Es erstaunlich, wie rasch nach dem Zweiten Weltkrieg der Ausstellungsbetrieb in Museen und privaten Galerien Fahrt aufnahm. Zu den gefragten Künstlern gehörte seinerzeit Alexander Camaro. In der 1946 gegründeten Berliner Galerie Walter und Irene Schüler konnte er bereits 1947 eine Ausstellung bestreiten, in der dem Publikum besonders das gerade vollendete Gemälde „Beim Standfotograf“ ins Auge fiel. In puppenhafter Pose stehen hier vier weibliche Gestalten völlig beziehungslos zueinander im Raum. Ein tuchverhüllter Mann hinter der Plattenkamera ist bemüht, die gleichen, wohl aber nicht gleich gewillten schmaläugigen Spielfiguren mit ihren hoch geschlossenen Kleidern aus einer längst vergangenen Epoche abzulichten. Unter Rückgriff auf das um 1878/79 entstandene Gemälde „Ein Brautpaar beim Photographen“ des Pariser Salonmalers Pascal-Adolphe-Jean Dagnan-Bouveret begab sich Camaro auf eine ironisch-satirische Ebene, indem er gewitzt und locker, zugleich aber doppeldeutig den Umgang mit der Realität in der Sowjetischen Besatzungszone und damit die immensen ungelösten Problemen der Zeit zur Schau stellte. Mit dem Gegenwartsbezug kritisierte er geschickt die herrschenden Verhältnisse.
Hochrangige Repräsentanten der US-amerikanischen Besatzungsmacht, Berliner Magistratsvertreter und auch von auswärts angereiste Museumsleiter besuchten diese Ausstellung. Doch war es Gerhard Händler, der Direktor des damaligen Städtischen Museums in der Moritzburg in Halle an der Saale, der möglicherweise das gleichfalls ausgestellte Gemälde „Am Morgen“ dort sah und Ende 1947 für sein Haus erwarb. Es handelt sich ebenfalls um ein Bild ohne strahlende Farben. Gedeckte Töne evozieren Stille und Melancholie, die die Nachkriegsgesellschaft in einer Haltung zwischen Erwartung und Bürde durchdrangen. Gleichzeitig atmet das Sujet etwas Großzügiges und Freies.
Erstmals gelangte hiermit ein Werk Camaros in eine öffentliche Sammlung und wurde sogleich bei der Neueröffnung der Moritzburg 1948 zusammen mit zwei weiteren Leihgaben des Künstlers, den Gemälden „Liegendes Mädchen“ von 1946 und dem „Karussell“ von 1948, präsentiert. Dem nicht genug! Gerhard Händler erwarb sogleich zwei weitere Arbeiten von Camaro: Die Tempera-Malerei „Mädchen auf dem Balkon“ von 1946 und die Federzeichnung „Napoleon und Josephine“ von 1947. Vermutlich wurde der Museumsleiter durch die Präsentation von Camaros Schaffen in der von Herbert Rüger betriebenen „Kleinen Galerie an der Ulrichskirche“ in Halle aufmerksam, wo im Frühjahr 1947 sechs Gemälde und zwei Radierungen Camaros zu sehen waren.
Händler war bemüht, Lücken zu schließen, die der Museumssammlung durch die Aktion „Entartete Kunst“ entstanden waren. Durch den Erwerb weiterer Werke unter anderem von Horst Strempel, Werner Heldt, Curt Lahs oder Karl Hofer stellte er einen zeitgenössischen Fundus zusammen, der das Kunstschaffen der Saale-Stadt wesentlich prägte. Charakteristisch für Händlers Erwerbungen waren ein Innehalten im Transitorischen, ein nachdenklicher Moment, etwas abwartend Suchendes in Verbindung mit einem gedeckten Kolorit, hintergründigen Duktus und flüchtigen Charakterzügen. In Halle an der Saale propagierten Galeristen wie Eduard Henning, Herbert Rüger oder Albert Neubert Kunst mit dieser besonderen Stimmung und zeigten in ihren Ausstellungen Arbeiten von Karl Hofer, Hermann Bachmann oder Ulrich Knispel. Für kurze Zeit herrschte in Halle an der Saale ein deutschlandweit ausstrahlendes Klima künstlerischer Freiheit und Selbstbestimmung. Mit Beginn der sogenannten „Formalismus-Debatte“ endete dieser Aufbruch aber ab 1949 schon wieder.
Speziell dieser zwischen Abstraktion und Figuration angesiedelten Malerei mit einer schwermütigen Atmosphäre und verhaltenem Kolorit geht die von Matthias Rataiczyk kuratierte Ausstellung mit Werken der genannten Künstler in der Kunsthalle „Talstrasse“ nach und berücksichtigt dabei besonders das frühe Œuvre Camaros. Nach den ersten Ankäufen durch das Kunstmuseum auf der Moritzburg folgten weitere durch die Nationalgalerie in Ost-Berlin (1950) und das Kunstmuseum Bonn (1951). Nachdem Alexander Camaro 1951 den Kunstpreis Berlin erhalten hatte und zum Professor an der Hochschule für bildende Künste in Berlin berufen worden, kam es infolge wichtiger Ausstellungen um 1952/53 verstärkt zu musealen Erwerbungen, allerdings nur noch in Westdeutschland.
Geboren am 27. September 1901 als Alphons Bernhard Kaczmarofski in Breslau, schloss sich Camaro bereits als Schüler einer fahrenden Artistengruppe an und trat als Seiltänzer auf. Von 1920 bis 1925 studierte er Malerei an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau unter anderem bei Otto Mueller. Um 1929/30 folgte eine Ausbildung zum Ausdruckstänzer, nach der er unter dem „russifizierten“ Künstlernamen Alexander Kamaroff als Solist in expressionistischen Tanzdramen oder als Pantomime auftrat und während des Zweiten Weltkrieges auf Frontbühnen zur Truppenbetreuung eingesetzt wurde. Nach der Fahnenflucht landete er nahe Quedlinburg im Harz, wo ihn der Künstlerkollege Mac Zimmermann versteckte und versorgte. Camaro malte Zimmermann in dem Porträt „Der gute Onkel“, das die aktuelle Ausstellung bereichert. Nach dem Krieg widmete sich der nun in Berlin lebende Alexander Camaro, wie er sich seit 1946 nannte, ausschließlich der Malerei und stieg zu einem erfolgreichen deutschen Maler auf. Scharf umrissene Liniengerüste und Zeichen bestimmten das Schaffen in den 1950er Jahren. Camaro entwickelte sein Werk mal mehr, mal weniger figurativ weiter und blieb seinen Hauptthemen Zirkus, Varieté, Bühne und Theater zeitlebens verbunden.
Zudem gestaltete Alexander Camaro in der Nachkriegsepoche öffentliche Aufträge, etwa die Ausstattung der neuen Berliner Philharmonie mit farbigen Glasbausteinen und in der Folge weitere Projekte am Berliner Kulturforum. Zu seinen berühmtesten Bildern gehört das Ölgemälde „Die Schmiede des Vulkan“, das Camaro für die Erstausstattung des 1963 eröffneten Bonner Kanzlerbungalows schuf. Deren kontrastreiche Schichten aus roten, orangen und braunen Farbtönen, verbunden mit hellen Akzenten und leichten figurativen Andeutungen, sollten eine warme, kreative Denkatmosphäre bewirken und die Entwicklung guter politischer und gesellschaftlicher Lösungen anregen.
Schon 1955 wurde der zur Documenta nach Kassel eingeladen, ein zweites Mal 1959. 1966 heiratete er seine Schülerin Renata Gentner und bezog mit ihr neben seinem Berliner Domizil im Jahr 1971 ein Atelierhaus in Kampen auf Sylt. Dies beeinflusste auch sein durch lichtete, helle Farben ausgezeichnetes Spätwerk. Trotzdem blieb Camaro ein Melancholiker. Seine Kunst entwickelte er unabhängig von den Zwängen der Formalismus-Debatte im Osten und dem Vordrängen abstrakter Kunst im Westen. Abseits des gängigen Kanons oszillierte er zwischen Figuration und Ungegenständlichkeit, wie seine Hallenser Kollegen, die in den unmittelbaren, noch von Offenheit geprägten Nachkriegsjahren zwischen Träumerei und Traurigkeit schwebten. In Westdeutschland wurde Camaro als seltener Sonderfall betrachtet und von der Kunstkritik als „interessante Ausnahme, ein distinguiertes Überbleibsel“ der Zwischenkriegsmoderne gewertet. Am 20. Oktober 1992 starb Alexander Camaro in Berlin.
Die Ausstellung „Die Kraft der Melancholie. Alexander Camaro und Seelenverwandte“ ist bis zum 25. Februar zu besichtigen. Die Kunsthalle „Talstrasse“ hat mittwochs bis freitags von 13 bis 18 Uhr, am Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 8 Euro, ermäßigt 6 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der in der Kunsthalle 29,90 Euro kostet. |