| | Die Villa Hügel in Essen wird 150 Jahre alt | |
Am 10. Januar 1873 war es so weit: Die Familie Krupp zog von ihrem kleinen Haus auf dem Fabrikgelände in ihr neues Domizil im Essener Süden. Auf dem Höhenzug über der damals noch nicht zum Baldeneysee aufgestauten Ruhr thront seither der kolossale Block der Villa Hügel. Neben dem eigentlichen Wohnhaus ist ein Logierhaus für Gäste als deutlich kleinere Replik angedockt, zwischen denen der Gobelinsaal die Verbindung herstellt. Die Pläne skizzierte der Bauherr Alfred Krupp persönlich, wobei er funktionalen Aspekten gegenüber formal-gestalterischen den Vorrang gab. So verbergen sich hinter den wuchtigen Natursteinfassaden modernste haustechnische Anlagen, darunter speziell die Heizung und Belüftung. Kaschiert mit biederen Holzverkleidungen und Stuckaturen waren sie den Blicken der Besucher entzogen.
Rasch offenbart sich der im Grunde simple innere Gebäudeaufbau aus einer mittig gelegenen unteren und oberen längsrechteckigen Halle, um die sich im Erdgeschoss Speise-, Empfangs- und Bibliothekssäle, im Obergeschoss die privaten Wohn- und Arbeitsräume und darüber die Kinderzimmer gruppieren. Oben strahlt das Licht durch das markante Belvedere ein, das die strenge äußere Struktur des Baus abmildert. Jede der vier Generationen, die das Haus als privaten Wohnsitz und als offiziellen Geschäfts- und Repräsentationsort nutze, veränderte das Innere nach ihren spezifischen Vorstellungen von Komfort und künstlerischen Passionen. So bewachen das Gartenportal des Großen Hauses zwei stämmige Sphingen des Bildhauers Max Dennert. Gustav und Bertha Krupp von Bohlen und Halbach erwarben 1912 zur Zierde ihrer Schlafzimmerdecke Giovanni Battista Tiepolos Gemälde „Aurora und die schwindende Nacht“.
Erst um 1900 wurden großflächig Holzverkleidungen eingebaut. Die hölzerne Haupttreppe im Stil der Neorenaissance mit geschnitzter Flechtornamentik ersetzte damals die Eisentreppe. Zwischen 1913 und 1916 entstand unter Einbeziehung von Hofarchitekten Kaiser Wilhelms II. und namhaften Kunsthistorikern die heutige Gestalt der Villa mit den überdachten Auffahrten. Auch die neu erworbene flämische Gobelinfolge „Die sieben freien Künste“ wurde in der oberen Halle aufgehängt. Seit 1914 schmückt ein lebensgroßer Jugendstil-Putto aus der Karlsruher Keramikfabrik J. Heinze den Wasserauslass im Schwimmbad.
Bei aller Großzügigkeit versuchten die Bewohner, sich an den Maximen einer bodenständigen Lebensführung zu orientieren, die Alfred Krupp mit dem „Komfort der kleinen Häuslichkeit“ umschrieb. Dennoch war die stolze Zahl von 644 Hausangestellten zu Spitzenzeiten in der Wohnmaschine tätig, vom Lampenwärter bis zum Kindererzieher, vom Diener bis zum Parkwächter. Besonders die Pflege der weitläufigen Gartenanlagen mit einer Reihe weiterer Bauten von der Reitbahn über Gewächshäuser bis hin zum Kinderspielhaus erwies sich als aufwendig. Viel davon wurden im Laufe der Jahre entfernt und die kleinteilig gestaltete Anlage 1961 aus Gründen der Übersicht und leichteren Pflege in die Form eines englischen Landschaftsgartens überführt.
Nach der Rückgabe durch die Alliierten an den letzten Bewohner Alfried Krupp von Bohlen und Halbach im Jahr 1952 öffnete die Familie das Anwesen der Allgemeinheit. Bereits 1953 fand die erste bedeutende Kunstausstellung „Kunstwerke aus Kirchen-, Museums- und Privatbesitz – Der Essener Münsterschatz“ im großen Haus statt. Heute ist die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung Eigentümerin der Villa Hügel. Seit 1955 hat das im Jahr 1905 gegründete Historische Archiv Krupp seinen Sitz im kleinen Haus. Seit 1984 verantwortet die „Kulturstiftung Ruhr“ alle Ausstellungsaktivitäten, den Besucherbetrieb sowie die Restaurierungsmaßnahmen.
Anlässlich ihres 150jährigen Bestehens legten die Stiftungen ein insgesamt 500.000 Euro teures Jubiläumsprogramm auf. Eine Transmedia-Echtzeit-Installation des Willicher Künstlerduos Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner soll das Haus in ein neues Licht tauchen. Den Gedanken der Transformation aufgreifend, wurden von ihnen gesammelte und digitalisierte akustische wie visuelle Daten zu einer audiovisuellen Komposition arrangiert, die die Villa Hügel einhüllt und visuell mit einem komplexen Gefüge aus Licht und Schatten ab Sonnenuntergang dekonstruiert. Auch Samson Young, ehemaliger Stipendiat der Krupp-Stiftung, bereichert das Jubiläum mit einer unter den Vorzeichen der Transformation stehenden Videoarbeit. Sie zeigt aus der Perspektive eines die Gäste unterhaltenden Musikers den 1896 erfolgten Besuch des chinesischen Diplomaten Li Hongzhang bei Alfred Krupp. Der fiktive Film ist auf einem LED-Screen in der oberen Halle oder als App zu erleben.
Neben einem Förderprogramm sozialer, wissenschaftlicher und künstlerischer Projekte ergänzt ein Bündel weiterer Aktionen die Jubiläumsaktivitäten. Dazu gehören eine Augmented Reality-App als digitaler Begleiter durch die Räume, Vorträge, Open-Air-Konzerte sowie Sonderführungen in normalerweise nicht zugänglichen Privaträumen, etwa in der Küche, im Schwimmbad, im Chinesischen Salon, im Tresor oder in den Bedienstetenzimmer. Es geht dabei sogar bis auf das Belvedere hinaus.
Die Villa Hügel als Vorzeigeort für Erfolg, technische Überlegenheit und Repräsentation, aber auch für die dunklen Seiten des 20. Jahrhunderts zieht jährlich über 100.000 Besucher an. An diesem Ort der Industriekultur spiegelt sich die Geschichte der Region und des gesamten Landes. Monarchen und Staatsführer aus aller Welt waren hier zu Gast, darunter alle bisherigen deutschen Bundespräsidenten. Dieses Spannungsverhältnis von Historie und technischer Metamorphose soll sich bei den diesjährigen Veranstaltungen spiegeln. Die alten Krupps würden es gutheißen.
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