Aus einem Selbstbildnis blickt Lyonel Feininger asketisch und skeptisch von der Seite über die rechte Schulter direkt auf die Besucher*innen der Schirn. Sein blassgelber Kopf wird von kristallinen Furchen durchzogen. Dies gilt auch für den blauen Himmel zwischen hohen Rundbögen im Hintergrund. Das Ölgemälde aus dem Jahr 1915 reiht sich in den vertrauten Kanon der Zeit. Unweigerlich kommt einem die nur wenige Jahre zuvor entstandene Büste „Tête de femme (Fernande)“ in den Sinn, Pablo Picassos bahnbrechender kubistischer Frauenkopf von 1909, oder Bruno Tauts splittrige Ausstellungsarchitektur auf der Kölner Werkbundschau des Jahres 1914. Der Kristall passte zu den Debatten jener Zeit, war er doch ein Symbol des Wandels in einer Epoche, die von Aufbruch, Licht und Transparenz geprägt war. Raffiniert bediente sich Feininger in einer individuellen Ausgestaltung dieser Ausdrucksform, die seinen künstlerischen Erfolg befeuerte. So war es auch mit diesem Porträt: Als es 1917 in seiner ersten Einzelausstellung in Herwarth Waldens berühmter Berliner Galerie „Der Sturm“ gezeigt wurde, amüsierte sich Feininger über die konsternierten Reaktionen des Publikums. Die wenig realitätsnahe, distanziert und boshaft illustrierte Maske verstand er jedoch als Selbstironie. Dem Erfolg der Schau tat dies keinen Abbruch, sie verhalf ihm zum künstlerischen Durchbruch.
Der prominente Klassiker moderner Kunst wird fast ausschließlich mit den bekannten Motiven prismatisch zerlegter Kirchen und Stadtsilhouetten in Verbindung gebracht. Doch sein Werkschaffen war weitaus vielschichtiger. Neben den Gemälden mit beeindruckenden monumentalen Bauten zählen Karikaturen, Druckgrafiken, Zeichnungen, Fotografien oder auch Holzspielzeug dazu. Nach der letzten großen Retrospektive in Deutschland vor 25 Jahren, die in Berlin und München 1998 unter dem Titel „Von Gelmeroda nach Manhattan“ auf bekannte Gemälde zugeschnitten war, verfolgt die Schirn Kunsthalle in Frankfurt nun das Ziel, eine Gesamtübersicht aller Sparten und Werkgruppen zu geben. Dazu konnte die Kuratorin Ingrid Pfeiffer neben 55 Gemälden, darunter einige selten gezeigte Hauptwerke wie das eingangs erwähnte Selbstbildnis, 58 Arbeiten auf Papier, 26 der erst vor einigen Jahren wiederentdeckten Fotografien und fünf Objekte in zwölf chronologisch geordneten Abschnitten vereinen.
Der 1871 in New York geborene Sohn eines aus dem badischen Durlach stammenden Konzertgeigers und einer ebenfalls deutschstämmigen Pianistin und Sängerin kam während einer Konzertreise der Eltern im Jahr 1887 nach Deutschland, um sein Geigenspiel zu perfektionieren. Doch entschied sich Lyonel Feininger für den Künstlerberuf und studierte Zeichnen und Malerei in Hamburg, Berlin, Lüttich und Paris. Um 1889 setzte sein facettenreiches Schaffen mit der Karikatur ein. Direkt hinter der einleitend arrangierten Auswahl von Selbstbildnissen entfaltet sich in der Schirn zum Erstaunen vieler diese bei Feininger wenig bekannte Gattung: Eine Auslese aus rund 2.000 für unterschiedliche Magazine wie „Das Schnauferl“, „Ulk“, „Das Narrenschiff“, „Lustige Blätter“ oder „Le Témoin“ gefertigte Karikaturen. Überlange Figuren mit weit ausgreifenden Schritten waren Kennzeichen seines originellen Stils. Hier wird viel Humorvolles, aber auch Politisches angesprochen, unter anderem personifiziert durch den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt oder Reichskanzler Otto von Bismarck.
Um 1907 entstanden erste Gemälde in einer bis 1911 andauernden Phase figürlicher Darstellungen. Das 1909 datierte Gemälde „Rue du Faubourg (Dämmerdorf)“ ist charakteristisch für Feiningers Suche nach neuen Ausdrucksformen. Durch die flächige Stadtlandschaft in gedämpftem Rosé, Nachtblau und Türkisgrün streifen typenhafte Gestalten, darunter Arbeiter, vornehme Bürger oder Geistliche in altmodischer Kleidung, in einer traumhaft anmutenden Szenerie. In der zentralen Ausstellungshalle versammeln sich dann die vom Kubismus inspirierten Architekturbilder, allen voran Exemplare der Gelmeroda- und Halle-Bilder. Inspiriert von den bei einem Paris-Aufenthalt im Jahr 1911 gesichteten leuchtenden, dynamischen Werken Robert Delaunays, gelangte Feininger in Verbindung mit Sujets bahnbrechender Ingenieurskunst sowie der Zergliederung und Allansichtigkeit französischer Kubisten zu einer „inneren Vision“. Formstreng und rhythmisch experimentierte er mit prismatischen Überlagerungen von Flächen. Das Element der Zeit hielt Feininger durch den Verlauf des Lichtes über einen Tag hinweg fest und gelangte damit zu einer Transparenz, die für geistige Klarheit und Durchdringung steht.
Dies spiegeln besonders die in einer Koje vereinten fünf Gelmeroda-Bilder. Die kleine Dorfkirche in einem Vorort von Weimar überhöhte Lyonel Feininger zu einer mächtigen Kathedrale mittels dekonstruierter kantiger Strukturen und prismatischer Verschiebungen. Begeistert von den mittelalterlichen Gassen und Altstadthäusern in Halle an der Saale, wo er von 1929 bis 1931 im Torturm der Moritzburg ein Atelier unterhielt, schuf Feininger neben zahlreichen Skizzen elf Gemälde, insbesondere der Marktkirche, des Domes und des Roten Turmes. Erstmals setzte er hier die Fotografie ein. In den beiden Hauptwerken „Der Dom in Halle“ und „Marienkirche mit dem Pfeil“ gelang es dem Maler, eine außergewöhnliche Lichtatmosphäre mittels Überschneidungen und prismatischer Überlagerungen zu erzeugen. Auch als Grafiker verfolgte Feininger gleiche Ziele: Lichtführung, Rhythmus, Überhöhung und Konzentration. 1919 wurde er als Meister von Walter Gropius an das Staatliche Bauhaus in Weimar berufen. Für die Programmschrift gestaltete Feininger die symptomatische Titelgrafik „Kathedrale“. 1921 wurde er Leiter der Grafischen Werkstatt des Bauhauses.
Angeregt durch seine Söhne nahm er 1928 am Dessauer Bauhaus die intensive Arbeit mit der Fotografie auf. Besonders auf nächtlichen Streifzügen durch Dessau bei Schnee und Nebel entwickelte Feininger eine individuelle Sprache, die ihren Reiz aus kontrastierenden Lichtquellen in der Dunkelheit bezog. Extreme Perspektiven von Aufsicht, Untersicht oder Nahaufnahme entsprachen der seinerzeitigen Konzeption des „Neuen Sehens“. Nach weiteren Werkgruppen, die sich den für seine Söhne entwickelten Spielzeugfiguren sowie den Strand- und Schiffsmotiven widmen, die aus seinen jährlichen Urlauben an der Ostsee resultierten und an die Romantik sowie das Schaffen von William Turner und Caspar David Friedrich anknüpften, klingt die Schau mit dem Spätwerk ab 1937 in den USA aus. Nachdem Feininger 1931 seine erste museale Retrospektive im Essener Museum Folkwang erhalten hatte und nach Schließung des Bauhauses von Dessau nach Berlin verzogen war, wurde sein Werk von den Nationalsozialisten als entartet diffamiert. 1937 konfiszierte man 550 Werke aus öffentlichen Sammlungen.
Feininger selbst war Protestant. Der mittlere Sohn Laurence wurde katholischer Priester. Seine Frau aber war Jüdin. Daher verließ die Familie 1937 Deutschland und ließ sich in New York, der Stadt seiner Kindheit, nieder. Verblüffend ist, wie es Feininger gelang, Themen und Motive in einen neuen Stil zu übertragen. Fußend auf seinen Konstruktionsprinzipien illustrierte er aufwärts strebende Wolkenkratzer, wobei die hoch aufragenden Schluchten dazwischen quasi als Leerstellen im Zentrum stehen. Die Gebäude erscheinen fragil und ruinenhaft. Die linearen Strukturen trieb Feininger dann fast bis an die Grenze der Abstraktion. Motivisch widmete er sich der alten neuen Heimat; stilistisch und koloristisch hatte er sich stark verändert. Eine Ausnahme bildeten in den letzten Lebensjahren für Freunde geschaffene „Ghosties“, kleine lineare, aquarellierte Zeichnungen mit geisterhaften Erscheinungen. Zu guter Letzt belegen weit über 2.000 hinterlassene Farbdias, dass der am 13. Januar 1956 in New York verstorbene Künstler bis zum Ende neuen Techniken und Experimenten neugierig und offen gegenüberstand.
Die Ausstellung „Lyonel Feininger. Retrospektive“ läuft zum 18. Februar 2024. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt hat täglich außer montags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags bis 22 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet werktags 12 Euro, an Wochenenden 14 Euro, ermäßigt 10 Euro bzw. 12 Euro. Zur Ausstellung sind ein Begleitheft für 7,50 Euro sowie ein umfangreicher Katalog erschienen, der in der Schirn 39 Euro kostet. |