 |  | Alice Schalek, Jaintempel Badri Indien, 1929 | |
Es war eines der Highlights am Ende eines Sommers, wenn man Freunde und Nachbarn zu einem gemütlichen Beisammensein in die eigenen vier Wände einlud. Neben den kulinarischen Genüssen, Rezepten, die man aus dem Urlaub mitgebracht hatte, waren es Fotoalben, die an diesem Abend die Runde machten. Fein säuberlich beschriftet und datiert, zeugten diese Bilderbücher, die man kurz nach dem Urlaub mit den Kindern und jeder Menge Spaß zusammengestellt hatte, von den Reisen oder jener einen und einzigartigen Reise, die man sich in diesem Jahr geleistet hatte. Wo sind diese aufwendig gestalteten Fotoalben geblieben, wo sind die analogen Kameras hin, auf die man so stolz war? Heute zückt man das Handy und zeigt die blitzschnellen Momentaufnahmen, die man in einem besonderen Augenblick geschossen hat und die jetzt auf den zweiten Blick gar nicht mehr so außergewöhnlich scheinen. Die Zeit, in der der Beruf des Fotografen etwas Besonderes war, ist vorüber und damit auch der Geruch von Abenteuer und großer Freiheit.
Katharina Henkel, die Leiterin der Internationalen Tage in Ingelheim, seit vielen Jahren das ambitionierte Kulturereignis der Firma Boehringer, hat sich in diesem Jahr der Fotografie verschrieben. Besser gesagt, sie legt ihren Fokus auf 21 Fotografinnen, die seit Anfang der 1920er Jahre, auf eigene Faust oder einem Auftrag folgend, die Welt bereisten. Sie stammen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. Allein, vielleicht auch zu zweit, fuhren sie mit dem eigenen Auto oder sonst wie Tausende von Kilometern quer durch exotische Länder, um Natur und Leute, Kultur und Bräuche mit nach Hause zu bringen. Der Beruf der Fotografin war damals gut beleumundet und geachtet. Damit die Schau im Kunstforum Ingelheim nicht zu einem Sammelsurium an fotografischen Ergüssen wurde, hat Katharina Henkel sie in drei Kategorien unterteilt: die journalistische, die dokumentarische und die freie Fotografie.
Unter dem Titel „Neugier, Mut und Abenteuer – Fotografinnen auf Reisen“ zeigt Henkel, was diese Künstlerinnen auf ihren Reisen erlebt haben und worauf sie sich in ihren Bilderwelten fokussierten. Die weit gereiste Fotografin Barbara Klemm ist bekannt, weil sie über Jahre für die Frankfurter Allgemeine Zeitung gearbeitet hat. Dabei waren es ihre Portraits, wie das Treffen von Willy Brandt und Leonid Breschnew 1973 in Bonn, die sie berühmt gemacht haben. Aber kaum einer kennt Klemms Landschaftsaufnahmen, die von Kanada bis Brasilien, von Irland bis in die Schweiz reichen und durch ihre Schattierungen in Grautönen den Schwarzweiß-Bildern zur malerischen Größe verhelfen. Die Straßen Hongkongs bilden den Schauplatz für Elisabeth Neudörfls Untersuchung von Hotspots der Straßenprostitution, die, bei Tage aufgenommen, nur noch das Elend spiegelt, das sich am Abend unter dröhnendem Neonlicht zu verbergen sucht. Die 1908 in Zürich geborene Schweizerin Annemarie Schwarzenbach besaß einen Diplomatenpass, ein schnelles Sportauto, kam aus reichem Haus, trug Männerkleidung, war promoviert und in Erika Mann verliebt. Sie reiste in den 1930er Jahren über die Türkei und den Iran nach Afghanistan, um kulturelle und soziale Besonderheiten der Länder einzufangen.
Reisen war bis zur frühen Neuzeit wesentlich durch Religion, Militär oder Handel bestimmt und in der Regel ein Privileg des Adels. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfand der Engländer Thomas Cook die Pauschalreise. In Berlin gründete der Tourismuspionier Carl Stangen eines der ersten Reisebüros und warb bald mit „Reiseunternehmungen nach allen Ländern der Erde“: Das man gar nicht weit reisen muss, um Leid und Vorurteile abzubilden, macht Jordis Antonia Schlösser deutlich, die in Polen arbeitete, um gegen falsche Vorstellungen und Stereotypen aus diesem Nachbarland anzugehen. Sie hält auf ihren Bildern Frauen fest, die selbst gesammelte Pilze oder Marmelade am Straßenrand verkaufen, um damit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ré Soupault, geboren als Meta Erna Niemeyer in Pommern, hinterließ ein schmales, aber bedeutendes fotografisches Œuvre. Ausgebildet in der Weberei am Weimarer Bauhaus, wo übrigens Fotografie nicht unterrichtet wurde, nahm sie Strömungen der modernen Kunst in Berlin und Paris auf. Ihre Bilder aus der Serie „Tunis Quartier reservé“ von 1939 gründeten in ihrem Interesse an der Stellung der Frau in dem muslimischen Land.
Von gefährdeter Architektur und Landschaft als kulturellen Zeugnissen handeln Ursula Schulz-Dornburgs Fotografien. Dem Verfall Preis gegebene oder bereits verschwundene Kulturlandschaften thematisierte sie etwa in ihrer Serie von Bushaltestellen in Armenien. Man muss nicht in die Ferne schweifen, um das Reisen bildlich darzustellen. Helga Paris konzentrierte sich in den Jahren 1981 und 1982 auf den Leipziger Hauptbahnhof. Ihre Bilder von eindringlicher Schönheit erzählen von der Geschichte in der DDR und von Vergänglichkeit und von Veränderung, ebenso von Geschwindigkeit und rastlosem Umherirren, von der Einsamkeit des Menschen in dieser Durchgangssituation. Von Alice Schalek, einer Pionierin des Reisejournalismus, die 1905 nach Indien, 1911 nach Afrika, Ägypten und Palästina reiste, stammt der Satz: „Fotografin ist ein typischer und durchaus geachteter Frauenberuf“. Was die Damen können respektive konnten, stellt diese Ausstellung eindrucksvoll unter Beweis. Damit man zuhause wie einst nachblättern kann, was man alles in der Ausstellung gesehen hat, gibt es einen Katalog, dessen Aufmachung an ein Reistagebuch erinnert nebst Gummiband, das die Seiten zusammenhält, aber auch als Lesezeichen fungiert.
Die Ausstellung „Neugier, Mut und Abenteuer: Fotografinnen auf Reisen“ läuft noch bis zum 13. Juli. Das Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus hat täglich außer montags von 11 bis 18:30 Uhr, samstags, sonntags und feiertags nur bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 8 Euro, ermäßigt 6 Euro; für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre ist er frei. Der Katalog kostet 28 Euro. |