 |  | Paul Delvaux, Nuit de Noël, 1956 | |
Vor den aktuellen Turbulenzen an den Weltmärkten, ausgelöst durch Donald Trumps sprunghafte Zollpolitik, liefen die Londoner Frühjahrsversteigerungen mit Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts noch weitgehend unbeeinflusst und ruhig ab – zum Glück für die Auktionshäuser und die Einlieferer. Die Bereitschaft, in gute und marktfrische Kunst Geld zu investieren, war hoch, was sich in starken Ergebnissen niederschlug. Bei Christie’s war es vor allem die Auktion „The Art of the Surreal“, die für rege Beteiligung sorgte, vor allem wenn der Name Paul Delvaux hinter den Werken stand. Seine imaginären nächtlichen Traumwelten, oft bevölkert von geheimnisvollen und unnahbaren weiblichen Akten, zogen die Begeisterung auf sich. Schon seine „Nuit de Noël“ von 1956, die so gar nichts Weihnachtliches hat, dafür eine für Delvaux typische Bahnhofsszene mit Güterzügen und einem still stehenden Mädchen in Rückenansicht zeigt, kletterte von 1 Million Pfund auf gute 1,9 Millionen Pfund.
Auf seinen beiden ebenfalls marktfrisch angebotenen Gemälden „La ville endormie“ von 1938 und „Les belles de nuit“ von 1936 präsentierte Paul Delvaux halbnackte oder nackte puppenhafte Gestalten, die keusch und verträumt ins Nichts starren und in seltsamen konstruierten Landschaften mit aus der Renaissance entlehnten Bauten stehen. Auch hier ging es bergauf: bei „La ville endormie“ von 1,2 Millionen Pfund auf 5,1 Millionen Pfund, bei „Les belles de nuit“ von 500.000 Pfund auf 3,6 Millionen Pfund. Der Favorit der Auktion vom 5. März behielt seine Rolle bei: René Magrittes auf 6 bis 9 Millionen Pfund geschätztes Gemälde „La reconnaissance infinie“, ein Ausblick in eine karge Berglandschaft von 1933, in der eine ebenso graue Weltkugel mit einem kleinen Mann obenauf schwebt, platzierte sich bei 8,7 Millionen Pfund nah an der oberen Erwartung und war damit das Toplos der Londoner Auktionswoche.
Surrealismus als Zugpferd
Darüber hinaus lief bei Magritte fast alles, wie geplant. Bis auf seine ungewöhnliche und daher unverkäufliche Gouache „Le stropiat“ eines Mannes mit drei Nasen und drei Pfeifen sowie einem Heiligenschein kamen seine Werke im Rahmen des Vorgesehen an neue Besitzer, darunter sein Wolkenauge „Le faux miroir“ von 1952 bei 1,5 Millionen Pfund oder seine zerfasernden Frauenakte in „La lumière du pôle“ bei 4 Millionen Pfund. Allerdings musste der Einlieferer bei diesem Gemälde von 1926/27 einen Verlust hinnehmen; hatte er es doch erst im März 2022 bei Christie’s für 5 Millionen Pfund netto erworben. Weitere große Namen des Surrealismus standen an vorderster Front der Auktion, darunter Hans Arp und Max Ernst. Bei Arp reüssierten das blau, weiß und grau gefasste Holzrelief „Amphore infinie“ von 1929 mit einer diagonal aufsteigenden Bewegung bei 2,8 Millionen Pfund (Taxe 1,6 bis 2,4 Millionen GBP) und seine klarer deutbare, aber immer noch amorphe Marmorskulptur „Étoile“ von 1960 bei 2,5 Millionen Pfund (Taxe 1,4 bis 2,4 Millionen GBP), bei Ernst die von Rottönen gesättigte mysteriöse Fantasielandschaft „Coloradeau de Méduse“ aus dem Jahr 1953 mit einer Chimäre und schwebenden Fischen zum gleichen Wert (Taxe 700.000 bis 1 Million GBP).
Seine Gouache einiger seltsam mutierter Pflanzenwesen hatte Max Ernst selbst mit dem Satz enigmatisch und lustig gedeutet: „sodaliten schneeberger drückethäler rosinen und mandeln schlagen die eingeborenen mitteleuropas zu meerschaum und eilen nach stattgehabter denudation den ereignissen in bester absicht voraus.“ 620.000 Pfund waren hierfür sein Lohn (Taxe 250.000 bis 350.000 GPB). Christie’s hatte aber auch einige weniger bekannte Künstler in die Versteigerung aufgenommen, etwa den belgischen Symbolisten Léon Spilliaert mit seiner kaum kolorierten Tuschezeichnung „Digue et plage“ von 1907, die zwei einsame Menschen an einem kargen Küstenstreifen zeigt und zur unteren Schätzung von 550.000 Pfund ans Ziel kam, oder den Italiener Enrico Donati, der sich über 180.000 Pfund für seine 1945 gemalte, rätselhafte feurige Gestalt „Roi d’éclair“ inmitten einer wogenden blauen Landschaft freute (Taxe 80.000 bis 120.000 GBP). Nicht ganz so gut schnitt der österreichisch-mexikanische Künstler Wolfgang Paalen ab. Seine wenig stürmisch, eher etwas kubistisch konstruierte Komposition „La roue de l’orage“ von 1936 kam nur auf 150.000 Pfund (Taxe 200.000 bis 300.000 GBP). Dafür erreichte André Massons mit Sand vermengtes freies Formenspiel „Les cerfs-volants“ von 1927 die vorgesehenen 750.000 Pfund, zudem das Gemälde „Sacrament at Minos“ 650.000 Pfund, bei dem sich Leonora Carrington 1954 von antiker Mythologie und antikem Kult inspirieren ließ.
Weiterer Abwärtstrend
Erzielte Christie’s mit seiner Surrealismus-Versteigerung bei einer hohen losbezogen Verkaufsrate von 96 Prozent knapp über 48 Millionen Pfund, versammelte die Hauptauktion „20th / 21st Century: London Evening Sale“ weitere fünfzig Kunstwerke, von denen 44 verkauft wurden, und spielte 82,2 Millionen Pfund ein, so dass mit den nachfolgenden Tagesauktionen für die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts ein Gesamtumsatz von gut 155 Millionen Pfund zusammenkam. In der gegenwärtigen Kunstmarktrezession musste Christie’s damit einen weiteren Verlust verbuchen; lag das Bruttoergebnis im vergangenen Jahr doch noch bei rund 228 Millionen Pfund, was einem umfangreicheren und stärkeren Angebot geschuldet war.
Den ersten Platz der aktuellen Abendauktion in London besetzte Francis Bacon mit seinem verzerrten „Portrait of Man with Glasses III“ aus dem Jahr 1963; allerdings blieb das mit Silbersand angereicherte Ölgemälde 500.000 Pfund unter der Mindestschätzung von 6 Millionen Pfund. Ein leichteres Spiel im Rahmen der Schätzungen hatten Tamara de Lempicka mit ihrem „Portrait du Docteur Boucard“ von 1928, einem Mediziner, Wissenschaftler und Förderer der polnischen Malerin, bei 5,5 Millionen Pfund und Amedeo Modigliani mit dem rund zehn Jahre älteren, zerbrechlichen Bildnis seiner Freundin Lunia Czechowska bei 5,2 Millionen Pfund.
Eröffnet hatte Christie’s seine Auktion mit Vertretern einer jungen Malergeneration, die sich oft weit über den Erwartungen behaupten konnten. So stiegen Danielle McKinneys „Other Worldly“, ein Selbstermächtigungsbild für schwarze Frauen aus dem Jahr 2021, von 40.000 Pfund auf den neuen Rekordwert von 210.000 Pfund, Justin Caguiats imaginäre mosaikartige Landschaft „Dreampop“ aus dem Jahr 2023 von 250.000 Pfund auf 420.000 Pfund, das seit 2021 im einem Blütenmeer lebende und einer existenziellen Gefahr begegnende Subjekt „The House of the Spider“ des New Yorker Russen Sanya Kantarovsky von 70.000 Pfund auf 230.000 Pfund und Emmi Whitehorses zart gemalte abstrakte Naturschilderung „Sea Forager II“ aus dem Jahr 2024 von 120.000 Pfund auf den weiteren Spitzenpreis von 240.000 Pfund. Dann ging es zunächst hundert Jahre zurück: Wassily Kandinskys kleine Papierarbeit mit dem kosmischen Formenspiel „Schwarze Begleitung“ von 1923 behauptete sich eindrucksvoll bei 1,8 Millionen Pfund (Taxe 700.000 bis 1 Million GBP).
Schwächelnde Deutsche, kapitale Briten
Aus der deutschen Moderne beteiligten sich noch Max Liebermann mit seiner impressionistischen „Strandterrasse in Noordwijk (Huis ter Duin)“ von 1913 bei 350.000 Pfund (Taxe 500.000 bis 700.000 GBP) oder Lyonel Feininger mit seiner prismatisch zerlegten Weimarer Stadtvedute „Hinter der Kirche II“ von 1917 bei ebenfalls untertourigen 1,25 Millionen Pfund (Taxe 1,3 bis 2,1 Millionen GBP). Erst Franz Marcs poetisches Tierbild „Katzen, rot und weiß“ von 1912 erreichte bei seinem ersten Auktionsauftritt die untere Schätzung von 4 Millionen Pfund. Doch nicht alles, was die deutsche Kunst zu bieten hatte, stieß auf Anklang. So mussten Ernst Ludwig Kirchners expressiver Fränzi-Akt „Nacktes Mädchen im Schilf“ von 1911 bei 1,5 bis 2,5 Millionen Pfund und Christian Schads neusachliches „Porträt Eva von Arnheim“ aus dem Jahr 1930 bei 800.000 bis 1,2 Millionen Pfund wieder ins Depot zurück. Reges Interesse generierte dagegen Egon Schieles aquarellierte Zeichnung „Knabe in Matrosenanzug“ von 1914. Das in einem Restitutionsvergleich zwischen einem deutschen Privatsammler und den Erben des ehemaligen jüdischen Besitzers Fritz Grünbaum offerierte Blatt verbesserte sich von 1 Million Pfund auf 2,7 Millionen Pfund.
Weitgehend wie vorgesehenen waren die Ergebnisse bei den jüngeren Künstlern aus Deutschland. Taxkonform vermittelte Christie’s etwa Neo Rauchs undurchschaubares Figurenbild „Grabung“ von 1999 bei 380.000 Pfund, Georg Baselitz’ auf den Kopf gestellte, beinahe abstrakte Farblandschaft „Sandteichdamm“ von 1974 bei 650.000 Pfund und Gerhard Richters großformatige punktgespiegelte Tapisserie eines Rakelbildes mit dem Titel „Abdu“ von 2009 bei 820.000 Pfund. Doch Richters verschwommenes und überlagertes Doppelportrait der Künstlerkollegen „Gilbert & George“ aus dem Jahr 1975 musste einen deutlichen Abschlag auf 1 Million Pfund verkraften (Taxe 1,5 bis 2 Millionen GBP). Dafür verdoppelte Albert Oehlens konstruiertes und mit Glasspiegeln appliziertes Interieur von 1989 seinen Wert auf 600.000 Pfund. Strak notierten die britischen Klassiker der Gegenwart, darunter Howard Hodgkins gefleckte und den Rahmen einbeziehende Abstraktion „Writing“ von 1991/93 bei 900.000 Pfund (Taxe 550.000 bis 800.000 GBP) und David Hockneys farbkräftige spätsommerliche Agrarlandschaft „Between Kilham and Langtoft“ von 2006 bei 4,2 Millionen Pfund (Taxe 4 bis 6 Millionen GBP). Noch davor schob sich Michael Andrews mit seiner Raubfischallegorie „School IV: Barracuda under Skipjack Tuna“ von 1978. Das Symbolbild für menschliches kollektives Verhalten meisterte bravourös die obere Erwartung von 5 Millionen Pfund und setzte damit die neue Bestmarke für den britischen Maler.
Die Ergebnisse verstehen sich als Zuschlag ohne das Aufgeld. |