Die Avenue Matignon im 8. Pariser Arrondissement gehört zu den feinsten Adressen der französischen Hauptstadt. Rund um den Abschnitt zwischen den Champs-Élysées und der Rue du Faubourg Saint-Honoré befinden sich etliche Fünf-Sterne-Hotels, Maßschneider und Restaurants der Haute Cuisine. Dazwischen die Niederlassung von Christie’s und eine von Jahr zu Jahr zunehmende Anzahl wichtiger französischer und internationaler Galerien. Ob Almine Rech, Perrotin oder Gagosian – sie alle haben sich in diesem noblen Viertel nur einen Steinwurf vom Élysée-Palast entfernt niedergelassen.
So auch die 1993 gegründete Londoner Galerie White Cube, die ihren Pariser Space im Herbst 2019, also kurz vor der Pandemie und dem Brexit, in einem großbürgerlich-eleganten Wohngebäude eröffnet hat. Während White Cube-Boss Jay Jopling in London eher auf schnörkellose moderne Architektur setzt, zeichnen sich die Pariser Räume durch die Kleinteiligkeit und Intimität einer typischen Pariser Stadtwohnung aus. Insofern eignen sie sich auch gut für die aktuelle Ausstellung „Watercolours“ mit Werken des amerikanischen Künstlers Al Held.
Al Held wurde 1928 als Sohn polnischer Einwanderer im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren. Er gilt als einer der Pioniere des Hard Edge Painting und als ein Virtuose, was den malerischen Umgang mit Farbe, Form und Raum betrifft. Auf seinen teils großformatigen Aquarellen sind ineinander verschachtelte, dreidimensionale Raumkonstruktionen zu sehen, die an psychedelisch-bunte Remakes von Giovanni Battista Piranesis „Carceri“ erinnern. Metaphysische Fantasiewelten, die vollkommen von den Zwängen der Realität abgekoppelt sind. Menschen, Tiere und Pflanzen sind in diesen der traumhaften Imagination entsprungenen, multidimensionalen Raumkontinuen gänzlich abwesend. Stattdessen dehnen sich in alle Richtungen Schachbrettmuster aus vielfarbigen Bodenfliesen aus, huldigen Säulenkonstruktionen dem Raster, die sich im Bildraum unendlich verjüngen, und darüber spannt sich ein gewölbter Himmel aus vielfach ineinander verschränkten Wabenrapporten. Dafür wählt Al Held eine überwiegend warme und mit großer Sensibilität aufgetragene, transluzente Farbpalette. Beeindruckend sind auch die für das Medium Aquarell teils ungewöhnlich großen Abmessungen mit bis zu 137,7 auf 265,5 Zentimetern.
Vielschichtige Raumgefüge nach der Renaissance
Interessant zu wissen: Während sich Al Held an seinen anderen beiden Wohn- und Arbeitsorten, einem Loft in Manhattan und einer Scheune in den Catskill Mountains nördlich von New York City, der Malerei widmete, entstanden seine Aquarelle ausschließlich in Italien. Im Anschluss an eine Residency an der American Academy in Rom erwarb Held in den späten 1980er Jahren einen aufgegebenen Bauernhof in der Region Umbrien. Angeregt durch die Gemälde der von ihm bewunderten italienischen Künstler Giotto di Bondone, Piero della Francesca und Michelangelo Buonarroti, schuf er zwischen 1989 und den frühen 2000er Jahren zahlreiche Aquarelle, die sich durch ihr Spiel mit Leichtigkeit, durchscheinenden Farben und verschachtelten Perspektiven auszeichnen. Auch wenn man angesichts der Komplexität seiner Bilder und ihrer ästhetischen Verwandtschaft mit naturwissenschaftlichen Darstellungen, etwa der Stringtheorie, auf den Gedanken kommen könnte, Al Held hätte sie mit digitalen Werkzeugen kreiert, hat er davon nie Gebrauch gemacht.
Daneben war Al Held für seine Lehrtätigkeit als charismatischer Professor geschätzt. Er unterrichtete von 1963 bis 1980 an der Yale University. Zu seinen Studenten zählten unter anderen Richard Serra und Brice Marden. 1964 war er Teilnehmer der von Clement Greenberg kuratierten, bahnbrechenden Ausstellung „Post Painterly Abstraction“ im Los Angeles County Museum of Art. Gleich zweimal nahm er an der Documenta teil: an der vierten Documenta 1968 und an der sechsten Ausgabe im Jahr 1977. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist er mit Wandgemälden, Glasmosaiken und Glasfenstern in zahlreichen öffentlichen Gebäuden, Unternehmen, Flughäfen und U-Bahn-Stationen. Al Held starb 2005 im Swimmingpool seines Anwesens in Umbrien. Sein Nachlass wird von seiner Tochter Mara betreut.
Obgleich das Galerienviertel rund um die Avenue Matignon stark im Kommen ist, haben immer noch die meisten Pariser Galerien ihren Sitz im angestammten Galerienquartier Le Marais. Auch der Deutsch-Amerikaner David Zwirner hat hier im Sommer 2019 seinen ersten Standort auf dem europäischen Festland eröffnet. Daneben bestehen drei Galerien in New York, in London und in Hongkong. Sein Standort in der Rue Vieille du Temple atmet Geschichte. Von 1986 bis 2014 wurden die im Hof eines historischen Gebäudes gelegenen Räume mit dem imposanten Glasdach von dem legendären Pariser Galeristen Yvon Lambert genutzt. Andere Blue Chip Galerien wie Thaddaeus Ropac, Karsten Greve und Chantal Crousel befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft.
Die aktuelle Ausstellung bei David Zwirner versammelt Werke der amerikanischen Künstlerin Sherrie Levine. Die 1947 in Hazleton, Pennsylvania, geborene Künstlerin wird zusammen mit Cindy Sherman, Louise Lawler und Richard Prince der sogenannten „Pictures Generation“ zugerechnet. Es ist die erste Künstler*innengeneration, die von Geburt an mit den Massenmedien Film, Fernsehen und Printmedien aufgewachsen ist und daher die strategische Entscheidung getroffen hat, der vorhandenen Bilderflut keine originär eigenen Bildfindungen mehr hinzuzufügen und stattdessen mit dem vorhandenen Repertoire konzeptuell zu arbeiten. Obwohl sie dieses Label eigentlich nicht mag, ist Sherrie Levine zudem eine der entschiedensten Vertreter*innen der so genannten Appropriation Art, die Kategorien wie Autor*innenschaft, Originalität und Marktwert fundamental in Frage stellt.
Wolkenformationen von Stieglitz-Levine
Das machen auch ihre bei Zwirner präsentierten Serien deutlich. Neu ist die aus fünf sechsteiligen Sets bestehende Serie „After Stieglitz“ aus dem aktuellen Jahr. Sherrie Levine nimmt hier Wolkenbilder des für seinen an die Malerei angelehnten piktorialistischen Stil bekannten amerikanischen Fotografen Alfred Stieglitz (1864-1948) zum Ausgangspunkt ihres reproduzierenden Verfahrens. Stieglitz begann im Sommer 1922, mit der Handkamera Fotos von einzelnen Wolken und Wolkenformationen aufzunehmen. Die über einen Zeitraum von acht Jahren entstandene Serie wuchs am Ende auf rund 350 Wolkenstudien an. „Durch Wolken wollte ich meine Lebensphilosophie zum Ausdruck bringen – um damit zu zeigen, dass meine Fotografien nicht Gegenstand bestimmter Stoffe waren – nicht von besonderen Bäumen, Gesichtern oder Innenräumen oder sonstigen besonderen Privilegien. Wolken waren für alle da, einfach frei ohne Steuern und Abgaben“, so Stieglitz über die Werkreihe, der er den Titel „Equivalence“ gab.
Sherrie Levine nimmt nun die überwiegend dunkeltonigen, teils unscharfen Silbergelatineabzüge zum Ausgangspunkt, um sie mit moderner Drucktechnik zu reproduzieren und in selbst gewählten Kompositionen zu Sechsergruppen zusammenzustellen. Im Gegensatz zu einer früheren Bearbeitung dieser Serie, in der Levine die Ausgangsmotive bis zur Unkenntlichkeit digitalisiert und verpixelt hat, bleiben hier die Motive jedoch so gut wie unangetastet.
Ebenfalls neu in der Ausstellung ist die Serie „Rectangle Paintings: 1-12“. Sie besteht aus zwölf auf Mahagoni ausgeführten Gemälden, für die sich Levine von den typischen geometrischen Muster und Farben der Webereien des nordamerikanischen Volks der Navajo inspirieren ließ, sie auf simple Rechteckformen reduzierte und variantenreich kombinierte. Getreu ihrem Motto „Take a Picture to Make a Picture“, greift sie auch hier auf ein bereits vorhandenes, in diesem Falle allerdings nicht der westlichen Moderne entstammendes Bildrepertoire zurück. Ergänzt wird die Schau mit Zwergenskulpturen aus schwarzem Glas, Kristallglas und polierter Bronze, die auf konzeptuellen Aneignungen traditioneller Gartenzwerge einerseits und der noch weiter kommerzialisierten Disney-Version andererseits beruhen. „Avant-Garde and Kitsch“ und „Repetition and Difference“ von 2002 lauten die Titel dieser Arbeiten, die die Strategien der Kulturindustrie bissig aufs Korn nehmen.
Worum es ihr im Kern geht, hat Levine einmal so formuliert: „Die Bilder, die ich mache, sind wirklich Geister von Geistern; ihr Verhältnis zu den Originalbildern ist tertiär, also drei- oder vierfach übersetzt. Schon wenn ein Bild zur Abbildung in einem Buch wird, ist es mehrmals zuvor fotografiert worden... Ich wollte Bilder auf Bilder stapeln, so dass mal alle beide verschwinden oder aber sich umso stärker manifestieren. Es geht mir um dieses Vibrieren – diesen Schwebezustand, wo es gar kein Bild mehr gibt.“
Die Ausstellung „Al Held. Watercolours“ ist bis zum 27. Mai zu sehen. Die Galerie White Cube Paris hat dienstags bis samstags von 11 bis 19 Uhr geöffnet.
White Cube Paris
10, avenue Matignon
FR-75008 Paris
www.whitecube.com
Die Ausstellung „Sherrie Levine“ läuft bis zum 3. Juni. Die Galerie David Zwirner Paris ist ebenfalls dienstags bis samstags von 11 bis 19 Uhr geöffnet.
David Zwirner Paris
108, rue Vieille du Temple
FR-75003 Paris
www.davidzwirner.com |