Ebony and Ivory. Wie die schwarzen und die weißen Tasten eines Klaviers sind die beiden kubusförmigen Gebäude des Kunstmuseums Liechtenstein und der Hilti Art Foundation im Zentrum der Hauptstadt Vaduz unmittelbare Nachbarn. Seit mittlerweile acht Jahren. Im Jahr 2000 eröffnete das Kunstmuseum. 2015 kam dann die Hilti Art Foundation hinzu. Man teilt sich seitdem einen Eingangs- und Foyerbereich, es gibt unmittelbare Übergänge, doch bisher verfolgte jedes der beiden Häuser sein eigenes Ausstellungsprogramm. Am Anfang der Ausstellung „Candida Höfer. Liechtenstein“ stand daher der Wunsch, die beiden hochkarätigen Sammlungen endlich einmal in geeigneter Form aufeinander treffen zu lassen. Was lag da näher, als einen Künstler oder eine Künstlerin in die Hauptstadt des Fürstentums einzuladen, um sich mit den beiden Institutionen, ihren Häusern und ihrer musealen Infrastruktur zu beschäftigen und gewissermaßen als Katalysator die Basis für ein vermittelndes Konzept zu entwickeln?
Die Direktorin des Kunstmuseums, Letizia Ragaglia, ihre Sammlungskuratorin Christiane Meyer-Stoll und Uwe Wieczorek, der langjährige Kurator der Hilti Art Foundation, hatten die Idee, die für ihre präzise und objektivierende Fotografie bekannte Becher-Schülerin Candida Höfer, Jahrgang 1944, nach Liechtenstein zu holen. Die Vertreterin der ersten Generation der Düsseldorfer Fotoschule ist dafür bekannt, die Essenz kulturell genutzter Räume auf ihren stets menschenleeren und unaufgeregten Großaufnahmen mit einem feinen Gespür für die darin verborgenen Ordnungen und Strukturen zu erfassen.
Candida Höfer ließ sich gerne auf das Projekt ein und reiste schließlich gleich zweimal an. Statt nur bereits vorhandene, ältere Aufnahmen für die geplante Ausstellung vorzuschlagen, entschloss sie sich schließlich, eine neue Werkserie zu produzieren, in deren Mittelpunkt jetzt das Kunstmuseum Liechtenstein und seine Architektur, das angegliederte Gebäude der Hilti Art Foundation, aber auch die Außenlager der beiden Sammlungen, das Außendepot der Liechtensteinischen Landesbibliothek und sogar eine landestypische Tenne mit allerlei dort abgestellten Objekten stehen. Einer ersten Recherchereise im September 2021, bei der Höfer in Frage kommende Bildmotive mit der digitalen Kleinbildkamera festhielt, folgte im November 2021 ein zehntägiger Arbeitsaufenthalt mit Team, der der Umsetzung der in der Zwischenzeit sorgfältig geplanten Aufnahmen mit der digitalen Großbildkamera diente.
Als nächstes reisten die drei Kurator*innen nach Köln, um sich von der Fotografin die fertigen Aufnahmen präsentieren zu lassen und eine Auswahl zu treffen. Dabei habe sich Candida Höfer größtenteils gar nicht eingemischt. Nur ab und zu habe sie dezent ihre Vorlieben durchblicken lassen, resümiert Uwe Wieczorek die Begegnung. Zurück in Liechtenstein, galt es, eine stimmige Auswahl aus den beiden Sammlungen zu treffen und die Architekturaufnahmen Höfers in Dialog mit Werken so prominenter Künstler*innen wie Rosemarie Trockel, Kasimir Malewitsch, Bruce Nauman oder Rita McBride treten zu lassen. Dem 20 Motive umfassenden Liechtenstein-Konvolut Höfers sind über 60 Werke von rund 50 anderen Kunstschaffender beiseite gestellt. Entstanden ist ein sich gegenseitig befeuerndes Geflecht von Nachbarschaften, Gegenüberstellungen, Querverweisen und Korrespondenzen – mal auf formaler oder struktureller Ebene, mal metaphorisch, mal assoziativ, mal sehr augenfällig und mal ganz subtil.
So stehen im ersten Raum Oberflächen und Strukturen im Fokus. Candida Höfer, die Doyenne der sachlich-nüchternen Ablichtung kulturell oder wissenschaftlich codierter Innenräume, ist hier unter anderem mit einer ihrer seltenen Außenaufnahmen vertreten. Ihre Fotografie „Passage Vaduz I 2021“ zeigt auf der rechten Bildhälfte die Fassade des Museums aus einem mit Ruß, Eisenoxid, Basaltsteinen und Flusskieseln angereicherten und hochwertig geschliffenen Beton. Links davon ist die grünlich eingefärbte Glasfassade eines Nachbargebäudes zu sehen, in der Mitte nur ein schmaler, gepflasterter Gang, der den Blick auf einen dahinter liegenden Parkplatz freigibt. Detailgenaue und verschwommene Flächen setzt Höfer hier einander entgegen. Partienweise kommt es zu Spiegelungen, die dann wieder von matten Zonen abgelöst werden. Der für die Becher-Schule typische graue Himmel sorgt für einen zusätzlichen Grad an Neutralität. Diese Aufnahme ist mit Werken kombiniert, die ebenfalls Oberflächentexturen oder Ein- und Durchblicke zum Thema haben, so etwa dem großformatigen, watteweichen Gemälde „Le vent du soleil I (atmo)“ von Gotthard Graubner, einem aus konventionellem Maschendraht geformten „Wire Piece“ des minimalistischen Bildhauers Bill Bollinger von 1970 oder dem aus Blattsilber auf Baumwolle 2020 gefertigten „Slow Object 017“ der für ihre transzendenten Materialerforschungen bekannten belgischen Künstlerin Edith Dekyndt.
Im zweiten Saal des Obergeschosses lernt man Candida Höfer dann von einer anderen, für viele Betrachter*innen vielleicht neuen Seite kennen. Ihre Aufnahmen von den Treppenhäusern des Liechtensteiner Kunstkomplexes erzeugen durch ihren hohen Grad der bewussten Überbelichtung verfremdete und abstrahierte Bildresultate, die auf den ersten Blick eher wie Grafitzeichnungen als Fotografien wirken. Konfrontiert werden sie mit Arbeiten anderer Künstler*innen, bei denen es im weitesten Sinne um Transformationen und die Auflösung von Form und Struktur geht. So zerlegt die in Marokko geborenen französischen Künstlerin Latifa Echakhch in der von der Zerstreuungslehre der Situationisten inspirierten Arbeit „Derives 60“ aus dem Jahr 2015 ein sternförmiges islamisches Element in einen Haufen irregulärer Linien.
Um reguläre Linien, nämlich die Rasterstruktur der Museumsdecke, die modulartige Gleichförmigkeit der im Museumsbetrieb verwendeten Transport- und Aufbewahrungskisten oder die nahezu aseptische Aufgeräumtheit in den Personen- und Lastenaufzügen des Kunstkomplexes geht es dann im nächsten Saal. Die Kurator*innen flankieren diese von Höfers Aufnahmen offengelegten Ordnungsprinzipien eines Museums einerseits mit dem Konstruktivismus eines Piet Mondrian oder dem Minimalismus eines Donald Judd. Andererseits arbeiten sie mit Saâdane Afifs sich beständig um die eigene Achse drehenden Skulpturen aus Plexiglas und bunt schillernder Spiegelfolie oder Nina Canells Plexiglaskubus „Interiors (Near Here)“ von 2013 wiederum dagegen an. In der zunächst so „clean“ wirkenden transparenten Kiste Canells befinden sich nämlich Fasern aus braunem Kunstpelz, die sich durch elektrostatische Aufladung nahezu parasitär an die Oberfläche angedockt haben.
Candida Höfers hier präsentierte Aufnahmen führen deutlich vor, worum es ihr unter anderem geht: Das oft Übersehene in den Fokus zu rücken. Eine Lichtdecke, einen Aufzug oder ein Treppenhaus nehmen wir in der Regel im Vorbeigehen wahr, ohne sie uns genauer anzuschauen. Der menschliche Blick schweift, abgelenkt durch Personen und Ereignisse, rastlos hin und her. Höfers Kamera tut das nicht. Sie nimmt während der oft langen Belichtungszeiten genau die strenge Perspektive ein, die die Künstlerin ihr vorschreibt. Doch genau das ist die Basis für den eigentümlichen Sog, der von ihren Bildern ausgeht. Wir sehen die gleichen Dinge ganz anders, als wenn wir bloß davor stehen. Das sonst Übersehene wird bei ihr zur stillen Sensation. Zum erhellenden Seherlebnis tragen natürlich auch die großformatigen C-Prints selbst bei.
In Liechtenstein kommt noch etwas hinzu, was man als Reziprozität der Verhältnisse bezeichnen kann. Die beiden Ausstellungshäuser begegnen sich auf den Aufnahmen nämlich immer wieder selbst. Und sie geben einem breiteren Publikum normalerweise nur den Mitarbeitenden vorbehaltene Blicke in ihr tiefstes Inneres frei. Candida Höfer zeigt uns in ihrer Liechtenstein-Serie auch, wie es in den außerhalb von Vaduz befindlichen Depots und Kistenlagern der beiden Institutionen aussieht. Grauer Sichtbeton trifft hier auf helles Neonlicht, monumentale Schwerlastregale auf Gitterzuganlagen mit Laufschienen. Ab und zu erlaubt sich Candida Höfer auch erzählerische, fast schon anekdotische Details, etwa dann, wenn sie einen Bildausschnitt so wählt, dass nicht nur die Transportkisten im firmentypischen Hilti-Rot bildbeherrschend sind, sondern am rechten Bildrand auch noch ein damit korrespondierendes, knallrotes Fahrzeug der Werksfeuerwehr neckisch hervorlugt.
Dass auch eine fast 80jährige Künstlerin sich immer wieder neu erfinden kann, indem sie sich plötzlich für Bildsujets begeistert, mit denen der Kunstbetrieb sie überhaupt nicht assoziiert, beweist sie dann in Liechtenstein mit ihrer Aufnahme „Tenne Vaduz I 2021“. Dieser ehemalige bäuerliche Dreschplatz wird heute als Abstellort für diverse ausgediente und teils kuriose Objekte genutzt. Alte Balken, ein Weihnachtsbaum, der alle seine Nadeln verloren hat, ein Thonet-Stuhl ohne Sitzfläche, alte Weinkisten, ein Fässchen, ein Futtertrog, ein Hauklotz mit zwei Äxten zum Holzspalten, aber auch eine Art Cut-out einer menschlichen Figur und in der Mitte ein lebensgroßer, skulpturaler Rinderkopf schaffen hier eine narrativ aufgeladene Atmosphäre, die fast wie ein Bühnenbild wirkt.
Das Kurator*innentrio nimmt diese wohl ungewöhnlichste Aufnahme aus der Serie als Steilvorlage, um sie mit gleichsam surreal anmutenden Exponaten aus den beiden Sammlungen zu flankieren, so etwa mit René Magrittes 1926 entstandenem Gemälde „La Chambre du devin“, das ebenfalls eine menschliche Silhouette zeigt, die von diversen aus dem Boden hervorragenden Gestängen bedrängt wird. Von der in London lebenden deutschen Künstlerin Kerstin Kartscher stammt ein Ensemble, das einer provisorischen Behausung ähnelt. Für ihre auf dem Boden installierte Arbeit „Die Sabinerin“ von 2005 hat Kartscher aus einer reichlich ramponierten alten Ladenmarkise, einem Schaffell, Bettzeug, Perlen und Maschendraht einen Unterschlupf konstruiert. Die darin befindliche Zeichnung einer weiblichen Figur in einer fruchtbaren Landschaft versöhnt dann wieder mit der schroffen Unwirtlichkeit des Behelfsbaus. Existenzielle Ausgesetztheit und der selbstbewusste Rückzug in die Intimität eines aus disparaten Elementen gebauten Schutzraumes reichen sich bei dieser ambivalenten Arbeit die Hand.
Einmal danach gefragt, ob sie so etwas wie eine fotografische Mission habe, antwortete Candida Höfer: „Ich denke, ich will, dass man sieht, dass ich mich in meinen Arbeiten mit etwas befasse, das eine Zeit überstehen kann. Und ich möchte etwas zeigen, das eigentlich nicht modern ist, etwas, das eine eigene Langlebigkeit hat.“ Mit ihrer neuen, ortsbezogenen Werkserie ist ihr das einmal mehr gelungen. Letizia Ragaglia, Christiane Meyer-Stoll und Uwe Wieczorek sind für die sehr anregende und geistreiche Einbettung der Liechtenstein-Werkserie in die jeweiligen Sammlungsbestände von der klassischen Moderne bis in die unmittelbare Gegenwart zu beglückwünschen.
Die Ausstellung „Candida Höfer. Liechtenstein. Im Dialog mit den Sammlungen des Kunstmuseum Liechtenstein und der Hilti Art Foundation“ ist bis zum 10. April zu sehen und hat dienstags bis sonntags und auch am Ostermontag von 10 bis 17 Uhr, donnerstags von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 15 Franken, ermäßigt 10 Franken; jeden Mittwoch ist er kostenlos. Der Katalog aus dem Hatje Cantz Verlag erscheint im März. |