Mehr denn je sieht man sich heute mit neuen ungeahnten Situationen konfrontiert, die das Leben vieler Menschen einschneidend verändern. Dies war in früheren Zeiten aber nicht anders, etwa in der Welt des Malers und Grafikers Otto Dix. Der 1891 in Untermhaus bei Gera geborene und 1969 am Bodensee verstorbene Künstler durchmaß vier politische Systeme: Das Kaiserreich, die Weimarer Republik, eine prekäre Phase während der Zeit des Nationalsozialismus und die Nachkriegsdemokratie lassen sich phasenweise in seinen Arbeiten ablesen. Zeitlebens schaute Dix hinter menschliche Fassaden und versuchte, Ängste, Niederträchtigkeiten, soziale Ungleichheiten oder ungeschönte Kriegszustände zu enthüllen. Er verstand dies so packend darzustellen, dass seine Bilder noch heute unter die Haut gehen. Besonders bekannt wurde er als führender Porträtist der Weimarer Zeit. Aber auch Landschaften oder religiöse Motive fanden Eingang in sein Schaffen, das sich von einem karikaturhaften Verismus über Dada, die Neue Sachlichkeit, Anklänge an den Stil Alter Meister bis hin zu malerisch-aufgelockerten Formen nach 1945 erstreckt.
Ab 1933 musste Dix urplötzlich von seinen provokanten und skandalträchtigen Illustrationen der Zeitumstände Abstand nehmen. Als einer der ersten Kunstprofessoren wurde er entlassen. Das Entsetzen über die Zeitläufe mündete in subtileren Werken aus der Perspektive des selbst politisch gestürzten Künstlers, teilweise drapiert mit Märtyrern und Heiligen. Der Fokus einer großen dialogischen Schau in den Hamburger Deichtorhallen liegt auf den von politischer Feme, Zensur und Isolation geprägten 1930er und 1940er Jahren, in denen einige Werke von Otto Dix als „entartet“ galten. Diese bislang bei Ausstellungs- und Forschungsvorhaben eher sekundär behandelte Epoche mit ihrer nicht so offensichtlichen Zeitkritik bildet den konzentrierten Schwerpunkt der von Ina Jessen konzipierten Werkauswahl. Dazu gehören etwa altmeisterlich gehaltene Landschaftsbilder ab 1933 und ab 1937 christliche Sujets, bei den Dix seine Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg wieder aufleben ließ.
Dem Korpus aus 51 Bildern von Otto Dix stellte sie dialogisch rund 100 Werke von 50 jungen internationalen Kunstschaffenden gegenüber. Dieser zweite Schwerpunkt beinhaltet die künstlerische Auseinandersetzung hinsichtlich von Themen, politischer Ikonografie, Stil, Technik und Genre. Jessens Intention war es, einerseits die Veränderungen der kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen in der Rezeption von Dix’ Werkschaffen herauszustellen, andererseits die große Strahlkraft und Wirkmächtigkeit zwischen Aneignung und Neuinterpretation, Herausforderung und Ansporn offenzulegen. Welche von Dix verarbeiteten Anliegen beschäftigen heute die Künstler*innen in welchen Lesarten, und welche Rolle spielen dabei dessen Arbeiten? In sieben nach thematischen, zeitpolitischen, motivischen oder technischen Kriterien zusammengestellten Sektionen hat Jessen die direkten Bezugnahmen zu Dix entwickelt.
Zum Einstieg gilt es, in das Großstadtmilieu einzutauchen. Den signifikanten Auftakt der Schau macht das großformatige „Hospital Triptych No. 1“, in dem der chinesische Maler Zeng Fanzhi mit expressivem wie neusachlichem Gestus eine seelenlose Krankenhaus-Szenerie im kommunistischen System Chinas entfaltet, ausgezeichnet durch unwirkliches Kolorit, angsterfüllte Blicke der Kranken, fehlende Empathie und totales Ausgeliefertsein. Wie auch Dix sich vor 1933 dem pulsierenden Leben zwischen Vergnügungssucht und Dekadenz, sozialen und politischen Spannungen zuwandte, so widmen sich die Afroamerikanerin Faith Ringgold kulturellen Milieus von Jazz und Tanz oder der deutsche Fotograf Tobias Zielony dem Leben subkultureller Communities. Die nächste Abteilung beschäftigt sich mit dem überzeichneten Typenporträt, einem Genre, das Dix’ Œuvre von der Weimarer Zeit bis ins Spätwerk durchzieht. Wie tradierte Menschen- und Rollenbilder der klassischen Moderne in künstlerische Perspektiven der Gegenwart überführt werden können, zeigt ausdrucksstark das von der Malerin Caroline von Grone 2023 erstellte Porträt der Schauspielerin Bettina Stucky, das offensichtlich in enger Korrespondenz zu Dix’ Bildnis des Schauspielers Heinrich George von 1932 steht.
Themenkreise wie Starkult, Queer-Communities oder Mutterschaft legen weitere Verbindungslinien zu Otto Dix offen, während sich gezielte Überzeichnungen bereits bei Alten Meistern wie Matthias Grünewald, Albrecht Dürer oder Lucas Cranach finden. Deren Rezeption durch Dix beherrscht speziell seine Phase der Altmeisterlichkeit zwischen 1933 und 1945. Die bis in die Gegenwart reichenden Ausprägungen dieser malerischen Variante manifestieren sich etwa in Werner Tübkes „Bildnis Hannelore“ aus dem Jahr 1959. Im Abschnitt „Zwischen den Weltkriegen“ geht es ausgehend vom Gemälde „Flandern“ von 1934/36 um Kriege, Konflikte und Katastrophen. Deutlich hat die heute in Hamburg lebende, gebürtige Iranerin Simin Jalilian inhaltlich wie kompositorisch dieses Gemälde zum Vorbild für ihr Werk „The War“ von 2022 genommen, in dem sie vor orangebraun aufflammenden Hintergrund Soldaten auf einem Panzer festhält, wobei die Ernsthaftigkeit durch das phallusartige Kanonenrohr zwischen den Soldatenbeinen ins Karikaturhafte überleitet. Rund 20 Minuten Zeit muss man für die lohnende Betrachtung der Videoinstallation „Deep Gold“ des deutschen Filmkünstlers Julian Rosefeldt mitbringen, die mit ihren traumhaften, teils ins Brutale übergehenden Szenen in einer ruinösen Kulissenlandschaft die Verbindung von der Zeit vor 100 Jahren ins Heute schlägt.
Katastrophenbilder bilden den Übergang ins fünfte, die kritische NS-Epoche und das Groteske in den Blick nehmende Segment. Ausgehend vom Gemälde „Der Schützengraben“, das 1933 ein Hauptgrund für die Entlassung von Otto Dix aus dem Lehramt war, stehen hier die Wahrnehmung autoritärer Systeme, die Hinterfragung von Machtmissbrauch, Propaganda, Manipulationen oder Nationalismen im Fokus. Besonders stark setzt sich der Multimediakünstler Paul McCarthy in Videos und Zeichnungen mit Machtmissbrauch auseinander. Auf Dix’ politische Landschaften antworten großformatige Materialtafeln von Anselm Kiefer als wuchtige Erinnerungsareale an dunkle Stunden der deutschen Geschichte oder ein großformatiger Wandteppich mit düsterer, wolkenverhangener Szenerie als Bezugnahme auf den Brexit von Grayson Perry. Zum Schluss geht es um biblische Themen und Allegorien. Auf Dix’ „Versuchung des heiligen Antonius“ reagiert die Amerikanerin Cindy Sherman mit der überspitzten, sezierend angelegten Mariendarstellung samt völlig künstlich wirkender Interaktion von Mutter und Kind beim Stillen an der fingierten Brust auf dem Farbfoto „Untitled #216“ von 1989, in dem sie ähnlich wie bei Dix und seinen Auseinandersetzungen mit Formen der Selbstdarstellung auf westlich-christliche Rollenbilder anspielt.
Die Ausstellung „Dix und die Gegenwart“ ist bis zum 1. April zu sehen. Die Deichtorhallen Hamburg haben täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 12 Euro, ermäßigt 7 Euro. Zur Ausstellung ist ein Katalog im Snoeck Verlag erschienen, der im Museumsshop 48 Euro kostet. |