Löcher und immer wieder Löcher. Diese „buchi“ sind ein Markenzeichen von Lucio Fontana: „Das Loch ist meine Erfindung, mehr gibt es nicht zu sagen. Nach dieser Erfindung kann ich sterben.“ Mit diesen Perforierungen hat der italienische Künstler 1956 auch ein frühes „Concetto Spaziale“ durchstoßen und damit die Konturen einer reliefartigen Struktur aus zwei Vielecken betont. Zudem hat er auf der Leinwand einige Glassplitter appliziert, so dass sich das flache Gemälde noch stärker zur dritten Dimension hin öffnet und damit ein „Raumkonzept“ wird. Fast mag man in den beiden miteinander verbunden schrundigen Flächen noch eine abstrahierte menschliche Büste entdecken. Doch Fontana hat alles mit einer schwarzen Einheitsfarbe überzogen und damit die Reminiszenz an etwas Menschliches getilgt. Als der Favorit der Auktion „Zeitgenössische Kunst“ geht das „Concetto Spaziale“ nun im Dorotheum mit einer Schätzung von 700.000 bis 1.000.000 Euro ins Rennen.
Zehn Jahre jünger ist ein zweites „Concetto Spaziale“. Auch hier hat Lucio Fontana die Leinwand durchlöchert, sodass die Form an ein Ei erinnert. Allerdings hat er die Leinwand mit einer goldenen Farbe überzogen, die damit im Kontrast zum fast lichtverschluckenden Schwarz für die transzendentale Ebene des Göttlichen, wie es auch die mittelalterliche Kunst sah, und in der Ei-Form für neues Leben steht (Taxe 600.000 bis 900.000 EUR). Ähnlich ist Arnaldo Pomodoros „Sfera“ von 1980 zu verstehen: Die golden polierte Bronzekugel reißt eben auf, öffnet ebenfalls einen neuen Raum und gibt ihr Innenleben preis (Taxe 120.000 bis 180.000 EUR). Dazu passt eine Keramik des 1968 früh verstorbenen Bildhauers Leoncillo Leonardi. Seine in Brauntönen gefasste Plastik „Itinerario“ von 1958 ist eine Masse aus lebendigem pulsierendem Material und greift in ihren expressiven aufgerissenen Wucherungen in den Raum aus (Taxe 150.000 bis 200.000 EUR).
Zum wiederholten Mal hat die italienische Nachkriegsavantgarde am 24. Mai im Dorotheum einen starken Auftritt. Das liegt auch an Alighiero Boetti, der eine seiner berühmten „Biro“-Arbeiten beisteuert, die mit fast drei Metern Breite zu den größten gehört. Der aus der Ilias entnommene Bildtitel „non parto non resto“ offenbart sich auf der dicht gestrichelten Kugelschreiberzeichnung mithilfe eines kuriosen Spiels: Die teils wogenden blauen Felderungen werden zuweilen von Kommas unterbrochen. Diese 16 Beistriche verweisen auf das Alphabet am linken Bildrand und sind der Schlüssel zur Interpretation: Der mit „Ich gehe nicht, ich bleibe nicht“ übersetzte Titel ist dem liebeskranken Aeneas in den Mund gelegt (Taxe 400.000 bis 600.000 EUR). Mit Schriftzeichen operieren zudem die bunten Stickbilder, die Boetti ab den 1970er Jahren bei afghanischen Frauen in Auftrag gab. Die beiden Quadrate „L’insensata corsa della vita“ von 1989 und das wohl gleichaltrige „Dall’oggi al domani“ sollen jeweils 30.000 bis 40.000 Euro einspielen.
An Buchstaben erinnern die Zeichen, die Giuseppe Capogrossi immer wieder variiert hat, so auch auf seinen beiden Leinwänden „Superficie 368“ von 1955 und „Superficie 375“ von 1952/59 (Taxe je 80.000 bis 120.000 EUR). Carla Accardi erforschte mit ihrer Malerei die Farben und das Licht, etwa 1988 mit „Luce crescente (Gialloazzurro)“ aus knochenartigen Strukturen in Gelb und Blau (Taxe 70.000 bis 90.000 EUR). Bei Achille Perillis Leinwand „Uscita dall’ombra opaca“ von 1992 gleiten sich auflösende knallbunte Kuben in optischer Täuschung durch den schwarzen Raum (Taxe 30.000 bis 40.000 EUR), während Pier Paolo Calzolari für sein „Studio per camera da toilette per signora“ von 1992 aus der Werkreihe „Piombi specchio“ Salze auf dem Bleigrund ausblühen lässt und damit eine feinkörnige Struktur erzeugt. Auch der Amerikaner Cy Twombly lebte über Jahrzehnte in Italien und bezog 1981 ein Atelier in Formia am Golf von Gaeta. Vom Blick auf das Meer ist eine titellose dynamische Papierarbeit inspiriert, die in ihren Blautönen eine stürmische Bewegung der See und in den schwarzen Dreiecken darin bedrohlich schwankende Schiffe suggeriert (Taxe 300.000 bis 400.000 EUR).
Einen ersten figurativen Ansatz gibt es bei Michelangelo Pistoletto und seiner „Ragazza acrobata“ von 1981. Die auf eine polierte Edelstahlplatte gedruckte, vom den Bildrändern angeschnittene und auf ihrer Stange balancierende Akrobatin, die mit Betrachter aufgrund des Spiegeleffekts verschmilzt, will 120.000 bis 160.000 Euro sehen. Ein Portrait der Kunsthändlerin Marie-Louise Jeanneret, Enkelin des berühmten Schweizer Architekten Le Corbusier, stellt Pop Art-König Andy Warhol in seiner typischen Manier für 200.000 bis 300.000 Euro zur Verfügung. Als Vertreterin der „appropriation art“, der subversiven Aneignung und Imitation bestehender Kunst, hat Elaine Sturtevant auf Keith Haring 1986 zurückgegriffen und in „Haring Untitled January 1982“ dessen Strichmännchen kopiert, durch das drei Hunde hüpfen (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR). Fulminant sind wie immer die hyperrealistischen Zeichnungen Robert Longos, der die „Study for Tiger Head“ 2011 mit Tusche und Kohle fotografisch genau ausgearbeitet hat (Taxe 140.000 bis 180.000 EUR).
Auf seiner großformatigen Leinwand „puls führt“ zeigt uns Jonas Burgert ein graues Rennpferd, das sich niedergelegt hat, und eines seiner skurrilen Wesen in vielen Farben, das sich mit seinem Hab und Gut auf dem Rücken des Tieres niedergelassen hat. Es hält ein Röhrchen an die Schlagader des Pferdes und hört den Puls ab. Als Kritik an der Leistungsgesellschaft will Burgert mit dem Gemälde von 2014 auf den Stress und die aufgestaute Spannung verweisen (Taxe 100.000 bis 150.000 EUR). Monochromie und Farbenvielfalt stehen sich auch bei Heinz Mack gegenüber, Ausgangspunkt sind in beiden Fällen Überlegungen zum Phänomen des Lichts. Der Katalog listet zum einen seine ledig in Schwarz- und Grautönen gehaltenen „Black Mountains“ von 2016, in denen das Licht nur an den Spitzen der Dreiecke aufschimmert, zum anderen eine ebenso großformatige titellose Leinwand von 2017, auf der das weiße Licht durch ein Prisma gebrochen und in seine Spektralfarben aufgefächert ist (Taxe je 200.000 bis 300.000 EUR). Imi Knoebel interessiert sich für das Wechselverhältnis von Material, Farbe und Raum und konstruiert dafür aus monochrom bemalten Platten und Latten seine Bildgefüge, die konstruktivistisch die Zwei- und Dreidimensionalität ausleuchten, wie in „N.I.P.-I“ von 2009 (Taxe 80.000 bis 120.000 EUR).
Bei einem quergelagerten blutroten Schüttbild von Hermann Nitsch mit Fußspuren aus dem Jahr 1986 steht dann die expressive Geste im Vordergrund (Taxe 100.000 bis 200.000 EUR). Aus Österreich treten etwa noch Maria Lassnig mit einem etwas blassen Frauenportrait von 1976 für 70.000 bis 120.000 Euro und Rudolf Polanszky mit seinem „Synthetischen Konstrukt“, einer in dunkelgrauer Farbe mit einigen roten Unterbrechungen getauchten ungegenständlichen Reliefmalerei von 1989, für 40.000 bis 70.000 Euro in Erscheinung. In mediterrane Gefilde geht es ein weiteres Mal mit dem Spanier Manolo Millares und seiner „Composicion con dimension perida“ von 1956, die in der Ansammlung vereinzelter zeichenhafter Elemente auf großteils kalkweiß verputztem Sackleinen und in den ausgeschnitten Löchern für Aufbau und Zerstörung steht, und Hans Hartungs sechs Jahre jüngerer, gestischer Strichbündelsetzung „T1962-U38“ (Taxe je 120.000 bis 180.000 EUR).
Die Künstler der Moderne stehen deutlich hinter ihren jüngeren Kollegen zurück. Preislicher Höhepunkt ist am 23. Mai mit 400.000 bis 600.000 Euro Alexej von Jawlenskys „Gedeckter Tisch“ von 1904/05, der gerade die Gattung Stillleben in seiner frühen Entwicklungszeit zur Herausbildung seines eigenen malerischen Stils betonte. Giorgio Morandis kleines Blumenbild im Quadrat von 1943 verlangt genau die Hälfte. Aus Giorgio de Chiricos neobarocker Spätphase stammt die Vedute „Venezia“ mit Blick in den Canal Grande auf Santa Maria della Salute (Taxe 120.000 bis 180.000 EUR). Ein traumhafter Maschinenmensch treibt auf Roberto Mattas Leinwand „La Banale de Venise“ – eine durchaus provokante Anspielung auf die italienische Kunstschau – von 1954 sein Unwesen (Taxe 100.000 bis 150.000 EUR).
Eine solche irrationale Kosmogonie setzte zudem der in Kuba geborene Wifredo Lam 1965 in seinen surrealen „Deux figures III“ in Anspielung auf den Santería-Kult und Geschöpfe aus dem Urwald um. Auch die titelgebenden „Puppen“ wirken auf Georg Tapperts expressionistischem farbkräftigem Gemälde von 1919 wie furchteinflößende fremde Wesen (Taxe je 60.000 bis 80.000 EUR). Lotte Lasersteins hat ihre Großmutter 1925 recht realistisch auf dem Bett liegend portraitiert; die alte Frau könnte auch eben gestorben sein (Taxe 34.000 bis 38.000 EUR). Von Anton Faistauer gibt es aus diesem Jahrzehnt ein gemäßigt expressives Blumen- und Früchtestillleben für 35.000 bis 50.000 Euro, von Gustav Klimt mehrere Bleistiftzeichnungen, darunter die „Stehende Dame mit Umhang von vorne“, eine Studie um 1903 für das berühmte Porträt von Adele Bloch-Bauer, für 30.000 bis 50.000 Euro. Fast wie eine Spielzeuglandschaft wirken die Häuser samt Kirche in Fritz Fröhlichs „Stadt am Fluss im Winter“ von 1939 (Taxe 14.000 bis 24.000 EUR). Dagegen löst Jean Egger seine Bildgegenstände in einem gestischen Pinselstrich auf; von seinem „Blühenden Mandelbaum auf Mallorca“ um 1932/33 ist in der befreiten pastosen Farbsetzung kaum noch etwas zu erkennen.
Die Auktion „Moderne Kunst“ beginnt am 23. Mai um 18 Uhr, die Auktion „Zeitgenössische Kunst“ folgt am 24. Mai um 18 Uhr. Die Besichtigung ist bis zum jeweiligen Auktionsbeginn täglich von 10 bis 18 Uhr möglich. Der Internetkatalog listet die Objekte unter www.dorotheum.com. |