| | Ruedi Bechtler hat wieder zum Art Weekend ins Hotel Castell nach Zuoz eingeladen | |
Tadashi Kawamata schien hoch zufrieden zu sein. Der in Paris und Tokio lebende Bildhauer und Fotograf war am vergangenen Freitag als einer von drei Gästen des diesjährigen Castell Art Weekends ins Hotel Castell im schweizerischen Zuoz gekommen. Bereits 1997 war er auf Einladung des Kunstsammlers und Hotelbesitzers Ruedi Bechtler hier im Engadin zu Gast, um eine ortsspezifische Installation für das Hotel zu realisieren. Damals ist das „Felsenbad“ entstanden, eine etwas abseits vom Hotelgebäude gelegene hölzerne Plattform direkt unterhalb einer Felswand, an die sich ein kleines Wasserbecken anschließt. Das Highlight des Ensembles aber stellt eine gemütliche Saunahütte mit Bergblick dar, die zwei Personen Platz bietet. Gemietet werden kann sie sowohl von Hotelbesuchern als auch von externen Gästen – und zwar das ganze Jahr über und rund um die Uhr.
Der in puristisches Schwarz gekleidete Künstler begutachtete jetzt den aktuellen Zustand seiner damaligen Arbeit und strahlte. Hier und da musste im Lauf der Jahre zwar mal ein Brett ausgetauscht werden, ansonsten ist aber alles noch genauso wie von ihm intendiert. „Skulpturen“, so lautete der Titel des diesjährigen Castell Art Weekends, das nunmehr zum 20. Mal auf 1.800 Meter Höhe stattfand. Neben Tadashi Kawamata, Jahrgang 1953, waren noch zwei weitere Künstler*innen dabei: die Schweizerin Gina Fischli, Jahrgang 1989, und ihr Landsmann Florian Germann, Jahrgang 1978. Alle drei hatten an diesem Wochenende jeweils zwei kleine Auftritte, um ihr Werk in lockerer Gesprächsatmosphäre vorzustellen.
Nach einer Begrüßung durch Gastgeber Ruedi Bechtler, gefolgt von einer kleinen Einführung in die Geschichte der Skulptur, die von der rund 35.000 Jahre alten „Venus vom Hohle Fels“ über Marcel Duchamps „Pissoir“, Alexander Calders „Mobiles“, Jean Tinguelys maschinenähnliche Skulpturen bis hin zu Simon Starlings konzeptueller Transformationskunst reichte, gab er die Bühne frei für die eingeladenen Künstler*innen. Den Anfang vor den rund 50 Teilnehmer*innen des Art Weekends machte am Samstagmorgen der gut gelaunte Tadashi Kawamata. Seit 1980 ist der japanische Künstler weltweit präsent. Von Anfang an schuf er ortsspezifische Skulpturen, temporäre Behausungen und Eingriffe in bestehende Gebäude. Kawamatas Markenzeichen und bevorzugte Materialien sind Holz und Pappkartons. „Ich komme mit nichts an, und bin vor Ort auf lokale Assistent*innen angewiesen“, charakterisiert er seinen künstlerischen Ansatz.
Der spitzbübische Kawamata
Anhand eines kleinen Films stellte der zweifache Documenta-Teilnehmer in Zuoz einige zentrale Arbeiten aus seinem umfangreichen Werk vor, so zum Beispiel die 1997 im Rahmen des Festival d’Automne in Paris entstandene Installation „Le Passage des Chaises“. Zusammen mit einen halben Dutzend Assistenten konstruierte Kawamata in der barocken Kapelle des Hôpital de la Salpêtrière eine aus 8.000 gebrauchten Stühlen bestehende, spiralförmige Struktur. Ein Haus im Haus, das an den Turmbau zu Babel erinnerte. Die auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes errichtete, ehemalige Krankenhauskapelle wurde so zum temporären Ort der Begegnung zwischen dem Krankenhauspersonal, den Patient*innen und externen Besucher*innen.
Tadashi Kawamata schilderte zahlreiche Stationen seiner Karriere: von Tokio, wo der heutige Bildhauer eigentlich Malerei und Zeichnung studiert hatte, über seinen inspirierenden Gastaufenthalt in der New Yorker Kunstinstitution P.S.1 im Jahr 1985, seine Teilnahmen an den Biennalen in Venedig 1982 noch als Student der Kunsthochschule von Tokio und in São Paulo 1986, an den Skulptur Projekten Münster 1997 sowie an der Documenta 1987 und 1992 bis hin zu seinem heutigen Hauptwohnsitz Paris, wo er seit 2006 lebt und arbeitet und seit 2007 eine Professur an der École des Beaux-Arts innehat.
Die zweimalige Teilnahme an der Documenta in Kassel, so erläuterte Kawamata, funktionierte für ihn als Türöffner für zahlreiche weitere große Projekte in Europa. Eine seiner zentralen permanenten Installationen in der Schweiz ist die an einen überdimensionierten Biberbau erinnernde „Kawamata-Brücke“ in Uster bei Zürich, deren offizieller Titel „Drift Structure“ lautet. Die aus dem Wasser ragende Konstruktion aus Lärchenholz führt über einen Weiher und kann von Fußgänger*innen betreten werden. Mittlerweile ist sie zu einem beliebten Wahrzeichen der Stadt geworden. Initiiert wurde die Arbeit 2010 von der Walter A. Bechtler-Stiftung, die auch das Künstlerhonorar für Kawamata übernommen hat.
Im zweiten Teil seines Vortrags ging Tadashi Kawamata dann stärker darauf ein, dass seine Arbeiten immer auch als Reflexionen gesellschaftlicher Verhältnisse und zwischenmenschlicher Beziehungen zu verstehen sind. Insbesondere seine Beschäftigung mit dem Phänomen der Ausgrenzung von Obdachlosen und anderen Randgruppen wie Drogensüchtigen oder Psychiatriepatient*innen durchzieht sein Werk von Anfang an. Bis heute nutzt er jede Gelegenheit, um mit auf der Straße gefundenen Materialien wie Pappkartons oder Bauholz kleine, temporäre Architekturen zu errichten, die sich wie Kokons oder parasitäre Organismen an Brückengeländer, Unterführungen und Uferbefestigungen andocken. Eine Rolle mit breitem Klebeband scheint er immer in der Tasche zu haben, wenn er durch die Straßen irgendeiner Großstadt streift. Mitunter werden die provisorischen Gehäuse tatsächlich von Wohnungslosen genutzt. „Das ist wie Graffiti zu sprühen“, charakterisiert er seine Art der künstlerischen Einschreibung in den Stadtraum.
Mit einem gewissen schalkhaften Stolz erzählte er dann auch, dass es im Laufe der Zeit immer mal wieder zu Konfrontationen kam. So wurde er im kanadischen Toronto als „visueller Terrorist“ beschimpft. In Mexiko City bekam er Ärger mit der lokalen Mafia. Und in seinem Heimatland Japan wurde er sogar zwei Mal wegen fehlender Genehmigungen verhaftet. „Aber ich werde weiterhin illegale Projekte machen, die von Obdachlosen genutzt werden können. Das ist mein eigentlicher Background“, betonte Kawamata zum Schluss seiner Präsentation.
Der recherchierende Germann
Szenenwechsel. Als zweiter Bildhauer stellte der eine Generation jüngere Florian Germann, der in Zürich lebt und arbeitet, seinen künstlerischen Werdegang und einige zentrale Arbeiten vor. Eine abgebrochene Schreinerlehre und daran anschließend eine Ausbildung als Steinbildhauer für Monumentalplastik sowie eine pfiffige Bewerbung ebneten ihm den Weg zur Zürcher Hochschule der Künste, wo er sich während des Studiums mit performativer Skulptur, Rauminstallation und dem Medium Film beschäftigte. Zentrale Grundlage all seiner Arbeiten sind für ihn aber das Zeichnen und der Modellbau.
Am Beginn seiner Karriere standen einige spektakuläre Performances. 2007 verbrachte Florian Germann 72 Stunden in einem selbstgebauten, hängenden Katamaran, der unter der Decke eines gut besuchten Technoclubs befestigt war. „Ich begab mich damals auf die Jagd nach einem fremden Wesen, das aber eigentlich ich selbst war“, beschreibt er im Rückblick das Resultat dieser Extrem-Performance über dem belebten Dancefloor. Für seinen Super 8-Film „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“ setzte er sich ebenfalls 2007 auf ein frisiertes Moped und raste über eine Passstraße in Südtirol halsbrecherisch in die Tiefe. Wie bei fast allen seiner Arbeiten kommen am Ende Ereignis, Skulptur und Dokumentation zusammen.
Den Hintergrund für seine Arbeiten bilden vielfältige Recherchen. Florian Germann ist immer wieder auf der Suche nach ungewöhnlichen Narrativen, Phänomenen und Persönlichkeiten. Er begibt sich dabei in unterschiedliche Felder und Wissensgebiete. Neben der Kunstgeschichte der letzten 500 Jahre und den traditionellen Kultur- und Naturwissenschaften interessieren ihn besonders auch die rätselhaften und mythisch-spirituell aufgeladenen Randbereiche des Wissenschaftsbetriebs wie etwa Kryptozoologie oder Parapsychologie. Florian Germann legt großen Wert auf Partizipation und niedrigschwellige Angebote für ein möglichst breit aufgestelltes Publikum. Er betonte in Zuoz, dass seine Projekte alle mitnehmen und niemanden ausschließen sollen.
Seit vier Jahren entstehen zunehmend auch große Arbeiten im öffentlichen Raum, etwa seine 2023 realisierte Skulptur „Lot“, die im Innenhof eines Gesundheitszentrums in Zürich ihren Platz gefunden hat. Dieser Arbeit ging wiederum eine umfangreiche Recherche nach ortsspezifischen Gegebenheiten voraus. Florian Germann stieß dabei auf den Privatzoo des als Exzentriker bekannten Zürcher Bildhauers Urs Eggenschwyler (1849-1923). Dieser besaß eine kleine Menagerie mit verschiedenen Tieren. Einen zahmen Löwen führte er in der Öffentlichkeit an der Leine herum. Eggenschwylers Ideal eines „Zoos ohne Wände“ übersetzte Florian Germann in eine mehr als elf Meter hohe Säule, an die vier unterschiedliche Behausungen für Tiere wie Wildbienen, Vögel, Fledermäuse und Schlangen angedockt sind, die jeder Art Unterschlupf und ideale Lebensbedingungen bieten sollen. Für die Realisierung hat Germann eng mit einer Biologin und Expert*innen für Landschaftsarchitektur zusammengearbeitet.
Obwohl heute viele bildhauerische Arbeiten im 3D-Druckverfahren hergestellt werden, legt Germann großen Wert darauf, alle Elemente seiner Skulpturen in einem zeitaufwändigen Prozess von Hand im Atelier zu modellieren. Er benutzt dafür ein Material, das mit hochfeinem Styropor vergleichbar ist. Als Finish erhalten seine Arbeiten für den öffentlichen Raum dann einen farbigen Überzug aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Die Halbwertzeit dieses Materials gibt Florian Germann, der mittlerweile an der Zürcher Hochschule der Künste auch als Dozent für Materialtechnik tätig ist, mit 500 Jahren an. Er arbeitet mit einer Spezialfirma für Lamination zusammen, die unter anderem auch für die Fahrzeuge der Formel 1 tätig ist. „Wir sind ein Familienbetrieb“, betont der Künstler. Bei früheren Projekten hat mehrmals sein Vater, ein Ingenieur und Erfinder, mitgewirkt. Mittlerweile wird Florian Germann von seinem älteren Bruder Tomas unterstützt. Dieser ist unter anderem für seine Kommunikation und als Projektleiter für die Arbeiten im öffentlichen Raum zuständig.
Die liebevolle Fischli
Das Thema Familie spielt auch für die Kunst von Gina Fischli eine große Rolle. Als Tochter des Künstlers Peter Fischli, der zusammen mit dem verstorbenen David Weiss als Künstlerduo Fischli/Weiss weltweite Bekanntheit erlangte, ist sie mit Kunst und künstlerischem Denken aufgewachsen. Gina Fischli hat zunächst Bühnenbild an der Hochschule für bildende Künste Hamburg studiert, bevor sie dort in die Klasse des als „Fallensteller“ bekannten Bildhauers und Konzeptkünstlers Andreas Slominski wechselte. Nach ihrem Bachelor-Abschluss 2015 ging sie für weitere drei Jahre an die Royal Academy of Arts nach London, wo sie 2018 ihren Master of Fine Arts absolvierte. Mittlerweile lebt Gina Fischli wieder in ihrer Geburtsstadt Zürich.
Auf dem Castell Art Weekend stellte sie ein breites Spektrum ihrer skulpturalen Arbeiten vor. Allen gemeinsam sind ihre zunächst verführerisch wirkenden Oberflächen, hinter denen sich aber oft subtile Anspielungen auf die skurrilen Extravaganzen der Konsumgesellschaft und die zunehmend von Algorithmen und KI bestimmte heutige Lebensweise verbergen. So stellte Gina Fischli etwa aus dem Knetmaterial Fimo geformte Torten in Form von historischen Schlössern vor, in denen es wohl nicht immer nur ruhmreich und harmonisch zugegangen ist. Eine überdimensionale, transparente Handtasche spielt wiederum auf die Must-Have-Accessoires der Besucherinnen glamouröser Kunstmessen und den darin zum Ausdruck kommenden Konformitätsdruck an.
2022 ließ Gina Fischli über der Londoner Cork Street, einer für ihre teuren Galerien und Modeboutiquen bekannten Einkaufsstraße, Banner mit den Fotos von Tieren aufhängen, die als Beute- oder Raubtiere eine bestimmte Position in der Nahrungskette einnehmen. Ein Schelm, der Böses dabei dachte. In einer anderen Werkgruppe zeigte sie bewusst etwas nachlässig geformte und traurig dreinschauende Haustiere wie Hunde und Katzen, denen sie gebrauchte oder gefundene Kleidungsstücke übergestülpt hatte. Sie ließ diese wie weggeworfenes und nicht mehr gewolltes Spielzeug auf Liebesentzug auf einem Catwalk posieren. Was Fischlis Werk in einem zunehmend vom Kalkül der Marktgängigkeit geprägten Kunstbetrieb auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie nicht davor zurückschreckt, in ihren Arbeiten Ängste, Empfindsamkeit, Verletzlichkeit und andere Emotionen zuzulassen. Ebenso gibt sie sich als feministisch denkende Frau und Mutter zu erkennen.
Um die Liebe – ein eher ungewöhnliches Sujet im Kunstbetrieb – ging es dann in Fischlis Performance am Sonntagmorgen. Auf der Bühne agierten neben der Künstlerin noch ihre beiden Töchter Valentina und Roberta mit Akustikgitarre und selbstgebastelten Pappfiguren. Während Fischlis Töchter in einer analogen Live-Performance ganz ohne TikTok-Attitude englischsprachige Popsongs zum Besten gaben, formte sie selbst aus einem Klumpen Ton das Porträt ihres Partners Johannes. In dieser intimen, liebevollen, gleichzeitig aber unaufgeregten Aufführung übertrug sich die wortlose Verständigung zwischen der Mutter und ihren Töchtern auch auf das begeisterte Publikum des Castell Art Weekends.
Noch mehr Musik gab es in Form von zwei kleinen Konzerten der Flötistin Magda Schwerzmann. Die Solistin aus Winterthur begleitete am Samstagabend mit den experimentellen Klängen dreier unterschiedlicher Querflöten den Untergang der Sonne während des Farblichtspiels im Skyspace Piz Uter von James Turrell. Eine weitere musikalische Darbietung der Flötistin setzte dann den Schlusspunkt des diesjährigen Castell Art Weekends am Sonntagmittag. Tadashi Kawamata wiederum rauchte zuvor noch eine letzte Zigarette auf der Hotelterrasse, bevor er zum Zug eilte. „In 20 Jahren komme ich dann noch einmal wieder, um erneut nach dem Felsenbad zu schauen“, sagte der vielbeschäftigte Künstler spitzbübisch zum Abschied.
Castell Art Weekend
Hotel Castell
CH-7524 Zuoz
www.hotelcastell.ch
Nächster Termin: 19. bis 21. September 2025 |