 |  | Caspar David Friedrich, Das Eismeer, 1823/24 | |
Caspar David Friedrich hat Hamburg wohl nie besucht. Und dennoch ist die Hansestadt bedeutend für die Rezeption seines Werkschaffens. Kein geringerer als der seinerzeitige Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark integrierte zusammen mit Hugo von Tschudi und Julius Meier-Graefe zahlreiche Werke Friedrichs in die legendäre „Jahrhundertausstellung“, die im Januar 1906 in der Berliner Nationalgalerie eröffnet wurde. Diese Schau bewirkte nach Jahrzehnten des Vergessens einen bis heute anhaltenden Zuspruch und Aufstieg Friedrichs zum wohl berühmtesten deutschen Maler der Romantik. In der Folge war es der Hamburger Kunsthallen-Direktor Werner Hofmann, die in seiner Ausstellungsserie zur Kunst um 1800 im Jahr 1974 Friedrich mit einer Retrospektive ehrte, gefolgt von einer ähnlich fulminanten Werkschau, die Hubertus Gaßner 2006/07 aus Essen mit an seinen neuen Wirkungsort in die Hamburger Kunsthalle überführte. Da hier mit vierzehn Gemälden und vielen Grafiken die umfangreichsten Museumsbestände des Meisters verwahrt werden, lag es auf der Hand, zum aktuellen Jubiläum erneut eine Präsentation zu arrangieren.
Anders als früher konnten jedoch wichtige Werke nicht mehr den Weg nach Hamburg antreten, etwa der in Dresden beheimatete „Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge)“ oder die „Lebensstufen“ aus Leipzig, beides aus konservatorischen Gründen, von den politisch bedingten abgeschnittenen Leih-Optionen aus Russland einmal ganz zu schweigen. Inklusive der fünf Meisterwerke „Kreidefelsen auf Rügen“, „Mönch am Meer“, „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“, „Wanderer über dem Nebelmeer“ und „Das Eismeer“, von denen die beiden letztgenannten zum Fundus der Kunsthalle gehören, gelang es dem Kurator Markus Bertsch, 165 Arbeiten Friedrichs zu versammeln, darunter fast 70 Gemälde und rund 100 Zeichnungen, Drucke, Gouachen oder Sepia-Grafiken. Hinzu kommen 30 pointiert eingefügte Werke von Zeitgenossen Friedrichs, darunter von Carl Blechen, Carl Gustav Carus, Johan Christian Dahl, August Heinrich, Georg Friedrich Kersting, Gerhard von Kügelgen, Ernst Ferdinand Oehme, Johann Alexander Thiele sowie Caspar Davids Bruder Christian Friedrich. Davon losgelöst sollen 41 Arbeiten von zeitgenössischen Künstler*innen zeigen, wie sich der Blick auf die Natur und auf Friedrichs Schaffen heute verhält.
Den Besucher erwartet also ein gehaltvoller Parcours mit insgesamt 236 Exponaten. Dabei steht unter dem bewusst vieldeutigen Untertitel „Kunst für eine neue Zeit“ ein umwälzendes, revolutionäres Mensch-Natur-Verhältnis im Fokus, das ebenso auf die Jetztzeit bezogen werden kann. Caspar David Friedrich ging es im Kern nicht um die Illustration eines Naturerlebnisses, sondern um die Wahrnehmung der Natur, die von anderen, zumeist als Rückenfiguren implantierten Personen betrachtet wird. Sie laden die Betrachter*innen dazu ein, sich in die Landschaft hineinzuversetzen, wollen zum genauen Hinsehen animieren und tiefere politische und religiöse Dimensionen erschließen.
Einleitend geht es um Friedrich als Person. Um 1800 hatte er sich mit Mitte 20 in einer Kreidezeichnung selbst ins Bild gesetzt, mit offenen, wachen Augen noch ohne Backenbart und melancholischen Blick, wie es ein kürzlich entdecktes Aquarell des Franzosen Alphonse de Labroue von 1820 zeigt, was bislang unbekannte Kontakte zu Frankreich offenbart. Es folgen frühe Zeichnungen, in denen Caspar David Friedrich schematisch suchend bei ungewöhnlicher Standortwahl die Natur illustriert. Geradezu minimalistisch reduzierte Pflanzenblätter oder braun lavierte Felsstudien gehen über in gefühlsbetonte Sujets, etwa zu in Felsformationen eingeführten Kreuzen, Trauer- sowie an Abgründen platzierten Abschiedsszenen, die schon existentielle Grenzerfahrungen greifbar werden lassen.
Im Sommer 1798 zog es Caspar David Friedrich nach Dresden, damals ein Mekka der deutschen Landschaftskunst. Hier vertiefte er sich in die umgebende Natur. Anders als Malerkollegen, etwa Johann Alexander Thiele, bewegte er sich nicht in einem pittoresk-malerischen Duktus, sondern brach aus gängigen Wahrnehmungskriterien aus, indem er mit strengen, geometrisch konfigurierten Kompositionen operierte. Zwei Sichtweisen gehen hierbei eine kongeniale Verbindung ein, die Sicht auf die Natur und das Bild als gestaltete Fläche. Das Bild soll nicht die Natur vortäuschen, sondern als vom Menschen gestaltetes Werk begriffen werden und in die Natur hineinführen, weniger eine Aussage vermitteln. Damit verbunden ist ab etwa 1808 der verstärkte Einsatz von Rückenfiguren bei einer Abkehr von Zeichnungen und Sepia-Bildern hin zu Ölgemälden. Hier verlässt die Hamburger Schau den chronologischen Pfad und wendet sich einzelnen Themen zu.
Einen ersten Höhepunkt bildet die Begegnung mit dem „Mönch am Meer“, einem formal reduzierten Seestück von 1808/10 mit subtil religiöser Kritik. Völlig entleert, in drei Streifen aus Strand, Meer und Himmel klar horizontal gegliedert und von einer unendlichen Perspektive umfangen, reißt es den Beobachter aus der gewohnten Naturbetrachtung und eröffnet neue Denkräume. Nicht wenige Fachleute ziehen hier direkte Linien zu den Farbraumtiefen in den Werken Mark Rothkos. Vorbei an mit religiösen und politischen Ideen aufgeladenen Bildern, allen voran Varianten zu „Huttens Grab“, das Caspar David Friedrich als Zeichen einer patriotischen Haltung in die Ruine von Oybin verlegte, folgt als weiteres romantisches Programmbild das „Eismeer“. Das von gewaltigen Eisschollen auf der Elbe im Winter 1823/24 angeregte eisige Katastrophenbild entstand auch vor dem Hintergrund damaliger Expeditionen zur Erkundung neuer Schifffahrtsrouten nach Amerika, von denen einige im Packeis endeten. Ein in den Eisschollen zerquetschtes Schiff signalisiert die Stärke einer unbezwingbaren Natur und zeugt von menschlicher Hybris. Das solitäre, über seine Zeit weit hinausweisende Abbild des Scheiterns konnte Friedrich zu Lebzeiten nicht verkaufen, es war zu modern. Seines schwarzen Lichtwark-Rahmens nun entledigt und wieder in ursprünglichen goldenen Hohlkehlen gefasst, bewirkt diese Rahmung nun ein unmittelbares Eintauchen ins Geschehen.
Extrem streng inszeniert und dadurch von einer grandiosen Ausstrahlung gekennzeichnet ist der 1970 von der Kunsthalle erworbene „Wanderer über dem Nebelmeer“, sozusagen die „Mona Lisa“ unter den deutschen Gemälden, der sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Das Gipfelerlebnis, die Einsamkeit, das Spiel der Natur mit durchziehenden Nebelschwaden, alles wahrgenommen von einer als Städter gekleideten, genau im kompositorischen Zentrum stehenden, zentral wie statisch aufgebauten männlichen Rückenfigur, auf der alle abfallenden Bergflanken ausgerichtet sind. Das Sehen und das Erlebnis in der Natur hat Caspar David Friedrich hier um 1817 auf den Punkt gebracht.
Immer wieder zog es Friedrich auf die Insel Rügen. Mit den „Kreidefelsen auf Rügen“ von 1818 bietet sich ein völlig anders aufgebautes Hauptwerk. Zwischen weit auseinandergerissenen, skurril gezackten Felsformationen öffnet sich im Zentrum die Leere des Meeres in einem flirrend nuancenreichen Farbspiel. Die Dramatik zwischen Tiefensog und Weitsicht steigern drei in die Tiefe und die Weite blickende Personen, wobei die rechte Figur in der als Ausdruck des politischen Protests zu interpretierenden altdeutschen Tracht auftritt. Die zarten Pastelltöne offenbaren nicht nur den Stimmungsmaler. Als prototypische impressionistische Inszenierung weisen die sanften Meereswellen oder Blätter weit voraus. Beim Bild „Der Watzmann“ von 1824/25, den Friedrich übrigens nie in natura sah, kommt noch einmal die Erhabenheit und Übermacht der Natur zum Ausdruck, wobei der Meister das Massiv als öde, lebensferne, unbegehbare Landschaft gestaltete und nicht wie in Gemälden etwa von Carl Gustav Carus durch Menschen und Wege belebt. In seinen letzten Jahren kam Friedrich auf alte Techniken wie die Sepia-Malerei und frühe Sujets wie Küsten oder Gebirge zurück. Sein mutmaßlich letztes Bild, das 1992 von der Kunsthalle erworbene Ölgemälde „Meeresufer im Mondschein“ aus den Jahren 1835/36, ist wiederum eine symmetrisch und dunkel angelegte Lichtmalerei mit schwer lastendem Himmel, ein letzter Verweis des tief religiösen Protestanten auf Gott als Schöpfer der Natur.
Ein zweiter Ausstellungsteil schlägt mit medienübergreifenden Arbeiten von 21 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern den Bogen ins Heute. Natur und Klimawandel betrachten sie in einer Zeit gewaltiger Umbrüche aus der globalen Perspektive teils unter dezidierter Bezugnahme auf Caspar David Friedrich. So implantierte Olafur Eliasson exakt die Farbpigmente von Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ in die ungegenständliche Komposition eines Farbkreises. Mariele Neudecker nähert sich den romantischen Bildern Friedrichs in Form von Dioramen an, Lyoudmila Milanova kreiert Wolkenillusionen auf 30 hintereinander platzierten und technisch bearbeiteten Acrylglasplatten, wobei sie technische und sinnliche Ebenen miteinander verknüpft. Julian Charrières Pigmentdrucke zeigen je eine Person, die mit einem Brenner uralte Eisberge abschmilzt und damit alle hierin gespeicherten Informationen über die Entstehungsgeschichte der Erde vernichtet. Den großen Makart-Saal der Kunsthalle beherrschen als krönenden Abschluss der Friedrich-Schau zwei großformatige Friedrich-Adaptionen des US-amerikanischen Künstlers Kehinde Wiley, die kritisch den westlichen, weiß geprägten Kunstkanon reflektieren und etwa zwei schwarze Männer zu dem Protagonisten in Friedrichs Kreidefelsen machen. Da findet man sich plötzlich in einer völlig anderen Zeit wieder, die für viele ältere Besucher sicherlich aus den Fugen geraten ist. Wie würde wohl Friedrich heute darüber denken?
Die Ausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“ läuft bis zum 1. April 2024. Die Hamburger Kunsthalle hat täglich außer montags von 10 bis 19 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr geöffnet. Für den Besuch bedarf es eines Zeitfenster-Tickets. Der Eintritt beträgt regulär 16 Euro, ermäßigt 8 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog im Hatje Cantz Verlag erschienen, der im Museum 49 Euro, im Buchhandel 54 Euro kostet. |