| | Rudolf Wacker, Schäfchen und Puppe, 1934 | |
Sie liegt mit verrenkten Gliedmaßen auf dem Boden: Eine weibliche, nackte und lädierte Puppe mit gespreizten Beinen und zurückgebeugtem Oberkörper. Aus ihren Schultern und Hüften ragen spitze gedrehte Metalldrähte. Ihre dunklen langgelockten Haare umrahmen ein rundes, menschenähnliches Gesicht mit roten Backen und geschminkten Lippen. Der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen ist ausdruckslos und geht ins Leere. Brüste, Kniestrümpfe und die Lackschuhe weisen ebenso sexuelle Konnotationen auf wie der steil aufragende stachelige Kaktus links neben ihr. Rechts ein kleines weißes Spielzeugschaf, eine Anspielung auf eine barocke Schäferinnen-Idylle. Dahinter und im Hintergrund des durch geometrische Flächen in verschiedenen Grautönen klar komponierten Bildes eine kleinformatige Grafik, die bei genauer Betrachtung als eine Szene von kauernden Männern in einem Kriegsgefangenenlager gelesen werden kann.
Rudolf Wackers komplexe Bildgeschichte „Schäfchen und Puppe“ von 1934 gehört zu jenen abgründigen, persönlich gefärbten und deutlich sexualisierten Inszenierungen des 1893 in Bregenz geborenen Künstlers, die unmittelbar nach der Ausschaltung des Parlaments und der Machtübernahme der Nationalsozialisten entstanden und in denen er einmal mehr die traumatischen Ereignisse während seiner russischen Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg verarbeitete. Die erlebten Gräueltaten, die Männerbünde im Militär und im Lager, ihre Auswirkungen auf die Sexualität und das Verhältnis von Mann und Frau beschäftigten Rudolf Wacker zeitlebens.
Dem Wiener Leopold Museum gebührt das Verdienst, das bisher viel zu wenig beachtete Werk des österreichischen Künstlers in einer großen Retrospektive umfassend vorzustellen. Die letzte Werkschau in Wien fand 1958 im Belvedere statt. Dank vereinzelter Präsentationen, etwa 1993 und 2019 in seiner Heimatstadt Bregenz, gab es zwar wiederholt die Möglichkeit, das vielgestaltete und über einen Zeitraum von nur etwas mehr als zwanzig Jahren geschaffene Œuvre kennenzulernen. Über die österreichischen Landesgrenzen hinaus fand Wackers Kunst wenn überhaupt nur in thematischen Konstellationen Beachtung – in Überblicksschauen zur Neuen Sachlichkeit oder in der 1999 von der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf ausgerichteten Ausstellung „Puppen Körper Automaten – Phantasmen der Moderne“.
Rund 120 Gemälde und 60 Zeichnungen des Vorarlbergers sind nun in der von Laura Feurle und Marianne Hussl-Hörmann sorgfältig kuratierten Ausstellung „Magie und Abgründe der Wirklichkeit“ im untersten Geschoss des Leopold Museums zu sehen. Nach der Schau „Neue Sachlichkeit in Deutschland“ konzentriert sich das Haus damit auf einen österreichischen Protagonisten der Stilrichtung, die in Deutschland, Österreich, in den Niederlanden und in der Schweiz für die Kunst der Zwischenkriegszeit prägend war. Nach dem Ersten Weltkrieg und unter dem Eindruck gravierender gesellschaftspolitischer Umbrüche, die in die Weimarer Republik mündeten, entwickelte sich unter dem Einfluss der italienischen Pittura metafisica die Neue Sachlichkeit als eine Kunst, die nach den Aufbrüchen und Utopien der Avantgarde im Sinne einer Desillusionierung wieder zum Gegenstand, zum Alltagsobjekt, einem klaren Bildkonzept und einer objektivierenden Darstellungsweise zurückgefunden hatte.
Die Retrospektive zeichnet den Werdegang und das Leben Rudolf Wackers nach, beleuchtet thematische Schwerpunkte seines Schaffens und zeigt im Dialog mit Zeitgenossen, etwa Albert Birkle, Otto Dix, Alexander Kanoldt, Anton Räderscheidt, Georg Schrimpf oder Gustav Wunderwald, die hohe künstlerische und facettenreiche Qualität seines Gesamtwerks auf, reflektiert die gesellschaftlichen und politischen Geschehnisse und Entwicklungen der 1910er bis 1930er Jahre, die seinen Weg als Mensch und Künstler geprägt und überschattet haben, und thematisiert eingehend Wackers eigentümliches Frauenbild und die Verklausulierung seiner mysteriösen Stillleben.
Große Erfolge hat Rudolf Wacker zu Lebzeiten nicht erfahren. Hineingeboren in einen großbürgerlichen Bregenzer Haushalt entschloss er sich früh für eine Künstlerlaufbahn und ließ sich zunächst in Bregenz, später in Wien und ab 1911 an der Hochschule für Bildende Kunst in Weimar ausbilden. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird er zur Militärausbildung eingezogen und im Mai 1915 an die Ostfront geschickt. Dort gerät er in russische Kriegsgefangenschaft, die fünf Jahre dauern wird. In frühen Selbstbildnissen, die noch von einer expressionistischen Handschrift geprägt sind, portraitiert sich Wacker mit geschorenem Kopf und in Uniform rauchend (1917), zeichnet die Sonnenblumen vor der Gefangenenbaracke (1919) und das Lager im sibirischen Tomsk.
Nach seiner Freilassung reist Wacker von Bregenz aus nach Weimar und Berlin. Er besucht Museen und Ausstellungen und beginnt sich in der Kunstszene um Erich Heckel zu vernetzen. Hier lernt er auch die Kunstgewerblerin Ilse Möbius kennen, die er 1922 heiratet. 1924 lässt sich das Paar in Wackers Elternhaus in Bregenz nieder. Hier widmet sich Wacker nach seinen expressiven Anfängen in der Zeichnung erstmals intensiv der Ölmalerei. Mitte der 1920er Jahre entwickelt er seinen neusachlichen Stil, um die Wirklichkeit mit ihren gesellschaftlichen, politischen und sozialen Erschütterungen nach den Kriegserfahrungen zu beschreiben. Mit Georg Schrimpf und Alexander Kanoldt teilt Wacker die Faszination für die Magie der alltäglichen Dinge. Sich selbst malt er nun, seine verschiedenen Befindlichkeiten, mal alterslos, skeptisch, fragend, gelangweilt oder verschreckt oder sein Alter Ego in der Figur des Kasperls. Aber auch die Frauen seines persönlichen Lebensumfelds, insbesondere seine Frau Ilse Wacker und die geheimnisvolle Marie Klimesch, jene um 25 Jahre ältere Bekannte in Wien, die das Ehepaar Wacker in heftige, erotische Beziehungsturbulenzen stürzt, werden zum häufig gemalten Motiv und visualisieren antagonistische Modelle weiblicher Sexualität.
Trotz seiner aufgeschlossenen Sexualmoral ist Rudolf Wacker einem konservativen Verständnis der Geschlechterrollen verpflichtet: Künstlerische Kreativität sei allein dem Mann vorbehalten. Als einzige Ausnahme lässt er Paula Modersohn-Becker gelten. Sein Frauenbild prägen stereotype, dem patriarchalen Zeitgeist entsprechende Vorstellungen. Einerseits erklärt er den Muttertypus, den er in seiner eigenen Mutter sowie seiner Ehefrau ausgebildet glaubt, zum Ideal der Frau. Andererseits fasziniert ihn eine weibliche sexuelle Verruchtheit. In seiner an die klassische Tradition des weiblichen Aktes angelehnten Darstellung der Frischvermählten im 1925 entstandenen Gemälde „Stehender Frauenakt (Ilse)“ rückt er die Schamhaftigkeit und Sinnlichkeit der Frau in den Vordergrund. Kurz zuvor hat sich Wacker im „Naturalistischen Klebebild der Frau Klimesch“ einem antipodischen Frauentypus gewidmet: Das Klebebild ist nicht nur der einzige Versuch Wackers im Collagieren unterschiedlicher Materialien, sondern treibt auch den Kontrast zwischen verschiedenen Geschlechterstereotypen auf die Spitze. Die asymmetrische Ungleichheit der beiden Frauencharaktere beschreibt Wacker in seinen Tagebucheinträgen einerseits als empfindsam, anlehnungsbedürftig und anpassungsfähig, hingebungsvoll und formbar, anderseits spricht er von „Kokottennaturen“ und „Sphinx(en) der Leere“.
Während gegen Ende der 1920er Jahre der Mensch, besonders die Frau, zunehmend aus Wackers Bildwelten entschwindet, zählen insbesondere weibliche Puppen anhaltend zum Stammpersonal der letzten intensiven Schaffensdekade. Bereits Mitte der 1920er Jahre reflektiert Rudolf Wacker, dass seine „Stillleben in ihrem Wollen und Wirken auch nichts anderes als eben Porträts von Gegenständen“ seien und bezieht in diesem Sinne auch seine aktualisierte Portraitauffassung auf Mensch und Ding gleichermaßen. Ganz besonders gilt dies für Puppen, denen Wacker Lebendigkeit und Symbolhaftigkeit zuschreibt. Und so sind es gerade die altmeisterlich akribisch gemalten Stillleben der 1930er Jahre, in denen Wacker nicht nur technische Perfektion erreicht, sondern in denen es ihm auf verklausulierte Weise gelingt, in der Leere und Vereinzelung der Dinge auf ebenso subtile wie subversive Weise Abgründiges durchscheinen zu lassen.
In den letzten Lebensjahren vor seinem frühen Tod resigniert Rudolf Wacker zunehmend. Er gerät ins Visier der Gestapo, wird der Nähe zum Kommunismus verdächtigt und verliert seine Funktionen in regionalen Künstler*innenvereinigungen sowie seinen Posten als Zeichenlehrer in Bregenz. Naive Kinderzeichnungen seines Sohnes, Aquarien, Pflanzen, Spielzeug und insbesondere Puppen arrangiert Wacker in seinen späten, meist kleinformatigen Stillleben der 1930er Jahre. Vor allem die malträtierten Puppen in porträthaften Arrangements bis hin zu deutlich sexualisierten Darbietungen mit verrutschten entblößenden und aufreizenden Kleidungsstücken und lasziven, dem voyeuristischen Blick ausgelieferten Posen bleiben in Erinnerung und belegen, dass all die den menschlichen Körper umkreisenden hybriden Allmachts-, Reproduktions- und Sexualphantasien, die derzeit ein so überaus hochaktuelles Thema von Ausstellungen sind, nicht allein in der Pittura metafisica, im Konstruktivismus, bei Dada und Surrealismus, sondern auch abseits der pulsierenden Zentren der Kunst, in Zurückgezogenheit und Verarbeitung persönlicher Lebensumstände, wirtschaftlicher Umbrüche, politischer Polarisierung und Kriegstraumata eine virulente Vorgeschichte haben. Dass „Rudolf Wacker – Magie und Abgründe der Wirklichkeit“ Maßstäbe setzt, ist dem sicheren Gefühl der Kuratorinnen für ein angesagtes Thema zu verdanken – und dem fundierten Katalog.
Die Ausstellung „Rudolf Wacker – Magie und Abgründe der Wirklichkeit“ ist bis zum 16. Februar 2025 zu sehen. Das Leopold Museum hat täglich außer dienstags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 17 Euro, ermäßigt 14 Euro. Zur Ausstellung ist ein Katalog im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König erschienen, der im Museum 39,90 Euro kostet. |