| | Agnes Martin im Jahr 1991 | |
„Die Inseln steigen auf und sterben; Ruhig kommen und gehen sie.“ Dieser Satz stammt von der am 16. Dezember 92järig verstorbenen amerikanischen Malerin Agnes Martin und umschreibt das platonische Weltbild der Künstlerin ebenso wie es einen Hinweis auf ihre Sicht der Erhabenheit der Natur gibt - eine Natur, die nicht nachzubilden, sondern deren Struktur nachzuempfinden ist, ganz im Sinne Cézannes mit seiner Malerei als „Schema parallel zur Natur“ oder Pollocks Aussage „I am nature“. „Hier in New Mexiko malte ich früher Berge, und ich dachte, meine Berge schauten wie Ameisenhügel aus. Als ich aus den Bergen New Mexikos hinausfuhr, sah ich die Ebene, und ich dachte: das ist es nur die Fläche. Wenn du eine Diagonale ziehst, die an beiden Enden ins Leere verläuft.“
Agnes Martin wurde 1912 in Saskatchewan in Kanada geboren. Sie wuchs in Vancouver auf und kam 1931 in die USA. Dort studierte sie 1942 Kunst- und Kunsterziehung an der Columbia University in New York und 1946 an der Universität von Albuquerque, New Mexico. In den 1940er Jahren lebte Agnes Martin in einem Wüstengebiet von New Mexico, das auch auf ihre ersten abstrakten, biomorphen Arbeiten nachwirkte, die denen von William Baziotes, Adolph Gottlieb und Mark Rothko nahe stehen. So vollzog das Werk von Martin eine ähnliche Entwicklung von gegenständlicher Darstellung hin zu den biomorphen, auch vom Surrealismus geprägten Formen wie das Jackson Pollocks.
1957 knüpfte die Galerie Betty Parson die Möglichkeit einer Repräsentanz von Agnes Martin an die Bedingung, dass sie nach New York zog. Durch ihr neues Umfeld in der Kunst- und Galerienszene Lower Manhattans bei Coenties Slip kam sie in Kontakt mit den künstlerischen Positionen von Jackson Pollock, Mark Rothko, Ad Reinhardt und Barnett Newman. Junge Künstler, zum Teil auch bei Betty Parson vertreten, wie Jack Youngerman, Ellsworth Kelly, Lenore Tawney, Robert Indiana, James Rosenquist und Ann Wilson, lebten in der Nachbarschaft Martins, die sich diszipliniert ihrer Arbeit widmete.
In der ersten Ausstellung im Jahr 1958 waren Arbeiten zu sehen, die reduziert auf einfache geometrische Formen Frontalität und Symmetrie in erdigen Farben von Grau-, Beige-, und Grüntönen zeigen. Sie rekurrieren noch auf die Erfahrungen in der Wüste. 1959 überführt das Bild „The Spring“, in dem sich graue Horizontalen mit geometrischen Formen verbinden, in eine geometrische Formensprache. Von dort ausgehend entstehen Gitter aus horizontal und vertikal gezogenen Linien. Agnes Martin verwendete für sich zwei Formate - zum einen kleinformatige 30,47 x 30,47 Zentimeter messende Quadrate und zum anderen die großformatigen Bilder von 182,87 x 182,87 Zentimeter. Die eine als „Ausschnitt“, Fragment, die andere als Allover, das die Körpermaße des Betrachters überschreitet und im Sinne Newmans als Erhabenes sofort aufscheint. Mit offenen Augen sähe man in jedem Ding Schönheit: „Blake hatte recht, wenn er sagt, es gebe keinen Unterschied zwischen dem ganzen und dem einzelnen Ding“.
Nach 1960 entstehen dann die Arbeiten, die Agnes Martin selbst als Reifewerk ansieht. Die Gitter versteht sie als völlig abstrakte Arbeiten. Lawrence Alloway beschreibt die Gitter Agnes Martins als „plateau of non-form“. Quadratraster, die von Hand gezogen über einen warmtonigen Grund gelegt sind, oder Strukturen als eine Wiederholung von Punkten ziehen sich über Leinwände. Diese sind non- hierarchisch, unendlich ausdehnbar und ohne jede Perspektive. Robert Coates vergleicht Agnes Martin 1961 deshalb mit Josef Albers, der gerade in seinen „Homage to the Square“ geometrische Formen ähnlich immer wieder durchbuchstabiert. Von 1960 bis 1963 entstehen Arbeiten wie „White Flower“, „The Island“, „Grey Stone II“, „Starlight“, „Water“, „Milk River“, „Night See“ und „Flower in the Wind“. Immer sind es Titel, die an die sich selbst reproduzierende Eigenschaft der Natur gemahnen, die Wiederkehr des ewig Gleichen.
War in den späten 1950er Jahren das Werk von Mark Rothko und die Gedanken von Barnett Newman von großem Einfluss auf Martins Arbeit, nähert sie sich zu Beginn der 1960er Jahre vor allem Ad Reinhardts Ideen an. Sie teilt mit ihm das Interesse für die Form von Dingen in verschiedenen Kulturen: „Ich möchte, dass meine Arbeit als Teil der klassischen (koptischen, ägyptischen, chinesischen) Tradition verstanden wird, als Darstellung des Idealen. Klassische Kunst kann unmöglich eklektisch sein“. Jedoch differiert ihre Ansicht dahingehend, dass Intuition für sie ein wichtiger Faktor des Schaffens ist: „Man muss das Ideale in seinem eigenen Inneren sehen. Es ist wie eine Erinnerung an die Vollkommenheit.“ Sie schätzt die abstrakten Expressionisten Mark Rothko, Barnett Newman und Jackson Pollock. Der Ansatz des Allover des im Januar 1912 geborenen Pollock ist dem sich in alle Richtungen ausdehnenden Raster verwandt. So äußerte Pollock 1947: „On the floor I am more at ease. I feel nearer, more part of the painting … This is akin to the method of the Indian sand painters of the West.“
Auf Empfehlung Ad Reinhardts kommt es 1966 aufgrund formaler Äquivalenzen mit den Minimalisten zu einer Beteiligung an der von Robert Smithson kuratierten Ausstellung „Ten“ in der Dwan Gallery. Beteiligt sind neben Agnes Martin, Ad Reinhardt und Robert Smithson die Künstler Sol LeWitt, Carl Andre, Donald Judd, Dan Flavin, Jo Bear, Robert Morris und Michael Steiner. Es folgt die Ausstellung „Systemic Painting“ im Solomon R. Guggenheim Museum. An Agnes Martin, die sich keiner der Gruppen zuordnen lässt, zeigt sich deutlich, dass auch in den scheinbaren Bewegungen mehr Einzelpositionen als gemeinsame Strömungen existieren. Während die Künstler der Minimal Art, wie Sol LeWitt oder Carl Andre, die quadratische Grundeinheit absolut setzen, konterkariert Agnes Martin das Quadrat durch die Gitter, die nie quadratisch sondern rechteckig waren.
Neben Plato, den zeitgenössischen Strömungen und der Kunstgeschichte interessiert sie sich auch für die Lehren des Dschuang Dsi, dessen Grundgedanke die Relativität aller Gegensätze und Unterschiede und der permanente Wandel aller Erscheinungen in der Natur ist. Die Begriffe Vollkommenheit, Glück und Schönheit sind zentral im Denken von Agnes Martin. Mit dem Erhabenen des Naturschönen befindet sie sich in der Tradition der Romantik. So steht ihr das Denken des 1770 geborenen englischen Romantikers William Wordsworth nahe. Dessen Dichtung war von seiner Liebe zur Natur, zur Einfachheit, geprägt. Zum „Glück“ äußerte John Keats „A thing of beauty is a joy for ever“ und in seiner Ode on a Grecian Urn „Beauty is truth, truth is beauty“.
Das Streben nach Vollkommenheit formulierte Martin so: „Ein Kunstwerk ist erfolgreich, wenn es eine Andeutung von Vollkommenheit liefert“ und „Gerade wie das Bewusstsein des Erhabenen der Pfad des Lebens ist, so ist auch Selbsterkenntnis der Pfad des Lebens.“ 1967 entstehen auf weißem Grund scharf gezogene Rasterbilder. Es ist das Jahr, in dem Ad Reinhardt unerwartet früh verstirbt. Es ist auch das Jahr, in dem Agnes Martin New York und vorübergehend auch der Malerei den Rücken kehrt. Sie baut sich in Cuba, New Mexico, auf einem Tafelberg ein eigenes „adobe and log house“, im Stile der Pueblo Indianer. Erst Mitte der 1970er Jahre entstehen wieder neue Arbeiten.
Ihr Werk wurde in internationalen Museen präsentiert. So zeigte 1991 das Stedelijk Museum und 1992 das Whitney Museum of American Art ihre Arbeiten. 1999 entsteht die „Innocent Love“-Serie für eine Ausstellung in der Dia-Art Foundation. Die Stadt Wiesbaden verlieh ihr 1990 den Alexej-von-Jawlensky-Preis und die Österreichische Regierung ehrte sie 1992 mit dem Oskar Kokoschka-Preis. Bei der Biennale von Venedig wurde ihr 1997 der Goldene Löwe verliehen.
Agnes Martin war es immer wichtig, die Kunst, die Arbeit an der Kunst dem alltäglichen Leben voranzustellen. Sie bezeichnete dieses Künstlerleben als „abenteuerlich“: „Kommerzielle Kunst wird bewusst gemacht, um die Sinne anzusprechen, und das ist etwas ganz anderes“. Damit zeigt sie nicht zuletzt auch, wie absurd ein Kunstmarkt-Hype der heutigen „Sternschnuppen“ ist: „Jedes Tier, das du triffst, ist hungrig. Nicht, dass ich nicht ans Essen glaube. Ich will bloß einen Unterschied machen zwischen Kunst und Essen“. Sie war eine stille Größe, der die Tugend der Demut eine Größe war: „Ich kann die Demut sehen fein und weiß...“.
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