„Das Loch ist meine Erfindung, mehr gibt es nicht zu sagen. Nach dieser Erfindung kann ich sterben.“ Daher verstand Lucio Fontana seine Arbeiten auch nicht als Bilder, sondern als Kunstkonzepte und bezeichnete seine meist einfarbigen, durch Schnitte oder Löcher in den Raum hin geöffneten Leinwände als „Concetto spaziale“. Mit ersten perforierten Kunstwerken experimentierte der gebürtige Argentinier italienischer Abstammung im Jahr 1949. Mit seinen „buchi“ und „tagli“, den Löchern und Schnitten, realisierte Fontana in den folgenden Jahrzehnten fast unendliche Variationen seiner Grundidee, durchbrach mit dieser radikalen Geste die flache Oberfläche des Bildes und holte somit Räumlichkeit und Tiefe als dritte Dimension in seine Werke. Auch ein rosafarbenes „Concetto spaziale“ hat Fontana im Jahr 1965 mit einem großen Loch geöffnet, an dessen Rändern sich die Farbe dick aufwirft. Zudem konzentrierte er die Öffnung durch fein geritzte Linien auf dem planen Farbgrund, die dadurch noch mehr als Vulva erscheint. Für diesen fleischfarbenen, erotischen Höhepunkt im Schaffen Fontanas hat das Dorotheum nun 600.000 bis 800.000 Euro vorgesehen.
Seine „buchi“ und „tagli“ wandte Lucio Fontana auch im Skulpturalen an. Dafür listet der Katalog zur Auktion „Zeitgenössische Kunst“ das „Concetto spaziale, Natura“ von 1967: zwei glänzend polierte Messingarbeiten in Eiform, eine mit zwei dunklen Löchern, die andere mit einem langen Schnitt (Taxe 90.000 bis 120.000 EUR). Mit Fontanas Konzept war der „Spazialismo“ geboren, der vor allem in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg seine Anhänger fand. Zu ihnen gehörte Paolo Scheggi, der meist mehrere monochrome Leinwände übereinander legte und durch gerundete Öffnungen eine Plastizität erreichte, so auch bei dem Querformat „Intersuperficie curva dal giallo + rosso“ von 1967 (Taxe 180.000 bis 260.000 EUR). Agostino Bonalumi gestaltete seine Raumerweiterungen, indem er hinter die Leinwand Holzelemente einbrachte, die zu Reliefstrukturen führten, recht aufwändig bei seinem „Bianco“ von 1965 mit einer kreisrunden Erhebung und vier Graten, die sogar das Geviert der weißen Leinwand durchstoßen (Taxe 65.000 bis 85.000 EUR). Enrico Castellani ging ähnlich vor und reliefierte seine Leinwände von der Rückseite durch Nägel, so auch bei der großen Dreiecksform „Superficie bianca“ von 1986 (Taxe 250.000 bis 350.000 EUR) oder dem titelgleichen, kleineren, ebenfalls weißen Quadrat von 1999 (Taxe 120.000 bis 180.000 EUR).
Insgesamt macht die Kunst aus Italien am 30. November im Dorotheum wieder etwas her. Der gestisch kraftvolle Entwurf für das berühmte Werk „Il Grande Rosso“ aus dem Jahr 1963, bei dem Afro Basaldella mit Tempera und Collage auf einer lithografischen Unterlage hantierte, um die endgültige Komposition zu erreichen (Taxe 50.000 bis 70.000 EUR), steht Mario Deluigis feinem weißem Liniengespinst „Grattage G.J. 93“ auf goldbraunem Grund aus der Zeit um 1960 gegenüber (Taxe 25.000 bis 40.000 EUR). Mit an Buchstaben erinnernden Schriftzeichen hat Giuseppe Capogrossi seine in Weiß, Rot und Schwarz unterteilte Leinwand „Superficie n. 149“ von 1956 überzogen (Taxe 75.000 bis 110.000 EUR). Für Carla Accardi war die Malerei eine Erforschung der Farben und des Lichts, das sie ausstrahlen, kongenial umgesetzt bei ihrem „Bluviola“ von 1972 mit archaischen Zeichenflüssen in Violett auf dunkelblauem Fond (Taxe 65.000 bis 85.000 EUR). Ein für die Nachkriegsepoche noch ungewöhnliches Material bevorzugte Giuseppe Uncini: Stahlbeton und seine Armierungen, mit denen er seine meist geometrischen Strukturen tektonisch kraftvoll konstruierte, so auch sein hochrechteckiges „Cementarmato“ von 1961 (Taxe 100.000 bis 160.000 EUR).
Während Piero Dorazio seine quadratische ungrundierte Leinwand 1967 mit verschiedenfarbigen Balken in vier kleinere Rechtecke geometrisch gegliedert hat (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR), lebt Tancredis ebenfalls titelloses Gemälde von 1953 durch blütenartige Farbüberlagerungen, die eine subtile chromatische Fantasie freisetzen und einen zarten, rhythmisierten und der Natur abgeschauten Raum eröffnen (Taxe 90.000 bis 120.000 EUR). Der Arte Povera-Künstler Alighiero Boetti erstellte die Serie seiner Kugelschreiberzeichnungen partizipativ mit verschiedenen Studentinnen und Studenten, so auch das rote Diptychon „Naturale Artificiale“ von 1982, bei dem die unregelmäßige Struktur und die Farbabstufungen hervorstechen (Taxe 160.000 bis 280.000 EUR). An der linken Seite hat er die Buchstaben des Alphabets aufreihen lassen, die wiederum bei seinen Wandteppichen eine Rolle spielen. Allerdings fügen sich bei diesen Stickbildern, mit denen Boetti ebenfalls die Urheberschaft des Künstlers in Frage stellte und sie von afghanischen Frauen anfertigen ließ, die Buchstaben zu Worten, wie 1988 zu dem bunten Quadrat „Perché la testa è amica del piede ed entrambe di lune e maree“ – „Weil der Kopf der Freund des Fußes ist, und beide Freunde von Monden und Gezeiten sind“ (Taxe 45.000 bis 65.000 EUR).
Highlight bei der Kunst aus Frankreich ist Georges Mathieus gestische Malerei „Aglia Tan“ von 1987, bei der er die Farben Rot, Ocker, Rosa und Weiß explosiv und teils in Rauchschwaden auf schwarzem Grund aufgebracht hat (Taxe 220.000 bis 300.000 EUR). Dahinter folgt bei 180.000 bis 220.000 Euro sein Informel-Kollege Hans Hartung mit seinen charakteristischen blaugrünen Strichfolgen „T 1964 – E 40“, die sich über einer zweigeteilten Leinwand mit den Farbzonen Schwarz und Orange erheben. Aus Hartungs Todesjahr 1989 stammt das mit Spritzpistole ausgeführtes Werk „T 1989 – R42“ einer wilden Farbschlierenschlacht (Taxe 90.000 bis 120.000 EUR). Als einer der wenigen figurativ arbeitenden Künstler der Versteigerung tritt der Belgier Jean-Michel Folon mit seiner Skulptur „La pêche miraculeuse (Buste aux poissons)“ von 2005 auf. Die grün-golden patinierte Bronze seines typischen Jedermanns mit Hut, der in seinen Händen einen großen Fang Fische hält, erinnert ein wenig an das Neue Testament (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR).
Als Duo arbeiteten Christo und Jeanne-Claude in den 1970er Jahren an ihrem Projekt „Running Fence“, das sie 1976 in Kalifornien realisieren konnten. Vierzehn Tage lang wogte der 39 Kilometer lange weiße Stoff im Wind durch die Landschaft und reflektierte das Licht in verschiedenen Schattierungen. Die Kosten für das temporäre Kunstwerk brachten die beiden durch den Verkauf von Studienmaterial auf, von dem nun eine zeichnerische Collage von 1975 für 95.000 bis 120.000 Euro zu haben ist. Vergleichbar ist ihr „Wrapped Snoopy House“ von 2004 als Reminiszenz an die Peanuts und ihren Schöpfer Charles M. Schulz für etwas günstigere 85.000 bis 100.000 Euro. Ganz auf das Medium Zeichnung setzte Cy Twombly bei einem Blatt von 1963/64, das in der Mitte die einzelnen Bildelemente aus Linien, Wirbeln oder Knäueln aufsteigen und mit figürlichen Wesen samt Sprechblasen an Comic-Anleihen denken lässt (Taxe 140.000 bis 160.000 EUR).
In der Auktion ist die „Tupfenprinzessin“ schlechthin vertreten – Yayoi Kusama, die mit ihren „Polka Dots“ alles überzieht, dessen sie nur habhaft werden kann: Leinwände, Skulpturen, Installationen, aber auch Menschen und die Natur. Eines ihrer charakteristischen Kürbis-Bilder von 2002 mit schwarzen Punkten auf rotem Grund steht für 250.000 bis 350.000 Euro bereit. Übertrumpft wird Kusama von einer Königin: 1985 porträtierte Andy Warhol in seiner Serie „Reigning Queens“ auch Elizabeth II. und nahm sich dafür das offizielle Foto anlässlich ihres 25jährigen Thronjubiläums als Vorlage her. Der Siebdruck mit der ebenmäßigen Schönheit der britischen Königin aus einer Auflage von 40 Stück verlangt 150.000 bis 200.000 Euro. Pathos und Dramatik sprechen dann aus Bill Violas Videodiptychon „Union“ von 2000, in dem er universelle menschliche Erfahrungen anspricht und eine Frau und einen Mann angestrengt und fast verzweifelt zu dem Licht über ihren nackten Körpern recken lässt (Taxe 120.000 bis 160.000 EUR). Mit Peter Halley und seinem Werk „Six Prisons“ von 2006 geht es dann wieder in die geometrische Abstraktion. Allerdings sieht er darin eine Geometrisierung der Landschaft und damit verbunden eine Vorherrschaft des Modells, das eine spezifische Realität immer weiter zurückdrängt (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR).
Gegenständliches und Ungegenständliches verbinden sich auch in Hermann Nitschs Schüttbildern, hat er doch in seine drei Meter breite, rote, pastose Farbschlacht von 1995 in Kreuzform ein Malhemd integriert (Taxe 80.000 bis 140.000 EUR). Joannis Avramidis hat 1972 bei seiner Bronze „Kleiner Schreitender“ die menschliche Figur soweit abstrahiert, dass von ihr kaum noch etwas übriggeblieben ist; man kann lediglich noch ein Schrittmotiv ausmachen (Taxe 40.000 bis 45.000 EUR). Bild und Skulptur kombinierte Franz West 1989 in einer zweiteiligen Installation. An der Wand hängt ein rechteckiges schrundiges Tableau in Grün, davor steht sein weißes Passstück namens „Maulschelle“. Mit diesen Gebilden aus Pappmaché und Gips, die laut West Prothesen sind, um Neurosen zu behandeln, sollten die Ausstellungsbesucher ursprünglich nach Lust und Laune hantieren können, was man sich bei seinem „Watschenaltar“ auch gut ausmalen kann (Taxe 180.000 bis 260.000 EUR). Auf Reduktion der Mittel setzt dagegen Helmut Federle, wenn er für seine Farbfeldmalerei „Null Bild Serie, 2. Phase, Tafel A“ von 1993 auf monochrom grauem Aluminiumquerrechteck ein weiteres leicht aufgehelltes Rechteck einschreibt (Taxe 40.000 bis 60.000 EUR).
Mit einer kraftvollen, farbintensiven, kindlich naiven Malerei trieb Karel Appel als Mitbegründer der Gruppe CoBrA in den 1950er Jahren die Entwicklung der Kunst voran. Auch 1996 griff er noch auf diese Zutaten zurück und kreierte seine pastose „Birth of a Landscape #11“, in der sich figurative Komponenten mit ungegenständlichen Farbverläufen abwechseln (Taxe 85.000 bis 120.000 EUR). Ein Schwerpunkt bei der aktuellen Kunst liegt auf deutschen Produktionen. Mit Jirí Georg Dokoupil hatte das Dorotheum schon häufiger Erfolg und durfte erst im Juni mit einem seiner bunt fröhlichen Seifenblasenbilder einen Spitzenpreis von 210.000 Euro aufstellen. Damals war die 1,5 auf 2 Meter messende Leinwand mit 30.000 bis 40.000 Euro taxiert; jetzt wird die beinahe doppelt so große, noch schillerndere Arbeit „Mis Mus Sian“ von 2014 selbstredend mit 60.000 bis 80.000 Euro bewertet und bietet noch Potential nach oben. Magnus Plessens Kunst oszilliert zwischen Figuration und Abstraktion. So schweben auf einer titellosen Leinwand von 2009 unkoordiniert Objekte und Farbfelder, es lassen sich aber auch vertraute Gegenstände wie eine Hand oder ein Stromkabel ausmachen (Taxe 26.000 bis 32.000 EUR). Daniel Richters Œuvre speist sich aus Geschichte, Politik, Massenmedien und Popkultur. Sein gleichaltriges hypnotisches Bild „Sprung von den Türmen“ mit drei von innen heraus brennenden Figuren ist ein malerischer Exzess von Farbe und Licht auf mystisch-kosmischem Hintergrund (Taxe 40.000 bis 60.000 EUR).
Die Versteigerung „Zeitgenössische Kunst“ startet am 30. November um 18 Uhr. Die Besichtigung ist bis zum Auktionsbeginn täglich von 10 bis 17 Uhr, am 27. November von 14 bis 17 Uhr möglich. Der digitale Katalog listet die Objekte unter www.dorotheum.com. |