahrhunderts, sondern wandte sich auch jungen Kunstströmungen zu, speziell dem Expressionismus. Und so setzt die chronologisch aufgebaute Jubiläumsschau im Essener Museum Folkwang mit postimpressionistischen Gemälden ein. Unter den Meisterwerken neigt Paul Signacs im Jahr 1900 getupfte Flusslandschaft „Saint-Cloud“ mit ihrer flirrenden Charakteristik allerdings schon zu Gesten verwirrenden Opponierens. Viele zunächst impressionistisch Malende schwenkten später zum expressiven Duktus über oder ließen sich zumindest davon inspirieren, wie es Gemälde von Erich Heckel oder Gabriele Münter deutlich offenlegen.
Zahlreiche Expressionisten bewunderten Edvard Munch, dem Karl Ernst Osthaus in seinem 1902 in Hagen gegründeten Museum vier Jahre später eine Einzelschau widmete. Zu ihm und vielen anderen Künstlern pflegte der Sammler enge Verbindungen, und so ist sein Fundus auch das Ergebnis dieser Freundschaften. Intensive Kontakte unterhielt Osthaus zur Künstlergemeinschaft „Brücke“, der er 1907 und 1910 Ausstellungen ermöglichte. 1913 veranstaltete Osthaus für Ernst Ludwig Kirchner die erste Soloschau seiner Karriere, 1914 folgte Karl Schmidt-Rottluff, im Zuge dessen er die aus plakativen Farbzonen komponierte „Landschaft mit Feldern“ erwarb. Aber auch Künstler des „Blauen Reiter“ fanden sein Interesse. So holte er 1912 deren erste Ausstellung aus München nach Hagen, wo Arbeiten von August Macke und Gabriele Münter zu sehen waren. Neben separaten, den beiden Künstlergruppen gewidmeten Abschnitten verweist Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis mit Kamelienzweig“ auf die 1913 ausgerichtete erste posthume Schau der Malerin, die ihr einen Anerkennungsschub verschaffte. 1957 gelang dem Museum Folkwang der Rückkauf des als „entartet“ verfemten Werks.
Dokumente bereichern zudem die von Tobias Burg zusammengestellte Auswahl an Exponaten. Ein Schlaglicht auf Osthaus’ enge vertrauensvolle Kontakte wirft der Briefwechsel mit Egon Schiele, in dem dieser aus Geldsorgen dringend um Ankäufe ersuchte mit dem Ergebnis, dass Osthaus für elf Aquarelle 250 Kronen springen ließ. 1912 veranstaltete Osthaus die erste und einzige Museumsschau zu Schieles Lebzeiten in Hagen. Sein eindrucksvoll wie ausgezehrt wirkendes Selbstbildnis mit gesenktem Kopf aus diesem Jahr lieh das Wiener Leopold Museum aus. Im Jahr 1910 war das Folkwang das erste Museum, das sich ein Gemälde Oskar Kokoschkas zulegte. Im Folgejahr konnte Osthaus nach einer Einzelschau zu Franz Marc dessen „Weidende Pferde“ für sein Museum sichern. August Mackes 1914 gemaltes Bild „Frau mit Sonnenschirm vor Hutladen“, das Osthaus 1920 erwarb, gehört heute zu den Signaturbildern des Folkwang. Erstrangige Plastiken von Ernst Barlach und Wilhelm Lehmbruck ergänzen das ausschließlich von Heroen der Moderne präsentierte malerische Werk.
Auch der Direktor des Kunstmuseums der Stadt Essen, Ernst Gosebruch, war fasziniert vom Expressionismus. Er unterstützte den 1922 nach Osthaus’ Tod erfolgten Ankauf von dessen Kunstsammlung durch ein Konsortium aus Stadt, Industrieverbänden und Sponsoren und die Verschmelzung mit den städtischen Kunstbeständen. Gosebruch war wie Osthaus vom Werk einzelner Künstler stark begeistert, insbesondere von Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner, dessen Entwürfe für eine Wandgestaltung im Festsaal des erforderlich gewordenen Erweiterungsbaus leider nicht umgesetzt wurden.
Mit großer Beklemmung steht der Besucher am Ende der Schau vor einer Wand mit 31 dicht beschriebenen Seiten. Die Liste „entarteter Kunst“ im Museumsbestand umfasste insgesamt rund 1400 konfiszierte Werke, das größte singuläre Konvolut dieser Nazi-Aktion überhaupt. Die meisten Arbeiten wurden zu Spottpreisen abgestoßen. Rund 500 Werke davon stammten von Nolde, zu dem Osthaus eine enge Beziehung unterhielt. Auch einige seiner um 1913/14 gemalten und idealisierten Südseebilder sind zu sehen, die wie die Sammlung Höhen und Tiefen einer Epoche signalisieren. Nach Beschädigung des Museums im Zweiten Weltkrieg präsentierte der neue Direktor Heinz Köhn schon im Herbst 1948 im Ausweichquartier auf Schloss Hugenpoet eine Auswahl expressionistischer Kunst.
Als 1958 der Neubau am alten Standort eröffnet wurde, geschah dies abermals mit einer bewegenden Retrospektive zur „Brücke“, aus der nun viele Gemälde wieder zu sehen sind. Wenn möglich, wurden nach 1945 Rückkäufe getätigt, darunter August Mackes bedeutendes Bild vom Hutladen. Zu den am Schluss präsentierten jüngsten Neuzugängen zählen Erich Heckels Farbholzschnitt „Zweie ruhende Frauen“ von 1909, der beim Auktionshaus Ketterer netto 360.000 Euro kostete, und Hermann Max Pechsteins „Tänzer“ von 1910, die beim selben Versteigerer für 1 Million Euro zugeschlagen wurden. So bewegt man sich heute noch in den Bahnen eines visionären Sammlers mit untrüglichem Gespür, dem das Essener Haus seine globale Reputation verdankt.
Die Ausstellung „Expressionisten am Folkwang. Entdeckt – Verfemt – Gefeiert“ ist bis zum 8. Januar 2023 zu besichtigen. Das Museum Folkwang hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags und freitags bis 20 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 14 Euro, ermäßigt 8 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der im Museumsshop 38 Euro kostet. |