| | Orhan Pamuk, Boutique Champs-Élysée | |
Orhan Pamuk ist der erste türkische Schriftsteller, der den Literaturnobelpreis erhalten hat. Jetzt zeigt er sich im Münchner Lenbachhaus von einer anderen Seite und präsentiert sein vielseitiges Schaffen als Autor, Fotograf, Zeichner, Kurator und Museumsgründer. Inszeniert als Museum im Museum, ist die Ausstellung „Der Trost der Dinge“ eine kleine Wunderkammer. 40 Vitrinen hat der 72jährige Künstler für die Schau gestaltet, die in veränderter Form bereits in Dresden zu sehen war und Ende dieses Jahres nach Prag weiterziehen wird. Es sind Nachbildungen der Werke aus seinem Privatmuseum „Museum der Unschuld“ in Istanbul.
Kurz vor der Jahrtausendwende hatte Pamuk im Design- und Trödelviertel Çukurcuma ein schmales, hoch aufragendes Eckhaus erworben. 2001 begann er mit seinem Roman „Das Museum der Unschuld“. Während er schrieb, nahm auch das Museum, das der Roman im Titel führt, Gestalt an, und dem Schriftsteller Orhan Pamuk trat der Initiator und Kurator der Kunstsammlung an die Seite, der die Objekte miteinander verknüpfte, von denen im Roman die Rede ist. Oder war es umgekehrt? Waren es nicht vielmehr die Dinge, die Pamuk fand und sammelte, um die herum er seine Geschichte entwarf?
Pamuks Roman erschien 2008 in der Türkei, auf Deutsch im Jahr 2010, als Istanbul Kulturhauptstadt Europas war. Die Eröffnung des Museums hätte Teil des offiziellen Programms sein sollen. Aber Pamuk löste die Verträge mit der Stadt auf, zahlte die staatlichen Zuwendungen zurück und baute das schmale Haus als unabhängiges Privatmuseum zu Ende.
Der Roman erzählt die Geschichte des jungen Fabrikantensohn Kemal in Istanbul, der sich in seine schöne aber arme Cousine Füsun verliebt und alles sammelt, was sie berührt hat, alles, woran sie in glücklichen Zeiten gemeinsam ihre Freude hatten. Als ihre Liebesbeziehung in einer Tragödie endet, richtet Kemal ein Museum ein, in dem Tausende von Gegenständen ausgestellt sind, die ihn an die Geliebte erinnern.
Die 83 Vitrinen im Museum entsprechen der Anzahl der Kapitel im Buch, sie tragen dieselben Titel. Etwa die Hälfte der in Istanbul präsentierten Arrangements ist nun nach München gewandert, ergänzt durch neue Vitrinen, die sich konkret auf das Lenbachhaus und dessen Sammlung beziehen. Insbesondere interessierte Pamuk dabei die historische Wechselbeziehung zwischen Europa und dem Osmanischen Reich beziehungsweise der Republik Türkei. Außerdem ist in der Ausstellung eine Auswahl seiner Gemälde, Zeichnungen, Skizzenbücher, Notizbücher und Fotografien zu sehen. Dank ausgewählter Texte aus Pamuks Publikation lässt die Ausstellung nachempfinden, wie sich beide Konzepte parallel entwickelten und bedingen. Im Spiel mit Fakt und Fiktion, fingierter Authentizität und schlichtem Dokument überträgt Pamuk die Kunstgriffe, mit denen er in seinem Roman agiert, auf eine visuelle Ebene.
Einerseits illustrieren die Objekte die tragische Liebesgeschichte, gleichzeitig eröffnen sie ein fantastisches Panorama des Istanbuler Alltags zwischen den 1950er und den 2000er Jahren. Sie dokumentieren auf künstlerische und poetische Weise das Zeitgeschehen, die Entwicklung der Geschlechtervorstellungen und das Zusammentreffen der Kulturen: Ob das die über 4000 Zigarettenstummel sind, die Füsun im Roman rauchte, den Ohrring, den sie beim Liebesspiel verlor, eine zerbrochene herzförmige Keramikform, aus der ein roter Samtfaden wie eine Blutspur rinnt, oder die kleinen Streichholzheftchen des Restaurants Fuaye, wo sich die Liebenden trafen. Das Verwirrspiel, das Pamuk in seiner Parallelaktion betreibt, drückt sich auch darin aus, dass Kemal in dem Roman den Autor Orhan Pamuk bittet, den Katalog des Museums zu schreiben, in dem er nach dem plötzlichen Unfalltod von Füsun die von ihm gesammelten Gegenstände der Geliebten versammeln will. Wieder verschiebt sich die Herangehensweise: der kommentierte Ausstellungskatalog wird zum Roman.
Die Installation dieser künstlerisch-literarischen Verschränkung, die das Lenbachhaus präsentiert, mutet an, als sei sie aus einer anderen Zeit. Im Dämmerlicht werden die Dioramen präsentiert, hölzerne Schaukästen, in denen Orhan Pamuk Kuriositäten aufeinandertreffen lässt, für deren Inbezugsetzung man sich Zeit nehmen sollte. Alltagsgegenstände wie Flakons, Fotografien, Werbeplakate, Schmuckstücke, Damenschuhe, Lippenstifte, Taschentücher, Streichholzschachteln, leere Gläser, Knöpfe, Rechnungen, Muscheln, Puppenarme, Tapetenreste, Rakiflaschen, Vogelkäfige und Uhren fügt Pamuk zu detailreichen, dreidimensionalen Assemblagen, die in ihrer Rätselhaftigkeit an Werke von René Magritte, die poetischen Boxen von Joseph Cornell oder Marcel Duchamps Readymades erinnern, aber doch wieder in ihrer Bezugnahme auf die islamische Bilderwelt ganz eigen sind.
Zu den auf das Lenbachhaus reagierenden Dioramen gehören zwei Auseinandersetzungen mit Alfred Kubin. Eine bezieht sich auf dessen Tuschfederzeichnung „Epidemie“, die eine riesige, skelettartige Kreatur zeigt. Pamuk berichtet, dass er sich beim Betrachten der Zeichnung in die Zeit zurückversetzt fühlte, als er während der Corona-Epidemie seinen Roman „Die Nächte der Pest“ fertig schrieb. „Den Pessimismus“, der von Kubins Zeichnung „Das große Maul“ ausgeht, erläutert Pamuk, wollte er „mit einem Diorama in Optimismus umkehren“. Ins riesige Maul von Kubins Kreatur, das die Künstlerin Basak Bugay in die dritte Dimension überführt hat, strömen in dieser Vitrine keine törichten Menschen, ganz im Gegenteil lässt Pamuk „die Menschen, die ihn sein „Leben lang am meisten durch ihre Intelligenz und Kreativität beeindruckt haben“, auf die Betrachter zu marschieren. „Das Leben“, schreibt Pamuk, „mag eher so sein, wie Kubin es uns in seinen großartigen Bildern zeigt, doch sollen Kunst und Kreativität uns nicht in die Hölle führen, sondern zum Reichtum des Lebens.“
Mit zwei weiteren Kästen reagiert Pamuk auf Bilder von Paul Klee. Dazu gehört das Gemälde „Erzengel“ von 1938. In einem der Dresden-Dioramen geht es ebenfalls um Engel. Pamuk bringt hier ein Zitat aus Rilkes „Duineser Elegien“, einen Engel aus einem Gemälde von Francisco de Zurbarán und weitere Engel aus islamischen Manuskripten zusammen. Seine Erkenntnis: „Die christlichen Engel sind größer. Sie wirken mehr wie richtige Individuen. Und führen ein dramatischeres Leben.“ Die Engel im Islam sind weniger individuell, ähneln sich mehr und treten meist als Diener auf. Die Vermischung von Welten, von Gefundenem und Erfundenem, Orient und Okzident, Kunst und Alltagsgeschichte, macht den großen Reiz der Schaukästen aus, die Museum und Roman, Schrift und Bild auf ungewöhnliche Weise miteinander verweben.
Im Roman findet Kemal Trost im Sammeln von Dingen, die Füsun berührt hat oder die durch Erinnerungen mit ihr verknüpft sind. Er sammelt diese Dinge, um seine Liebe festzuhalten. Das hat etwas Obsessives. Er wird den Roman, dessen erinnerte Liebesgeschichte die Jahre zwischen 1975 und 1984 umfasst, so wenig überleben wie die geliebte Frau. Aber seine Sammlung überlebt und bildet den Grundstock für ein „musée sentimental“, ein Mausoleum und Monument der individuellen Liebe, deren melancholische Geschichte die Objekte erzählen. Und um das Individuum, so heißt es in Pamuks im Katalog publizierten „Museumsmanifest“, sollte es in allen Museen gehen. Nicht um Nationen. Museen sollten auch keine Paläste, sondern „kleiner, individueller und billiger sein“. Mit der Präsentation dieser doch recht einzigartigen Sammlung stellen die teilnehmenden Kunstsammlungen auch die Frage nach der Institution „Museum“ an sich: nach dem Sammeln, nach den ausgewählten Kunstwerken und Gegenständen, nach ihrer Anordnung und der Bedeutung, die sie erzeugen.
Man könnte Orhan Pamuk sentimentale Detailverliebtheit entgegenhalten, dass er seine Objekte auratisch präsentiert und seine Inszenierung politische Anspielungen vermissen lässt. Aber gerade weil er sich mit dem Kleinen, Unscheinbaren, den persönlichen Dingen der Erinnerung beschäftigt, denkt er über die besondere Art von Trost nach, den uns Gegenstände spenden können, und entwickelt gleichzeitig Themen weiter, die ihn seit vielen Jahren beschäftigen: Kultureller Wandel, Okzident und Orient, die immanente Natur des Sammelns, Wort und Bild, Raum und Zeit und schließlich die Rolle der Museen in der modernen Welt und wem diese Anstalten eigentlich dienen sollten. Museen sollten, so Pamuk, genauso wie Romane auch die Geschichte einzelner Individuen erzählen können. Für ihn besteht „ein ganz besonderer Wert von Museen darin“, zu zeigen, „in welchem Zusammenhang sich die Objekte zueinander befinden, wie sie sich auf Menschen und deren Gedanken und Sorgen beziehen. Das nenne ich die Kraft der Dinge – eine tröstende Kraft gegen die vergehende Zeit.“
Im vielschichtigen Universum von Orhan Pamuk spielen Geschichte, Fiktion, Erinnerung und Wirklichkeit zusammen. Es sind die gedächtnisnützlichen Dinge, die ihn interessieren, Dinge, die Erinnerungen hervorrufen und die viele Einzelteile wieder zu einem großen Ganzen zusammenführen. Objekte, die uns vielleicht ein Leben lang begleiten und Zeugnis über unsere Vergangenheit ablegen. Dinge, die mehr sind als nur ihr äußerer Schein. Dinge, die ein Sein, oder besser gesagt, ein „Gewesen sein“ in sich verorten. Aufgrund dieser Dinge ist es uns möglich, in die Vergangenheit zu reisen und uns Erlebtes wieder ins Gedächtnis zu rufen. Über diese persönlichsten aller Stücke, die Erinnerungsstücke, ist Menschen eine Reise durch die Zeit möglich. Sie sind „Triggerstücke“, Auslöser, die eine Schwelle schaffen von der Gegenwart in die Vergangenheit, von der Vergangenheit zurück in die Zukunft, die wiederum Gegenwart ist.
Pamuks Kollege, der italienische Schriftsteller Italo Svevo, schreibt in seinem Roman „Zeno Cosini“: „Die Vergangenheit ist immer neu. Sie verändert sich dauernd, wie das Leben fortschreitet. Teile von ihr, die in Vergessenheit versunken schienen, tauchen wieder auf, andere wiederum versinken, weil sie weniger wichtig sind. Die Gegenwart dirigiert die Vergangenheit wie die Mitglieder eines Orchesters. Sie benötigt diese Töne und keine anderen. So erscheint die Vergangenheit bald lang, bald kurz. Bald klingt sie auf, bald verstummt sie. In die Gegenwart wirkt nur jener Teil des Vergangenen hinein, der dazu bestimmt ist, sie zu erhellen oder zu verdunkeln.“ Und von Samuel Taylor Coleridge stammt das Zitat, das dem Roman Pamuks als Motto diente und das auch in Entrée des Istanbuler Museums zu lesen ist: „Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann?“
Die Ausstellung „Orhan Pamuk. Der Trost der Dinge“ ist bis zum 13. Oktober zu sehen. Das Lenbachhaus hat dienstags bis sonntags sowie feiertags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags zusätzlich bis 20 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 10 Euro, ermäßigt 5 Euro; für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren ist er kostenlos. Zur Ausstellung ist im Hanser Verlag die Münchner Ausgabe der Publikation „Orhan Pamuk. Der Trost der Dinge“ für 33 Euro erschienen. |