| | in der Ausstellung „Landscapes of an Ongoing Past“ | |
Egal, wie jung wir sind. Egal, wie modern, digital und zukunftsweisend unser Arbeitsplatz ist. Egal, wie fortschrittlich wir wohnen, reisen, essen oder lieben. Wir alle leben in Umgebungen, die wie Schwämme vollgesogen sind mit Geschichte und Geschichten, mitunter glanzvollen, häufig aber auch bedrückenden und brutalen historischen Einschreibungen. Dieses Leben im Bewusstsein einer „andauernden Vergangenheit“ ist der Leitgedanke und das verbindende Motiv der Ausstellung „Landscapes of an Ongoing Past“ im Salzlager der Zeche Zollverein in Essen, die jetzt parallel zur Ruhrtriennale zu sehen ist. Die 1.500 Quadratmeter große Halle aus den 1950er Jahren diente einst als Lager für die bei der Kohleförderung als Nebenprodukte anfallenden Salze, mithin vielfältig nutzbaren Rohstoffen, die Grundlage für Nahrung, Dünger, aber auch Sprengstoffe sein können.
Um Ambivalenzen geht es auch in der Ausstellung. Versammelt sind 17 Projekte, darunter etliche Neuproduktionen, von Künstler*innen, die eines gemeinsam haben: Sie alle stammen aus Ländern des ehemaligen Ostblocks. Die Tatsache, dass in einem dieser Länder, nämlich der Ukraine, zur Zeit ein von Russland aufgezwungener Krieg stattfindet, lädt die Schau zudem mit einer besonderen Brisanz und Dringlichkeit auf, denn gerade die ukrainische Perspektive kommt in Essen nicht zu kurz. Entwickelt haben die Ausstellung denn neben Britta Peters und Alisha Raissa Danscher von Urbane Künste Ruhr die beiden aus Kiew stammenden Gastkuratorinnen Tatiana Kochubinska und Yevheniia Moliar.
Mit dem unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Salzlager hätte sich das Kuratorinnenquartett kaum einen besseren Ort aussuchen können. Denn hier ist seit über zwanzig Jahren die monumentale Installation „Der Palast der Projekte“ von Ilya Kabakov (1933-2023) und Emilia Kabakov (*1945) dauerhaft ausgestellt. Die schneckenförmige, sich über zwei Etagen erstreckende Holzkonstruktion beherbergt 61 Vorschläge für eine bessere Zukunft, zugeschrieben 61 fiktiven Autor*innen, jedoch sämtlich ausgedacht und umgesetzt von den Kabakovs selbst, die beide in der damals zur Sowjetunion gehörenden Ukraine geboren wurden.
Das einem begehbaren Bild ähnelnde Ensemble liefert die passende Hintergrundfolie für Arbeiten wie etwa Yuri Yefanovs computergenerierten Film „We will definitely talk about this after the last air raid alert stops“. Die auf Parkbänken inmitten bunter Plastikblumen sitzenden Betrachter*innen entführt der 1990 in Saporischschja geborene Ukrainer auf drei Monitoren in eine friedvoll-farbenfrohe Traumkulisse jenseits aller Kriege und Umweltkatastrophen. Noch mehr Wellness-Feeling kommt bei seiner Künstlerkollegin Uli Golub auf, die 1990 in Charkiw geboren wurde. Im Zentrum ihrer Videoarbeit „Babushka in Space“ steht ihre 83jährige Großmutter, die von einer Weltraumstation aus über Vergangenheit und Zukunft des Blauen Planeten sinniert. Golub lässt ihr Publikum auf luxuriösen Massagesesseln Platz nehmen, um in die von der Gedankenwelt des Philosophen Boris Groys gespeisten Zukunftsentwürfe ihrer Großmutter einzutauchen.
Eher dystopisch dann die Arbeit Driant Zenelis. Der 1983 geborene Albaner überführt die Realität der Umwelt und Menschen schädigenden Chromgewinnung in Nordalbanien in seiner Videoinstallation „Maybe The Cosmos Is Not So Extraordinary“ in ebenso poetische wie bedrückende Bilder. Ob den von Kindern dargestellten Arbeitern am Ende die Flucht in eine bessere Welt gelingt, bleibt offen. Richtig niederschmetternd ist dann die Installation „The Popasna Corner“ des 1982 in Kiew geborenen Nikita Kadan. Er kombiniert ebenso scharfsinnig wie ästhetisch überzeugend zwei voneinander unabhängige Erzählstränge, die beide mit der Stadt Popasna zu tun haben. Als Setting dient ihm eine an Kabakov-Installationen erinnernde Raumecke in typisch sowjetischer zweigeteilter Farbgebung. Da ist zum einen das aus den 1980er Jahren stammende Werk „Biotechnosphere“ des sowjetukrainischen Künstlers Fedir Tetianych (1942-2007), eine Art stählerne Raumkapsel, zum anderen die wechselvolle Geschichte des im Laufe mehrerer Jahrzehnte mit wenig Geld, aber großem Engagement von einem Lehrer aufgebauten Stadtmuseums von Popasna. Den Ort, von dem die beiden von Kadan rekonstruierten und mit Fotos und Objekten illustrierten Zeitleisten zeugen, gibt es nicht mehr. Das vor dem Krieg von rund 20.000 Menschen bewohnte Popasna wurde im April 2022 von den Russen bis auf die Grundmauern zerstört. Nikita Kadan dazu: „Ich möchte keinen falschen Optimismus verbreiten. Ich möchte, dass dieses Werk als würdevolle Erinnerung an die Stadt Popasna und das Andauern des Krieges verstanden wird.“
Zwei aus der ehemaligen DDR stammende Teilnehmer*innen der Schau blicken ebenfalls sozusagen in den Rückspiegel einer Geschichte, die bis heute nicht ganz verschwunden ist. Der 1976 auf Rügen geborene Sven Johne lässt in seinem im brandenburgischen Wünsdorf gedrehten Film „Das sowjetische Hauptquartier“ einen windig auftretenden Makler, der zunächst mit markigen Worten durch das noch immer leerstehende, historisch belastete Gebäudeensemble führt, mit einer angeblich aus dem Westen stammenden Kaufinteressentin zusammentreffen. Am Ende treten beide aus ihren antrainierten Rollen heraus und gestehen einander sich ihr von Desillusionierung und Selbstbetrug geprägtes Weltbild. Die ursprünglich aus Zwickau stammende Künstlerin Jana Gunstheimer, Jahrgang 1974, wiederum entführt die Betrachter*innen auf ihren Grafitzeichnungen aus der Serie „Kosmos“ in eine fragmentarische Formenwelt mit stark abstrahierten Reminiszenzen aus den längst vergangenen Lebenswelten der DDR.
Dass aber etwas endgültig verloren Geglaubtes durch glückliche Umstände wieder aufleben kann, beweist die Ausstellung in Essen desgleichen. „Biotechnosphere“, die in Popasna verschollene Arbeit von Fedir Tetianych, ist in Form einer Rekonstruktion, die von der ukrainischen Architektin Bogdana Kosmina gemeinsam mit dem Sohn des Künstlers, Bogdan Tetianych, realisiert wurde, sozusagen wiederauferstanden. Dieses für die jüngere Kunstgeschichte der Ukraine zentrale Werk steht jetzt, platziert auf den Rädern eines ausgedienten Schienenfahrzeugs von der Zeche Zollverein, im Außenbereich des Salzlagers.
Ebenfalls im Außenraum ist eine der beiden Installationen der 1990 in Kiew geborenen, an der Berliner Universität der Künste ausgebildeten und bereits lange in Berlin lebenden Künstlerin Marta Dyachenko zu sehen. „Handgreifliche Utopie“, so der Titel der auch als Sitzbank nutzbaren „Verweil-Skulptur“, setzt sich auf verschachtelte Art und Weise mit stadtplanerischen Utopien des frühen 20. Jahrhunderts und den zeitgleich virulenten Bestrebungen auseinander, die Künste stärker in den Alltag zu integrieren. Zur Hälfte aus lokalem Bauschutt und zur anderen Hälfte aus zementfreiem, also mehr oder weniger „grünem“ Beton, ist eine komplexe Struktur entstanden, die progressive Ansätze des Städteplaners Bruno Taut (1880-1938) und des Avantgardesammlers und Museumsstifters Karl Ernst Osthaus (1874-1921) in sich vereint. Ein kleiner Aufbau mit bunten Glasfenstern zitiert ein im Hagener Hauptbahnhof befindliches Werk des niederländischen Künstlers Jan Thorn Prikker. Fast wirkt er wie ein Segel, das der durchaus schweren Skulptur einen Anflug von traumhafter Leichtigkeit und Mobilität verleiht.
Zurück in die bittere Realität des Ukraine-Krieges führt dann ein mit dem Handy aufrufbarer QR-Code, angebracht unmittelbar vor dem Eingang des Salzlagers. Wer ihn aufruft, erlebt das mittlerweile weltberühmt gewordene Standbild des Herzogs von Richelieu (1766-1822) als 3D-Modell. Die am Primorskij-Boulevard in Odessa stehende Statue des früheren Gouverneurs wurde dadurch berühmt, dass sie mit Hunderten von Sandsäcken gegen eine mögliche Zerstörung durch russischen Beschuss geschützt wurde. Pixelated Realities, die Schöpfer der 3D-Animation, sind eine aus Architekt*innen, Aktivist*innen, Designer*innen und Programmiere*innen zusammengesetzte ukrainische Non-Profit-Organisation, die sich auf die millimetergenaue Erfassung von bedrohtem kulturellen Erbes spezialisiert hat, um so einen eventuell nötigen Wiederaufbau zu ermöglichen.
Das Verdienst dieser Ausstellung ist es, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten aufzuzeigen und zuzulassen. Denn genau wie das Salz, das einst an diesem Ort gelagert wurde, kann auch Kunst vieles zugleich sein: Nahrung, Dünger oder sogar Sprengstoff.
Die Ausstellung „Landscapes of an Ongoing Past“ ist noch bis zum 22. September zu sehen. Das Salzlager auf der Zeche Zollverein in Essen hat mittwochs bis sonntags von 12 bis 19 Uhr geöffnet. Das 64seitige Begleitheft ist kostenlos zu haben. |